Die Stunde Null. Auswirkungen, Folgen und Probleme der Nachkriegszeit in Deutschland (Geschichte, 9. Klasse)

Unterrichtsversuch anhand Wolfgang Borcherts "Nachts schlafen die Ratten doch"


Term Paper (Advanced seminar), 2014

31 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

I) EINLEITUNG

II) BORCHERT - FIKTION UND HISTORIE
2.1 WOLFGANG BORCHERT - VITA
2.2 WOLFGANG BORCHERT - LITERARISCHES WERK
2.3 LITERARISCHE FIKTION UND ZEITGESCHICHTLICHER HINTERGRUND

III) „NACHTS SCHLAFEN DIE RATTEN DOCH“ - ANALYSE
3.1 „NACHTS SCHLAFEN DIE RATTEN DOCH“ (M 1)
3.2 INHALTLICHE UND FORMALE ANALYSE

IV) DIDAKTISCHE ANALYSE
4.1 LEHRPLANBEZUG UND DIDAKTISCHE VORTEILE DES THEMAS
4.2 LERNZIELE

V) UNTERRICHTSVERLAUF
Gruppe 1
Gruppe 2
Gruppe 3
Gruppe 4
Tafelbild M 7 (Kurzgeschichte)

VI) ARTIKULATIONSSCHEMA

VII) QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

I) Einleitung

„ Dann gibt es nur eins: Sag NEIN! “ 1

In dem gleichnamigen Warnruf, der das letzte verfasste Schriftstück Wolfgang Borcherts betitelt, ruft der Autor zum Protest gegen den Krieg auf. Geprägt durch die Eindrücke der atomaren Vergeltung in Hiroshima und Nagasaki wendet sich Borchert an die Moral der Menschheit und fordert sie auf, sich fortan gegen den Krieg zu wenden. Um seiner Warnung Nachdruck zu verleihen, beschließt er sein letztes literarisches Zeugnis mit einer sprachlich eindrucksvollen Schilderung der Apokalypse.

Dieses Manifest Borcherts wurde seit seiner Erstpublikation im Jahre 1949 immer wieder von der Friedensbewegung aufgegriffen und auf Bannern und Flugblättern abgedruckt, um gegen eine atomares Aufrüsten und für den Frieden zu demonstrieren. Bis heute hat es seine Aktualität nicht verloren. Alle Texte des früh verstorbenen Wolfgang Borchert sind bis heute eindrucksvolle literarhistorische Dokumente für das Ende des Nationalsozialismus in Deutschland. Kein anderer Autor der sogenannten Trümmerliteraturepoche verstand es in solcher Weise, die Psyche der Menschen während und am Ende des 2. Weltkrieges in kurzen, pointierten und überwältigenden Geschichten abzubilden.

Diese Arbeit ist ein Appell dafür, dem Werk Wolfgang Borcherts in der Schule mehr Be- achtung zu schenken und seine Texte nicht nur unter den sprachlich-formalen Aspekten des Unterrichtsfachs Deutsch zu untersuchen. Vielmehr ist es das Ziel dieser Arbeit, auf- zuzeigen, welches Potential vornehmlich Borcherts prosaisches Kurzwerk insbesondere für den Geschichtsunterricht aufweist und in welcher Weise es eingesetzt werden kann. Ein exemplarischer Stundenverlauf, der als Doppelstunde für eine 9. Klasse des bayeri- schen Gymnasiums konzipiert ist, soll beispielhaft veranschaulichen, auf welche Weise Borcherts Kurzgeschichte „Nachts schlafen die Ratten doch“ in den Unterricht eingebun- den werden kann, sodass sowohl Lehrplanvorgaben des Faches Deutsch, wie auch des Fachs Geschichte abgedeckt werden. Anhand von Arbeitsaufträgen und ergänzenden kon- trastiven Quellen - teils aus den nachgelassenen Dokumenten Borcherts - sollen sich die Schüler mit den psychischen und sozialen Folgen des 2. Weltkrieges auf die Bevölkerung auseinandersetzen.

II) Borchert - Fiktion und Historie

2.1 Wolfgang Borchert - Vita

Die Vita Wolfgang Borcherts2 soll deshalb im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden, da sie eine ideale Möglichkeit ist, um zu verdeutlichen, welche Auswirkungen Krieg auf den Lebenslauf junger Menschen hat und welche psychischen und physischen Folgeerscheinungen er zu bewirken vermag.

Wolfgang Borchert wurde am 20. Mai 1921 in Hamburg als Sohn einer Schriftstellerin und eines Lehrers geboren.3 Er wuchs unter dem antinationalen Einfluss seines kleinbür- gerlich-intellektuellen Elternhauses zu einem stetigen Kritiker des Nationalsozialismus heran.4 Auf den Wunsch seiner Eltern hin stellte Wolfgang Borchert seinen lebenslangen Traum einer Schauspielerkarriere an zweite Stelle und absolvierte eine Lehre als Buch- händler, nachdem er die Oberschule abgebrochen hatte. Parallel dazu verfolgte er aber stets das Ziel einer Schauspielkarriere weiter, indem er privaten Unterricht nahm. Bereits mit 17 Jahren schrieb Borchert seine ersten Gedichte und ein Drama.5 Während seiner Jugendzeit in Hamburg leistete er zusammen mit einigen Freunden Widerstand gegen die Bücherver- brennungen der Nazis. Entgegen dem Trend der Masse verweigerte der junge Wolfgang Borchert die Teilnahme an Veranstaltungen der Hitlerjugend und trug Anzug statt Uni- form.6 Aufgrund seiner regimekritischen Haltung wurde er 1940 erstmals von der Gestapo verhört. Im Jahr darauf legte er erfolgreich seine Schauspielprüfung vor der Reichstheater- kammer ab; die Lehre hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits ohne Abschluss abgebrochen. Lediglich in der kurzen Zeitspanne zwischen April und Juni 1941 war es ihm vergönnt, seinen Traumberuf auszuüben. Am 6. Juni 1941 wurde er als Funker bei den Panzergrena- dieren der 3. Panzer-Nachrichten-Ersatz-Abteilung 81 in Weimar Lützendorf zur Ausbil- dung eingezogen.7 Schon im November desselben Jahres wurde seine Einheit an die Ost- front verlegt, wo Borchert erste schwere Anfälle von Gelbfieber erlitt. Im Februar des Folgejahres wurde er nach einer Schussverletzung an der linken Hand - infolge derer sein Mittelfinger amputiert werden musste - in eine Lazarett in Schwabach verlegt. Diese Ver- letzung wurde ihm dann im Juli 1942 wegen des Verdachtes auf Selbstverstümmelung zum Verhängnis. Eine erneute Verhaftung war die Folge, er konnte jedoch in einem Gerichts- prozess seine Unschuld beweisen. Direkt nach seinem Freispruch kam es zu einer weiteren Inhaftierung wegen „angeblicher heimtückischer Angriffe auf Staat und Partei“8. Im fol- genden Prozess verurteilte man den Angeklagten zu 8 Monaten Haft, die seinem Wunsch gemäß in sechs Wochen verschärfte Haft mit anschließender Frontbewährung umgewan- delt wurden.9 Bei seinem 2. Einsatz an der Ostfront diente Borchert dann als Funker ohne Waffe. Im Eiswinter 1943 erlitt er heftige Erfrierungen, was erneute Gelbsucht und Fleck- fieberanfälle hervorrief. Bis zum Juni 1943 durchlief er sodann zahlreiche Lazarette, bis er schließlich einen Monat Fronturlaub gewährt bekam. Im August war er bei einem erneuten Hamburgaufenthalt Zeuge der Zerstörungskraft von Bombenangriffen. Aufgrund seiner Wehrdienstuntauglichkeit gelang es ihm, sich für den Dienst bei der Schauspieltruppe der Wehrmacht zu melden. Vor seinen Kameraden führte er dort eine Goebbels-Parodie auf, woraufhin er denunziert und erneut verhaftet wurde. Neun Monate Untersuchungshaft in Berlin-Moabit mit anschließender Verurteilung zu einer Restfreiheitsstrafe von 4 Monaten waren die Folge.

Sein letzter Einsatz im März 1945 führte ihn in französische Gefangenschaft, aus der er entkommen konnte, woraufhin er 600 Kilometer zu Fuß nach Hamburg lief. Von Mai bis November 1945 konnte der bereits gesundheitlich stark angeschlagene Borchert noch ein- mal seinen Wunsch nach einem Schauspielerdasein erfüllen. Ab dem Winter 1945 fesselte ihn seine Krankheit weitestgehend ans Bett. Nun erst begann seine große literarische Schaffensphase, in welcher in rascher Folge nahezu alle seine Werke entstanden. Im Sep- tember 1947 wurde dem Schwerkranken, der während seiner Krankheit immer an Besse- rung glaubte, ein Kuraufenthalt in Basel bewilligt. Doch bereits am 20. November 1947 verstarb der 26-jährige Wolfgang Borchert an einem Leberleiden in Basel.

Der Lebenslauf des Schriftstellers zeigt eine durchgehende Konstante: die Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes. Was Borchert aus der Riege der Nachkriegsliteraten heraus hebt ist sein stetiges - ihm durch das Elternhaus vermitteltes - Streben danach, das nationalsozialistische System zu unterlaufen.10

2.2 Wolfgang Borchert - Literarisches Werk

Bemerkenswert an Borcherts literarischem Werk ist, dass der Großteil davon erst in der kurzen Zeit zwischen Januar 1946 und September 1947 entstand.11 Neben dem weithin bekannten Kriegsheimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“ und zahlreichen Gedichten ist gerade aufgrund des Facettenreichtums Borcherts Prosawerk von großer Bedeutung. Es besteht aus über 50 Erzählungen und Kurzgeschichten, die in kurzer, pointierter Form ihre Aussage besonders eindrucksvoll vermitteln können. Eine der wohl bekanntesten Kurzgeschichten, nämlich „Nachts schlafen die Ratten doch“, bildet die Grundlage für die Gruppenarbeitsphase des hier vorliegenden Stundenkonzeptes.

Bereits im Jahr 1949 wurde Borcherts Gesamtwerk erstmals veröffentlicht.12 Die Litera- turwissenschaft zählt ihn zu einem der wichtigsten Vertreter der sogenannten „Literatur der Stunde Null“, auch als Trümmerliteratur oder Kahlschlag bezeichnet. Die zentralen Epo- chenmotive, die auch in seinen Texten verhandelt werden, sind die Stunde Null nach Kriegsende und das daraus resultierende Trauma, der Tod, die Hungersnot und die physi- schen wie psychischen Folgeschäden, mit denen die Bevölkerung zu kämpfen hatte. Ent- gegen der älteren Forschung sind Borcherts Texte nicht nihilistisch geprägt, vielmehr tra- gen sie ein Moment der Hoffnung in sich.13 Obwohl Borchert der intellektuellen Elite der Hansestadt Hamburgs zuzurechnen ist, sprechen seine Texte die Sprache des allgemeinen deutschen Volkes.14 Seine Perspektive ist die des nahen Betrachters, der wahrnimmt und der versucht, diese Eindrücke mit klaren Worten zu Papier zu bringen.15

Ja, Borchert forderte sogar in einem Manifest dazu auf, die Literatur von nun an nicht mehr zu verklären.16 Entgegen der Empörung Adornos, dass es nach Auschwitz keine Lyrik mehr geben könne, versucht Borchert all das in seinen Texten zu verarbeiten, was der Krieg angerichtet hat.

2.3 Literarische Fiktion und zeitgeschichtlicher Hintergrund

Als Schriftsteller, der in der Geschichts- und Literaturwissenschaft als Stunde Null be- zeichneten Epoche, setzt sich Wolfgang Borchert in seinen Werken mit den Eindrücken und Erfahrungen auseinander, die er während der Zeit an der Ostfront und im Heimatur- laub gemacht hat. Weiterhin sind seine Texte geprägt durch die Eindrücke von Zerstörung und Verwüstung nach 1945, die der Krieg an Material und an Menschen bewirkt hatte. Das Nachkriegsdeutschland der Stunde Null lässt sich als Trümmerwüste beschreiben: Über 400 Millionen Kubikmeter Schutt bedeckten die Städte Deutschlands, etwa 3,37 Millionen Wohnungen waren völlig zerstört, mehr als die Hälfte der Industrie war nicht mehr be- triebsfähig, was eine enorme Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Die Lebensmittelknappheit, die bereits während des Krieges bestand, verschärfte sich durch die Kriegsheimkehrer noch weiter.17 Diese Faktengeschichte sollte bereits in einer der vorausgehenden Schulstunden anhand von Sachtexten erarbeitet worden sein, sodass die Schüler den zeitgeschichtlichen Hintergrund schon parat haben und ihn dann dem literarischen gegenüberstellen können. Wolfgang Borcherts Texte nähern sich dieser Zerstörung auf einer sehr kleinen, individuel- len Ebene, sie sind auf wenige Personen begrenzt. Die Figuren bleiben in den Erzählungen und Kurzgeschichten oft unbenannt, ja sind Typen. Das heißt, sie sind übertragbar, was darauf verweist, dass es ähnliche Kriegsschicksale in ganz Deutschland gegeben hat.18

Gerade die literarische Form der Kurzgeschichte erwies sich daher dem Autor als besonders geeignet, um alltägliche Situationen im Nachkriegsdeutschland zu zeichnen, die wegen ihrer Aussage- und Wirkungskraft in kurzer, knapper Form eindrucksvoll die Stimmung der Zeit zu vermitteln mögen.19

Die geschichtssoziologischen Forschungen der letzten zehn Jahre zeigen eine hohe Aktua- lität der Forschung über Kriegskinder - wie Jürgen, der Protagonist der hier behandelten Kurzgeschichte, eines ist - und der Kriegsgeneration. 20 Die Jahrgänge rund um Borcherts Generation sind noch heute ein wesentlicher Bestandteil der bundesrepublikanischen Be- völkerung. Seine Texte sind damit ein wirkungsvoller literarischer Ausdruck der Nach- kriegszeit. Sie vermögen die Folgen und Auswirkungen von Krieg auf den Menschen mit einer bis heute ungebrochenen Bannkraft zu vermitteln, was sie berechtigt, auch im Ge- schichtsunterricht Einzug zu halten und das zu übernehmen, was Sachtexte an dieser Stelle nicht leisten können. Sie haben die Berechtigung, als literarhistorische Quellen untersucht zu werden, da sie durch ihre Zeitnähe und die unmittelbare Betroffenheit ihres Verfassers eine hohes Maß an Authentizität aufweisen. Das Phänomen des Kriegstraumas, das maß- geblich die Kinder während des 2. Weltkrieges betraf, ist in der heutigen Forschung wei- testgehend bekannt und erfährt in letzter Zeit zunehmend Aufmerksamkeit. Um jedoch einen Einblick in die Lebenswelt der Bevölkerung direkt nach dem Ende des Krieges zu erhalten, bedarf es der historischen Eindrücke eines Betroffenen, so dass Wolfgang Bor- cherts Kurzprosa die ideale Basis für die unterrichtsstoffliche Vermittlung dieses Themas bietet.21

III) „Nachts schlafen die Ratten doch“ - Analyse

3.1 „Nachts schlafen die Ratten doch“ (M 1)

1 Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne.
2 Staubgewölke flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste
3 döste. Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, daß jemand
4 gekommen war und nun vor ihm stand, dunkel, leise. Jetzt haben sie mich! Dachte er. Aber
5 als er ein bißchen blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. Die standen
6 ziemlich krumm vor ihm, daß er zwischen ihnen hindurchsehen konnte. Er riskierte ein
7 kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann. Der hatte
8 ein Messer und einen Korb in der Hand. Und etwas Erde an den Fingerspitzen.
9 Du schläfst hier wohl, was? fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp her-
10 unter. Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte:
11 Nein, ich schlafe nicht. Ich muß hier aufpassen. Der Mann nickte: So, dafür hast du wohl
12 den großen Stock da?
13 Ja, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest.
14 Worauf paßt du denn auf?
15 Das kann ich nicht sagen. Er hielt die Hände fest um den Stock. Wohl auf Geld, was? Der
16 Mann setzte den Korb ab und wischte das Messer an seinem Hosenboden hin und her.
17 Nein, auf Geld überhaupt nicht, sagte Jürgen verächtlich.
18 Auf ganz etwas anderes.
19 Na, was denn?
20 Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.
21 Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe. Der
22 Mann stieß mit dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu.
23 Pah, kann mir denken, was in dem Korb ist, meinte Jürgen geringschätzig; Kaninchenfut-
24 ter. Donnerwetter, ja! sagte der Mann verwundert; bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du
25 denn?
26 Neun.
27 Oha, denk mal an, neun also. Dann weißt du ja auch, wieviel drei mal neun sind, wie?
28 Klar, sagte Jürgen, und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: Das ist ja ganz leicht. Und er
29 sah durch die Beine des Mannes hindurch. Dreimal neun, nicht? fragte er noch mal, sie-
30 benundzwanzig. Das wußte ich gleich.
31 Stimmt, sagte der Mann, und genau soviel Kaninchen habe ich.
32 Jürgen machte einen runden Mund: Siebenundzwanzig?
33 Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?
34 Ich kann doch nicht. Ich muß doch aufpassen, sagte Jürgen unsicher.
35 Immerzu? fragte der Mann, nachts auch?
36 Nachts auch. Immerzu. Immer. Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. Seit Sonnabend
37 schon, flüsterte er.
38 Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du mußt doch essen.
39 Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot. Und eine Blechschachtel.
40 Du rauchst? fragte der Mann, hast du denn eine Pfeife?
41 Jürgen faßte seinen Stock fest an und sagte zaghaft: Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.
42 Schade, der Mann bückte sich zu seinem Korb, die Kaninchen hättest du ruhig mal anse-
43 hen können. Vor allem die Jungen. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du
44 kannst hier ja nicht weg.
45 Nein, sagte Jürgen traurig, nein nein.
46 Der Mann nahm den Korb hoch und richtete sich auf. Na ja, wenn du hierbleiben mußt -
47 schade. Und er drehte sich um.
48 Wenn du mich nicht verrätst, sagte Jürgen da schnell, es ist wegen der Ratten.
49 Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: Wegen der Ratten?
50 Ja, die essen doch von den Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.
51 Wer sagt das?
52 Unser Lehrer.
53 Und du paßt nun auf die Ratten auf? fragte der Mann.
54 Auf die doch nicht! Und dann sagte er ganz leise. Mein Bruder, der liegt nämlich da unten.
55 Da. Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte
56 eine Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch geru-
57 fen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Es muß hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner
58 als ich.
59 Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: Ja, hat euer
60 Lehrer euch denn nicht gesagt daß die Ratten nachts schlafen?
61 Nein, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt.
62 Na, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen
63 die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer.
64 Wenn es dunkel wird, schon.
65 Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind
66 das, dachte er, alles kleine Betten.
67 Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): Weißt du was?
68 Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen, und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Viel-
69 leicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines oder, was meinst du?
70 Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weiß-
71 graue. Ich weiß nicht, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, wenn sie wirklich
72 nachts schlafen. Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. Natürlich, sagte
73 er von da, euer Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.
74 Da stand Jürgen auf und fragte: Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?
75 Ich will mal versuchen, rief der Mann schon im Weggehen, aber du mußt hier so lange
76 warten. Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt du? Ich muß deinem Vater doch sagen,
77 wie so ein Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müßt ihr ja wissen.
78 Ja, rief Jürgen, ich warte. Ich muß ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte be-
79 stimmt. Und er rief: Wir haben auch noch Bretter zu Hause Kistenbretter, rief er.
80 Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die
81 Sonne zu. Die war schon rot vom Abend und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine
82 hindurchschien, so krumm waren sie. Und der Korb schwankte aufgeregt hin und her. Ka-
83 ninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.

[...]


1 Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk, Hamburg 1949, S. 318. 1

2 Die aktuellste und ausführlichste Darstellung ist die von Gordon Burgess, welche die Grundlage für die biographische Abhandlung bildete. Burgess, Gordon: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück, Berlin 2007.

3 Borchert hinterließ sogar eine sehr kurze Selbstbiographie. Siehe dazu: Burgess, Gordon; Töteberg, Michael; Schindler, Irmgard (Hrsg.): Wolfgang Borchert. Allein mit meinem Schatten und dem Mond. Briefe, Gedichte und Dokumente, Hamburg 1996, S. 19f.

4 Vgl. Wolff, Rudolf: Wolfgang Borchert - Zur Einführung, in Wolff, Rudolf (Hrsg.): Wolfgang Borchert, Bonn 1984, S. 7-12, hier S. 7.

5 Vgl. Burgess 2007, S. 282.

6. De Sterio, Alexandre Marius: Wolfgang Borchert: Eine literatursoziologische Interpretation, in: Wolff, Rudolf: (Hrsg.): Wolfgang Borchert - Werk und Wirkung, Bonn 1984, S. 12-38, hier: S. 29 ff.

7 Vgl.ebd. S. 283.

8 Rechtsanwalt Dr. Hager in einer Bescheinigung. Abgedruckt in: Burgess, Töteberg, Schindler, Hamburg 1996, S. 88.

9 Vgl. Burgess 2007, S. 283.

10 Vgl. De Sterio 1984, S. 13. Ausführlich: vgl. ebd. S. 29ff. 3

11 Vgl. Schmidt, Marianne: Zuletzt bleibt nur der Wind. Über Prosatexte von Wolfgang Borchert, in: Beutin, Heidi; Beutin, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Dann gibt es nur eins! Von der Notwendigkeit, den Frieden zu gestal- ten. Beiträge der Konferenz anläßlich des 60. Todestages von Wolfgang Borchert, Frankfurt 2008, S. 41-63, hier: 65.

12 Siehe dazu: Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk, Hamburg 1949.

13 Vgl. Schmidt 2008, S. 66.

14 Vgl De Sterio 1984, S. 32.

15 Vgl. dazu Borcherts Text „Das ist unser Manifest“, in: Borchert 1949, S. 308-315. Darin legt der Schriftsteller seine Forderungen an die Literatur nach dem 2. Weltkrieg offen. In der Gruppenarbeitsphase wird ein Auszug dieses Manifestes zum Einsatz kommen.

16 Siehe dazu: Borchert, Wolfgang; Das ist unser Manifest, in: Das Gesamtwerk, Hamburg 1949, S. 308-315. 4

17 Vgl. Burgess, Gordon; Winter, Hans-Gerd (Hrsg.): Generation ohne Abschied. Heimat und Heimkehr der „jungen Generation“ der Nachkriegsliteratur, Dresden 2008, S. 7f.

18 Vgl. Köpke, Wulf: In Sachen Wolfgang Borchert, in: Wolff, Rudolf (Hrsg.): Wolfgang Borchert - Werk und Wirkung, Bonn 1984, S. 84-114, hier S. 88ff.

19 Vgl. ebd. S. 106 ff.

20 Vgl. bspw.: Bode, Sabine: Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 20047. Grundmann, Matthias; Hoffmeister, Dieter u.a. (Hrsg.): Kriegskinder in Deutschland zwischen Trauma und Nationalität. Botschaften einer beschädigten Generation, Münster 2009. Müller, Christine: Kriegskinder - Wie haben sie ihre Kindheit verarbeitet? Kindheitsentwicklung im Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, München 2012.

21 Borchert 1949, S. 216-219.

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Details

Title
Die Stunde Null. Auswirkungen, Folgen und Probleme der Nachkriegszeit in Deutschland (Geschichte, 9. Klasse)
Subtitle
Unterrichtsversuch anhand Wolfgang Borcherts "Nachts schlafen die Ratten doch"
College
University of Würzburg
Grade
1,3
Author
Year
2014
Pages
31
Catalog Number
V429179
ISBN (eBook)
9783668725539
ISBN (Book)
9783668725546
File size
719 KB
Language
German
Keywords
Wolfgang Borchert, Stunde Null, Exil, Exilliteratur, Trümmer, 2. Weltkrieg, Geschichtsdidaktik, Nachts schlafen die Ratten doch, Kurzgeschichte, Literarische Quelle, Quellenarbeit, Nachkriegszeit, Trümmerfrauen
Quote paper
Cornelius Eder (Author), 2014, Die Stunde Null. Auswirkungen, Folgen und Probleme der Nachkriegszeit in Deutschland (Geschichte, 9. Klasse), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/429179

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