Wie ist Erkenntnis möglich? Kants Theorie und ihre Folgen

Schicksalsfrage der Menschheit?


Akademische Arbeit, 2018

187 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

ERSTER TEIL: KANTS ERKENNTNISLEHRE
Worum geht es Kant?
Die Synthesis a priori und die Kategorien
Reine und praktische Vernunft
Verstand und Urteilsvermögen
Erfahrung und Erscheinung
Ding an sich und Erscheinung
Zeit und Raum
Logik, Wahrheit und Erkenntnis
Zwischen Falsch und Richtig: Meinen, Glauben, Wissen
Ding an sich und Freiheit

ZWEITER TEIL: ZUR WIRKUNGSGESCHICHTE VON KANTS ERKENNTNIS-THEORIE
Wie Deutsche Idealisten Kants Erkenntnistheorie kritisieren
Vom Apriori zum Willen: Schopenhauer, Nietzsche
Schopenhauer (1788-1860)
Nietzsche (1844-1900)
Materialistische Kritik seit Feuerbach
Ludwig Feuerbach (1804-72)
Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895)
Lenin (1870-1924)
Ernst Bloch (1885-1977)
Erkenntnis- und Wahrheitstheorien des Pragmatismus
Positivismus
Auguste Comte (1798-1857)
Ernst Mach (1838-1916)
Neopositivismus und Kritischer Rationalismus
Zuspitzung des Erkenntnisproblems auf die Wahrheitsfrage?
Evolutionäre Erkenntnistheorie (EE)
Wegbereiter: Habermas und Popper
Protagonisten: Lorenz, Vollmer, Schüling
Schülings Handbuch der evolutionären Erkenntnistheorie
Radikaler Konstruktivismus
Künstliche Intelligenz (KI): Schicksalsfrage der Menschheit?

DRITTER TEIL: AUFRISS EINER ZEITGEMÄSSEN ERKENNTNISTHEORIE
Kants Theorie heute – ein Vor- und Rückblick
Zu den Kritiken an Kants Erkenntnislehre
Zur Synthesis a priori und zur Vernunftkritik
Materialistische Kritik
Nietzsche
Pragmatismus
Neopositivismus und kritischer Rationalismus
Evolutionäre Erkenntnistheorie (EE)
Ding an sich und Erscheinung
Sprache und Erkenntnis
Verstehen
Kritische Würdigung alternativer Konzepte
Was bleibt von Kants Erkenntnislehre?
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis

Einleitung

Erkenntnisse hat nicht nur der Mensch. Aber woher hat er sie? Ver-mutlich aus der Evolution. Die mit und in der ursprünglichen Materie entstandene Information verändert und erweitert sich zu den vielfälti-gen Intelligenzformen, die in der Welt der Pflanzen und der Tiere nachgewiesen worden sind. Das Studium dieser Erkenntnisformen führt aber nicht dazu, das spezifisch menschliche Erkenntnisvermögen zu erklären. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass menschliche Erkenntnis in dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehungen stattfindet, die in keiner der evolutionären Vorstufen des Menschen anzutreffen sind. Folglich sind vorrangig die Zusammenhänge zwischen dem Subjekt-Sein (=Mensch-Sein) und dem Erkenntnisvermögen des Menschen zu untersuchen, zumal die Vielzahl möglicher Gegenstände der Erkenntnis nicht überschaubar ist.

Genau darin besteht Kants sogenannte Kopernikanische Wende, in der er Rationalität und Empirie miteinander verbindet. Was allerdings nicht bedeutet, dass die Geschichte der Erkenntnistheorie vor und nach Kant belanglos, quantité négligeable, wäre. Schon lange vor Kant hat es wertvolle Einsichten in das Wesen der Erkenntnis gegeben, und nach ihm vielfältige Weiter- und Neuentwicklungen, so dass möglichst umfangreiche Überblickskenntnisse, darunter auch das sogenannte Weltwissen, dazu verhelfen, Kant besser bzw. überhaupt zu verstehen.

Über Grundzüge und Geschichte der Erkenntnistheorie informiert bestens Gerhard Schurz in seiner Einführung in die Erkenntnistheorie (Skriptum 1995, www.philosophie.hhu...). Darin geht es um diverse Positionen, „Theorien und Rechtfertigungen von Erkenntnistheorie“, Wahrheitstheorien, die Geschichte der Erkenntnistheorie von der Antike bis zur Gegenwart und Grundbegriffe dieser Theorie, wie z.B. a priori, Deduktion, Induktion, Abduktion, Beobachtungsbegriffe u.a.m.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass Erkenntnisse nicht nur in der Philosophie und in den Wissenschaften eine Rolle spielen, sondern auch im Alltagsleben (Common Sense), über Spiel und Sport bis hin zum Wirtschaften, zum IQ-Problem und zur Kriminologie, und nicht zuletzt auch in Kunst und Religion. All diese Gebiete können natürlich ebenfalls Gegenstände philosophischer Reflexion sein. Aber nur selten können die dort gewonnenen Einsichten verallgemeinert werden, zumal sie im Wesentlichen individuelle, in ihrer Gesamtheit nicht überschaubare Probleme betreffen. Daher halte ich mich im Folgenden an die philosophische Tradition der Erkenntnistheorie, wie Kant sie begründet hat, so dass sich mir hauptsächlich folgende Fragen stellen:

1. Wie ist Kants Erkenntnistheorie in ihrer Wirkungsgeschichte bewertet worden?
2. Wie unterscheiden sich neue Konzepte der Theorie von demjenigen Kants?
3. Wie sind die Kant-Kritik und die neuen Konzepte im Vergleich mit dem Kantischen zu bewerten?
4. Trifft es zu, dass die Erkenntnistheorie durch die Forschungen zur Künstlichen Intelligenz (KI, AI) zur „Schicksalsfrage der Menschheit“ geworden ist?
5. Wie kann eine zeitgemäße Erkenntnistheorie begründet werden?

Diese Fragen sollen im Folgenden behandelt werden.

ERSTER TEIL: KANTS ERKENNTNISLEHRE

Worum geht es Kant?

Zu Sinn, Zweck und Nutzen der Philosophie äußert Kant sich mehrfach, insbesondere seit den frühen 1780er Jahren, so in den drei großen Kritiken, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785, in der Metaphysik der Sitten von 1797 und in der Logik (1800). In der ‚Logik‘ definiert er sogar demgemäß die Philosophie, macht dies jedoch abhängig von einer vorgängigen Erklärung dessen, was er für den eigentlichen Inhalt der Philosophie hält, die Erkenntnistheorie: „Ehe wir indessen eine Definition von Philosophie zu geben versuchen, müssen wir zuvor den Charakter der verschiedenen Erkenntnisse selbst untersuchen, da philosophische Erkenntnisse zu den Vernunfterkenntnissen gehören, insbesondere erklären, was unter diesen letztern zu verstehen sei.“1

Dennoch wird nicht selten behauptet, Kant gehe es gar nicht um die Erkenntnis selbst, sondern nur um deren „Bedingungen der Möglichkeit“, um die Frage nach der „möglichen Erkennbarkeit“. (So auch bei Minnigerode 2005, S. 17.) Dass dies nicht der Fall ist, wird klar, sobald man nicht nur Kants ‚Kritiken‘ sondern auch seine ‚Logik‘ heranzieht (s.o.). Was ich im Folgenden genauer darzustellen hoffe.

Wer philosophieren will, muss in der Lage sein, sich der eigenen Vernunft zu bedienen – und damit auch des eigenen Verstandes, wie Kant es in seiner Schrift über die Frage ‚Was ist Aufklärung?‘ darlegt. Was aber versteht er unter Verstand und Vernunft ?2 Als „das ganze obere Erkenntnisvermögen“ umfasst die Vernunft beides: Vernunft und Verstand. Vernunfterkenntnisse beruhen auf der Anwendung von Prinzipien und Begriffen, und zwar im Unterschied zu den „historischen Erkenntnissen“, die sich auf „Daten“ stützen. Nichts-destoweniger können Vernunfterkenntnisse sich – „material“ – auf beliebige Objekte beziehen, oder aber, rein formal, ausschließlich auf die Formen von Verstand und Vernunft und die „allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt“.

Die Synthesis a priori und die Kategorien

Wenn Kant erklärt, der Satz „Ich denke“ müsse alle seine „Vorstellungen begleiten können“, scheint er damit Descartes‘ Cogito vollauf zu bestätigen. Tatsächlich geht er aber weit darüber hinaus, indem er die Vorstellung „Ich denke“ als Erzeugnis einer „ursprünglichen Apperzeption“ begreift. Diese „Hinzu-Wahrneh-mung“ ist ursprünglich, insofern sie gerade nicht Wahrnehmung, sondern frei von jeglicher Sinnes-Erfahrung ist. Kant nennt diese reine Apperzeption auch „die transzendentale Einheit des Selbstbewußt-seins“, aus der auch jegliche Möglichkeit einer Erkenntnis a priori und damit auch der Synthesis a priori hervorgehe.3 Dieses Apriori liege sämtlichen Verstandestätigkeiten einschließlich der naturwissen-schaftlichen Forschung zu Grunde. Auch die Naturgesetze seien nur durch das Apriori, nicht unmittelbar aus der Natur selbst zu gewinnen, dargelegt in der kühnen Formulierung: „ der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor4.

Die Synthesis a priori ist eines der vorzüglichen Mittel des Denkens. Sie kann z.B. ein allgemeingültiger Satz sein, der durchaus von empirischen „Vorstellungen von Gegenständen“ – und somit auch von Sinneswahrnehmungen – ausgehen kann, die dann im Denken auf den Begriff gebracht und miteinander verbunden werden, „um daraus eine Erkenntnis zu machen“, die sich in einer Synthesis ausdrücken lässt; genauer: „ ... die Synthesis ist doch dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt, und zu einem gewissen Inhalt vereinigt; sie ist also das erste, worauf wir acht zu geben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen.“5 Die Synthesis hält Kant für „rein“, wenn sie „a priori“, d.h. rein gedanklich und unabhängig von jeglicher Erfahrung, vorhanden ist. Durch die Synthesis verfüge das denkende Subjekt über feststehende, unumstößliche Grundsätze (Axiome), wie sie vornehmlich in der Mathematik, aber nicht nur dort, verwendet werden. Allgemein gültig werden diese Grundsätze durch die Anwendung von Kategorien, d.h. von Grundbegriffen des Urteilsvermögens, „die der Verstand a priori in sich enthält“ und in die Synthesis a priori einbringt; Kant bezeichnet sie auch als „ Stammbegriffe des reinen Verstandes“. In der „Tafel der Kategorien“ sind dies Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Zur Quantität gehören: „Einheit - Vielheit - Allheit“, zur Qualität: „Realität - Negation - Limitation“, zur Relation: „Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens) ... Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung) ... Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden), zur Modalität: „Möglichkeit – Unmöglichkeit - Dasein – Nichtsein - Notwendigkeit – Zufälligkeit“.6

Reine und praktische Vernunft

Überlegungen dieser Art ermöglichen es Kant, die Vernunft selbst zu definieren, insbesondere als das „Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt“, genauer als „das Vermögen, von dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses letztere also nach Prinzipien und als notwendig vorzustellen“ (Eisler a.O. S. 573). – Darüber hinaus unterscheidet Kant zwischen reiner und praktischer Vernunft, indem er die reine als diejenige definiert, „welche die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält“, während die praktische Vernunft „durch Begriffe das Wollen und Handeln bestimmt“ (a.O. S. 576 f.). Reine und praktische Vernunft bilden dennoch eine Einheit, und zwar u.a. durch die Synthesis a priori, die an Hand von Prinzipien und Kategorien erst den Zugang zur Wahrheit und damit auch zum praktischen Wollen und Handeln ermöglicht. Nicht grundsätzlich, sondern „bloß in der Anwendung“ könne zwischen reiner und praktischer Vernunft unterschieden werden – all dies aber stets mit Sinn und Verstand.

Verstand und Urteilsvermögen

definiert Kant recht klar, wenn er feststellt: „ Verstand ist, allgemein zu reden, das Vermögen der Erkenntnisse. Diese bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt. Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebe-nen Anschauung vereinigt ist.“ (B 137, a.O. S. 147 a. Unterstreichung durch mich.) Womit bereits ein Kern der Kantischen Erkenntnislehre benannt ist. Erkenntnisse entstehen durch Leistungen von Verstand und Vernunft, genauer: durch Subjekt-Objekt-Beziehungen, wobei Kant die Priorität des Subjekts deutlich betont. Objekte sind für ihn Erscheinungen, die dem Verstand erst dann zugänglich sind, wenn er deren Anschauung und Vorstellung auf einen Begriff gebracht hat, was zweifellos eine Leistung des Subjekts ist. Was Kant unter den „Erscheinungen“ versteht, stelle ich im Folgenden in den Abschnitten „Erfahrung und Erscheinung“ bzw. „Ding an sich und Erscheinung“ dar (s.u.).

Begriff, Urteil und Schluss (Konklusion) sind Leistungen des Verstandes. Nur durch Verstandeshandlungen kann die Vernunft zu konkreten Erkenntnissen gelangen. Der Verstand kann von gedanklichen Prämissen und von Sinneswahrnehmungen („sinnlicher Anschauung“) der betrachteten Gegenstände selbst ausgehen, ohne jedoch je mit der bloßen Sinneswahrnehmung identisch zu sein. Denn der Verstand sei auch „das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken7. Solches Denken vollzieht sich vorzugs-weise in den begrifflich-logischen Operationen mit Prämissen, Urteilen und Schlüssen, wobei es nicht auf sich allein gestellt ist, nicht solipsistisch wird, weil es zum intersubjektiven Vergleich stets in der Lage ist bzw. zu sein hat.

Verstand und Vernunft treffen sich im Urteilsvermögen, in der „Urteilskraft“, der Kant bekanntlich seine dritte umfassende Kritik unter Einschluß der Ästhetik widmet. Das Vermögen „deutlich zu erkennen“, beruht auf der Kooperation von Verstand und Vernunft, d.h. insbesondere von Vernunft- und Verstandesschlüssen, z.B. mittels analytischer und synthetischer Begriffe und Urteile, wobei nur die synthetischen diejenigen seien, die gänzlich neue Erkenntnisse erzeugen. Dem entspricht Kants Definition der Urteilskraft als „das Vermögen, das Besondere unter dem Allgemeinen zu denken“. Ist das dem Besonderen übergeordnete Allgemeine, z.B. als Prinzip, Gesetz oder Regel, gegeben, so nennt Kant die Urteilskraft „b e s t i m- m e n d“; muss man jedoch durch sie das Allgemeine zu einem gegebenen Besonderen erst noch finden, so nennt er sie „bloß r e- f l e k t i e r e n d“. – ­Außerdem hält Kant Ideen für mögliche „Quellen der Erkenntnis“; Vermutungen, wie die von Zwecken in der Natur, bezeichnet er auch als „regulative Ideen“. (Vgl. Robra 2015, S. 380 bzw. S. 363 ff., speziell zu Zielen und Zwecken: S. 390-392.) –

Erfahrung und Erscheinung

Zu klären bleibt die Frage, worin das Objekt, der Gegenstand der auf subjektiver Erfahrung beruhender Erkenntnis besteht. Wie Kant diese Frage behandelt, ist wesentlicher Teil seiner „kopernikanischen Wende“, der grundstürzend neuen Annahme, dass die Erkenntnisse sich nicht nach den Gegenständen zu richten hätten, sondern apriorisch zu begründen seien, so dass „wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten“.8

Erfahrung stützt sich sowohl auf Sinneswahrnehmungen als auch auf damit verbundene gedankliche Vorgänge des Erkennens, auf Gedanken-Vollzüge. In Folge dessen enthält die Erfahrung maßgebliche Faktoren, die ausschließlich im Subjekt ihren Ursprung haben, darunter die Synthesis a priori. Und hier vollzieht Kant seine radikale Wende: Was im Subjekt a priori vorhanden ist, existiert auch unabhängig von jeglicher Erfahrung, ja, ermöglicht diese erst. Wie dieses? Nun, laut Kant können wir nur erfahren, was im Bewusstsein als Erscheinendes präsent wird. Vermittelt durch Sinne und Verstand treten Dinge im Bewusstsein in Erscheinung. Die apriorischen Faktoren in und von Verstand und Vernunft verarbeiten diese Erscheinungen zu dem, was wir Erfahrung nennen. Kant erklärt hierzu: „In dem Sinnlichen aber und den Erscheinungen heißt das, was dem logischen Gebrauche des Verstandes vorhergeht, das Erscheinende, dagegen die reflektierte Erkenntnis, welche aus der mittels des Verstandes erfolgenden Vergleichung mehrerer Erscheinungen hervorgeht, heißt Erfahrung. Der Weg von dem Erscheinen zur Erfahrung führt daher nur durch die Reflexion gemäß dem logischen Gebrauche des Verstandes. Die allgemeinen Begriffe der Erfahrung werden empirische genannt und ihre Gegenstände Erscheinungen; die Gesetze aber sowohl der Erfahrung als überhaupt aller sinnlichen Erkenntnis heißen die Gesetze der Erscheinungen.“ (a.O. S. 142)

Um dieses besser zu verstehen, ist es nunmehr erforderlich, die Zusammenhänge zwischen den Dingen einerseits und ihren Erscheinungen im Bewusstsein andererseits näher zu beschreiben, daher zunächst Kants Auffassungen zu

Ding an sich und Erscheinung.

Eine der Kernstellen hierzu lautet: „Es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben; allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren.“ (Kant 1957, S. 42) – Tatsächlich liegen Kants Dinge an sich außerhalb unserer Erfahrung. Solange wir uns nicht mit unseren Sinnen und unserem Verstand auf ein Ding, z.B. der Außenwelt, beziehen, nicht von ihm „affiziert“ werden, existiert es ganz unabhängig von unserem Bewusstsein. Tritt aber ein Ding der Außenwelt in unser Bewusstsein, so geschieht dies nicht unvermittelt, sondern stets vermittelt durch Sinne und Verstand, d.h. als Erscheinung. Und darin liegt der Unterschied zwischen Ding an sich und Erscheinung.

Undenkbar scheint, dass dieser Unterschied je geleugnet werden könnte. Was aber erstaunlicherweise seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder der Fall war. Und noch im Jahre 1974 behauptet Gerold Prauss, der ursprüngliche Sinn des Ausdrucks ‚Ding an sich‘ sei bis dato „verkannt“ worden.9 Zumal der Ausdruck in dieser vielzitierten Form unvollständig und daher irreführend sei.

Vollständig laute der Ausdruck: „Ding an sich selbst betrachtet“. Wobei nicht mehr ‚Ding‘ und ‚an sich‘, sondern nur die vier letzten Wörter ‚an sich selbst betrachtet‘ als Sinn-Einheit anzusehen seien. Mit der Folge, dass die Wendungen ‚an sich‘ und ‚an sich selbst‘ nicht objektiv auf ‚Ding‘, sondern nur, rein subjektiv, auf ‚betrachtet‘ zu beziehen seien. Betrachtet werde nicht das Ding an sich, sondern nur ‚das Ding‘ als solches (ebd.).

Womit Prauss das Ding an sich nicht mehr als unerkennbar ansieht, sondern als Objekt philosophischer Reflexion gelten und folglich in Erscheinung treten lässt. Dass er damit den von Kant immer wieder betonten Unterschied, ja Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung beseitigt, genauer: eskamotiert, wegzaubert, wird an mehreren anderen Stellen seiner Abhandlung vollends deutlich. Wenn Kant das Ding an sich als ein „Noumenon“, d.h. als einen Begriff bzw. als einen bloßen Gedanken, bezeichne, so verweise er damit das Ding an sich faktisc Vgl. Kant 1956, S. 118 f.h in den Bereich der Erscheinungen, denn „nicht nur das Physische“ ..., „sondern auch das Psychische“ betrachte Kant „im philosophischen Sinne als Erscheinungen“ (Prauss a.O. S. 87). Um dies zu bekräftigen, behauptet Prauss, es gebe – als Sonderform des Empirischen – das „Objektiv-Physische der empirischen Dinge an sich“ (a.O. S. 139), eine These, die er aus dem bemerkenswerten Ergebnis ableitet, wonach „das empirische Ding ... an sich selbst betrachtet das ebenso notwendig Zubegreifende wie Unbegreifliche“ sei (S. 135), womit dann auch die „transzendental-philosophische Theorie der Erfahrung selber notwendig anlangt und endet“ (ebd.).

Ein bemerkenswert absurdes Ergebnis! Das Unbegreifliche soll begriffen werden, obwohl die Theorie dazu am Ende ist! Hervorgerufen wird diese Absurdität durch Prauss‘ missglückten Versuch, Kants Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung wegzuzaubern. Missglückt ist dieser Versuch aus folgenden Gründen: 1. Auch und gerade als „Noumenon“, als Begriff oder Gedanke, behält das Ding an sich seinen Sinn. Dinge sind unerkannt und unerkennbar, solange sie Sinne und Verstand der Menschen nicht beschäftigen. 2. Löst man das ‚Ding an sich‘ von dem Attribut ‚an sich‘, indem man das ‚an sich‘ nicht mehr auf das Ding, sondern nur noch auf das betrachtende Subjekt bezieht – in der angeblich allein statthaften Form ‚an sich selbst betrachtet‘ – wird aus dem Ding an sich plötzlich eine Erscheinung. Eine Eskamotage! 3. Ein „empirisches Ding an sich“ kann es nicht geben, weil Dinge an sich nur als frei von jeglichem empirischem, mithin erfahrendem Zugriff gedacht werden können.

Nur in diesem Sinne bezieht Kant die Annahme des Dings an sich auch auf das Subjekt selbst, wobei diese Annahme von einer bloß erkenntnistheoretischen zu einer anthropologischen und sogar ethischen wird: Wenn der Mensch von der reinen Apperzeption bzw. der Synthesis a priori Gebrauch macht, emanzipiert er sich von der Gebundenheit an die Sinnenwelt und, darüber hinaus, an die Welt der Erscheinungen, um stattdessen am „Intelligiblen“ teilzunehmen, einem Noumenon, einem Begriff der reinen Verstandes- und Vernunftwelt, der ihm Zugang sogar zum Unbedingten und Absoluten ermöglicht. Und darin erst werde der Mensch „unabhängig und frei“, auch wenn er zugleich, in seiner körperlichen Personalität, Teil der Sinnen- und Erscheinungswelt bleibe. Nur in diesem Sinne vereine der Mensch in sich Ding an sich und Erscheinung, Natur und Freiheit, wobei Ding an sich und Freiheit sich wechselseitig bedingen.10 Was auch und gerade für den Menschen als handelndes Subjekt zutreffe, wozu Kant feststellt: „Dieses handelnde Subjekt würde nun, nach seinem intelligiblen Charakter, unter keinen Zeitbedingungen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst.“ (ebd. S. 528)

Als Synonym für Freiheit gehört das Ding an sich zum Reich des Unbedingten, so dass zu fragen ist, wie die Freiheit als „unbedingte“ sich in der durchgängig bedingten Lebenswelt behaupten kann. Kants Antwort: nur durch das Moralgesetz, das er auch als Sittengesetz oder, wie im Kategorischen Imperativ, als „Allgemeine Gesetzgebung“ bezeichnet. Insofern kommt dem Ding an sich indirekt nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch anthropologische und ethische Bedeutung zu.

Was jedoch nicht bedeutet, dass das Ding an sich – wie Prauss behauptet – sich einzig und allein auf das denkende Subjekt selbst bezieht. Denn Kant nimmt an, dass das Ding an sich der Welt im Ganzen zu Grunde liegt und als solches die Erscheinungswelt „affiziert“. Kant hält also, entgegen der von Prauss‘ geäußerten Meinung, durchgängig an seiner klaren Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung fest, was sich an Hand einer erdrückend hohen Anzahl von Textstellen belegen lässt. Stellvertretend hierfür zitiere ich die beiden folgenden, von denen die erste auch bei Prauss (a.O. S. 33) zu finden ist, dass nämlich „die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen“, und: „ ... was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann“ (Kant a.a.O. S. 321). Jegliche Erkenntnis erstreckt sich folglich nicht auf Dinge an sich, sondern nur auf Dinge, die im Bewusstsein erscheinen.

Zeit und Raum

hält Kant für „Formen der reinen Anschauung“ und meint damit seine Modell-Vorstellungen von Raum und Zeit als Grundlagen und Voraussetzungen jeglicher Art von Erkenntnis. Was er hier unter „rein“ versteht, erklärt er folgendermaßen: „Ich nenne alle Vorstellungen rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird.“11 Dabei gilt es, den Begriff ‚transzendental‘ nicht mit ‚transzendent‘ (= ‚über alle Erfahrung hinausgehend‘) zu verwechseln. Transzendental ist für Kant dasjenige, was Erfahrungserkenntnis überhaupt erst möglich macht, ihr a priori zu Grunde liegt. Daher bezieht sich ‚transzendental‘ nicht auf Gegenstände als solche, sondern auf diejenige Verstandestätigkeit, die sich „mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, beschäftigt“.12 „Rein“ bezeichnet also „im transzendentalen Verstande“ keinen Gegenstand der Erfahrung, sondern das Apriorische, das jeglicher Erfahrungsmöglichkeit zu Grunde liegt. Es gebe dementsprechend eine „reine Form sinnlicher Anschauung“, die man auch „reine Anschauung“ nennen könne. Als Beispiel hierfür führt Kant die Möglichkeit an, sich einen Körper vorzustellen und dabei von jeglicher Empfindung, die dieser Körper in den Sinnen hervorruft, abzusehen, so z.B. von Merkmalen wie Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw.“, um sodann festzustellen, dass über die Empfindung hinausgehende Merkmale wie „Ausdehnung und Gestalt“ als Bestandteile der Beobachtung weiterhin vorhanden sind. Zu diesen Bestandteilen merkt Kant an: „Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.“13 Eine solche Vorstellung bezieht sich auf nichts Äußerliches, sondern nur auf Inneres. Sie ist Teil des „inneren Sinns“, d.h. der „inneren Bestimmungen“, die aber, so Kant, nur „in Verhältnissen der Zeit vorgestellt“ werden können, wobei sogleich zu beachten sei, dass „die Zeit nicht angeschaut werden“ kann, „so wenig wie der Raum, als etwas in uns“.14 „Reine“ innere Bestimmungen wie die von Zeit und Raum gibt es nur im Bewusstsein, nicht außerhalb desselben. Da aber auch die Bestimmungen des Raumes nur in der Zeit stattfinden, wird die Zeit zur Voraussetzung für sämtliche Bestimmungen überhaupt. Anders als Kant stelle ich daher seine Überlegungen zum Zeit-Begriff denjenigen zum Raum-Begriff voran.

Was ist die Zeit, was ist sie nicht? Sie ist kein Ding, keine Sache, kein bloßes Phänomen, kein bloßer Begriff. „Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb‘ in Ewigkeit“, heißt es in einem Kirchenlied. Die drei letzten Wörter habe ich „in Zeit von nichts“, tatsächlich aber in einem einzigen Augenblick niedergeschrieben. Über den Inhalt dieses Augenblicks könnte ich mir jedoch nur nachträglich, nur im Nachhinein, nicht während des Augenblicks selbst, wirkliche Klarheit verschaffen, d.h. nach spätestens 4 Sekunden. Die drei Wörter bleiben freilich auf dem Papier, als Schriftbild. Vorher gab es dort nur Papier und das darauf fallende Licht. Das Sein des Schriftbildes ist Ergebnis eines Geschehens. Was ist, geschieht in der Zeit, von einem Augenblick zum nächsten. Aber weder das Geschehen noch der Augenblick ist identisch mit der Zeit, ebenso wenig wie das „Schriftbild“ genannte Ding.15 Dinge und Sachen entstehen, bilden sich, geschehen und vergehen in der Zeit, ohne selbst Zeit zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Phänomenen und Begriffen. Das Schriftbild enthält Begriffe, die ebenfalls von der Zeit abhängen. Erscheinungen manifestieren sich in Abläufen, in Abfolgen von Augenblicken. Daher gilt: keine Folge ohne Abfolge, keine Abfolge ohne Zeit. Was an den Erscheinungen erkennbar ist, z.B. Gründe und Folgen, Ursachen und Wirkungen, vollzieht sich in der Zeit, ist aber nicht mit ihr identisch. Was also ist dann die Zeit? Eine Frage, die Augustinus bekanntlich nur sich selbst beantworten konnte, nicht aber Leuten, die ihm die Frage nach dem Wesen der Zeit stellten.

Bei Kant finden wir dagegen sehr wohl Antworten, nämlich folgende:

1. Für ihn ist die Zeit kein Erfahrungsbegriff, sondern eine „notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.“16
2. Die Zeit ist „a priori gegeben“, so dass in ihr jegliche „Wirklichkeit der Erscheinungen möglich ist“ (ebd.).
3. Die Zeit hat nur „eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander ...“ (a.O. S. 74).
4. „Die Zeit ist kein diskursiver, oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff, sondern eine reine Form der sinnlichen Anschauung“. (a.O. S. 75)

Was Kant unter einer „reinen Form der Anschauung“ versteht, habe ich bereits erklärt (s.o.). Als „notwendige Vorstellung“ wird die Zeit zu einer Art „reiner“ Grund- Kategorie, der auch jegliche Raum-Vorstellung unterworfen ist.

Was aber bedeutet es, dass Kant zwar die Zeit sämtlichen Erscheinungen zu Grunde legt, darüber hinaus aber anscheinend einen Grund für diesen Grund angibt: das Beharrliche, die Substanz, die Materie als „das Bestimmbare überhaupt“ (a.O. S. 314)? Dazu stellt Kant unmissverständlich klar: „eine formale Anschauung (Zeit und Raum)“ muss gegeben sein, um Materie überhaupt beschreiben zu können (a.O. S. 315)! Daher setzt er die Materie keineswegs mit dem „Ding an sich“ gleich, sondern rechnet sie dem Reich der Erscheinungen zu, denen wiederum die Zeit zu Grunde liege. Dem „Beharrlichen“ an der Materie kommt die Funktion zu, dem „ D a s e i n in verschiedenen Teilen der Zeitreihe nacheinander eine G r ö ß e, die man D a u e r nennt“, zu verleihen (a.O. S. 236). Die Zeit selbst sei nicht wahrnehmbar, wohl aber „das Beharrliche an den Erscheinungen“ als „Substratum aller Zeitbestimmungen“ (ebd.), wobei Kant sorgfältig zwischen Zeit und Zeitbestimmung unterscheidet.

Gleichwohl erscheint die Zeit nunmehr einerseits eher subjektiv als Form einer synthetischen, reinen Anschauung a priori und andererseits eher objektiv, wenn auch nur indirekt bestimmbar, nämlich an Hand des „Beharrlichen“ der Materie.

Unterschiede zwischen Zeit und Raum arbeitet Kant deutlich heraus. Die Zeit liegt dem Raum zu Grunde, nicht umgekehrt (s.o.). Dies trotz der Tatsache, dass der Raum drei Dimensionen, die Zeit aber nur eine, die der „Reihe“ hat, mit der Folge, dass die Zeit als „formale Bedingung aller Reihen“ gilt. Unterschiedliche Raumteile, z.B. die der Materie, existieren gleichzeitig und nebeneinander, was bei unterschiedlichen Zeiten nicht der Fall ist. Der Raum ist als solcher ein „Aggregat“, keine Reihe.17

Speziell zum Raum erklärt Kant, dieser sei eine „notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt“, so dass diese Vorstellung nicht empirisch, nicht aus der Anschauung selbst, zu gewinnen sei: „Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden. Dann damit gewiße Empfindungen auf etwas außer mich bezogen werden (d. i. auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer- und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußeren Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich.“18

Die Materie bzw. die Dinge im Raum sind uns daher nur als Erscheinungen, nicht als Dinge an sich gegeben. Der transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raum sei „eine kritische Erinnerung, daß überhaupt nichts, was im Raume angeschaut wird, eine Sache an sich, noch daß der Raum eine Form der Dinge sei, die ihnen etwa an sich selbst eigen wäre, sondern daß uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt sind, ...“.19 Mit dieser nachdrücklichen Erinnerung beendet Kant seine Erörterung des Raum-Problems im Rahmen der ‚Transzendentalen Ästhetik‘ der Kritik der reinen Vernunft.

Logik, Wahrheit und Erkenntnis

Teilweise abweichend von der in der Logik eingehaltenen Gliederung ist in Bezug auf Kants Erkenntnistheorie folgender Gedankengang möglich und sinnvoll: 1. Erkenntnis ist Grundlage von Praxis. 2. Ziel und Zweck des Erkennens ist die Ermittlung von Wahrheit und Wissen. 3. Verfehlt wird dieses Ziel vor allem durch Falschheit, Irrtum, Vorurteile, bloßes Meinen und Glauben, Subjektives und Objektives. 4. Inhalte und Formen des Erkennens: a) Sinne und Verstand, Anschauung und Begriff, b) Horizonte, c) Stufen des Erkennens, d) Merkmale; e) die Grundsätze der Logik sind zugleich Grundsätze des Erkennens. 5. Philosophie ist wesentlich Erkenntnis-theorie, erschöpft sich aber nicht darin.

Zu 1): Erkenntnis als Grundlage von Praxis

Alles läuft zuletzt auf das Praktische hinaus“, schreibt Kant im Anhang zur ‚Logik‘ unter dem Titel: „Von dem Unterschiede des theoretischen und des praktischen Erkenntnisses“. Sogar die reine Vernunft – und damit jegliche Erkenntnis – diene im Grunde der Praxis. Erkenntnisse gewinnen ihren praktischen Wert problemlos, zumal sich auch jegliche Theorie und Spekulation in den Praxisbezug einbeziehen lässt. Es ist ein Wert, der sich sogar zum Unbedingten („Absoluten“) steigern kann, wenn die Erkenntnisse die Sittlichkeit befördern, was Kant für „das schlechthin oder absolut Praktische “, d.h. für einen unbedingten und daher unabdingbaren Endzweck hält. Zweckrational, mithin teleologisch, verknüpft Kant seine Erkenntnistheorie mit seiner Ethik.

Zu 2): Kants Wahrheitsbegriff

Vollkommenheit erwachse aus „Mannigfaltigkeit“ und „Einheit“. Allerdings: Mit der bloßen Mannigfaltigkeit der Gegenstände der Erkenntnis begnügt Kant sich nicht, sondern rekurriert auf ein Einheit stiftendes Kriterium: die Wahrheit, die als unverzichtbare Grundlage, Zweck und Ziel, als ‚conditio sine qua non‘, nicht nur jeglicher Wissenschaft zu gelten habe. Wobei zu beachten ist, dass Kant einen durchaus eigenständigen, neuen Wahrheitsbegriff entwickelt. Keineswegs wiederholt er lediglich das, was schon die Scholastiker, so Thomas von Aquin, behaupten, wonach Wahrheit in der ‚adaequatio rei et intellectus‘, der Übereinstimmung von Sache und Verstand bzw. Erkenntnis und erkanntem Gegenstand, bestehe. Zwar behauptet er genau dies in der Kritik der reinen Vernunft, aber eher beiläufig in einem Nebensatz: „ ..., weil Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist“.20 Dass er sich damit nicht begnügt, ist in dem Kapitel seiner ‚Logik‘ über „Materiale und formale oder logische Wahrheit“ deutlich zu erkennen. Darin stellt er fest, dass die bloße Übereinstimmung, die „Korrespondenz“ von Erkenntnis und erkanntem Objekt, als Wahrheitskriterium nicht ausreiche, weil sie einer genauen Überprüfung nicht standhalte. Vergleicht man – notwendigerweise – die Erkenntnis mit ihrem Objekt, gerät man in einen Erklärungs-Zirkel: „Denn da das Objekt außer mir und die Erkenntnis in mir ist: so kann ich immer doch nur beurteilen: ob meine Erkenntnis vom Objekt mit meiner Erkenntnis vom Objekt übereinstimme. Einen solchen Zirkel im Erklären nannten die Alten Diallele.“ Weil die Erkenntnis stets nur auf das im Bewusstsein Erscheinende gerichtet sein könne, bestehe für die Erkenntnis keine Möglichkeit als nur sich selbst zu überprüfen, nicht aber eine nachprüfbare Übereinstimmung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma findet Kant dadurch, dass er zwischen material-objektiver und logischer bzw. formal-subjektiver Wahrheit unterscheidet. Für erstere könne es kein allgemein gültiges Kriterium geben, weil dieses für alle Gegenstände überhaupt gelten müsste, was ausgeschlossen sei, weil man schlechterdings nicht „von allem Unterschiede“ sämtlicher Gegenstände „völlig abstrahieren und doch auch zugleich eben auf diesen Unterschied gehen“ könne, „um bestimmen zu können, ob ein Erkenntnis gerade mit demjenigen Objekte, worauf es bezogen wird, und nicht mit irgend einem Objekt überhaupt – womit eigentlich gar nichts gesagt wäre – übereinstimme“. Offenbar unsinnig wäre es, „ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit zu fordern, das von allem Unterschiede der Objekte zugleich abstrahieren und auch nicht abstrahieren solle“ (ebd.).

Zu fragen sei daher nach allgemein gültigen formalen Kriterien der Wahrheit. Diese findet Kant teilweise bereits in den obersten Grundsätzen der aristotelischen Logik: den Sätzen von der Identität, vom Widerspruch und vom zureichenden Grunde. Jede Erkenntnis muss mit diesen Grundsätzen übereinstimmen. Erkenntnis darf sich nicht selbst widersprechen und sie muss möglichst vollständige Gründe angeben und falsche Folgerungen („Folgen“) vermeiden. Erkenntnisse können als wahr gelten, solange alle durch sie ermittelten Gründe und Folgen sich als zutreffend herausstellen und bewähren. Nur unter dieser Voraussetzung sind Urteile möglich, die Kant in problematische, assertorische und apodiktische unterteilt. Wobei das Bedingungsgefüge von Begriffen, Urteilen und Schlüssen zu beachten ist. Zumindest über Inhalt und Umfang der zu verwendenden Begriffe muss Klarheit herrschen, um angemessen urteilen und korrekt Schlüsse ziehen zu können. Nicht zufällig fügt Kant daher seiner Logik – als unverzichtbaren Beitrag zur Lösung des Wahrheitsproblems – umfangreiche Kapitel über Begriff, Urteil und Schluss an.

Zu 3): Ziel-Verfehlungen durch Falschheit, Irrtum und Vorurteile

Relativ einfach läge das Problem der Falschheit, wenn diese nur als das Gegenteil von Wahrheit anzusehen wäre. Es gibt jedoch Falschheit, die für wahr gehalten wird; und darin besteht, wie Kant sagt, der Irrtum. Dieser entstehe nicht durch den Verstand, sondern durch die „ unvermerkten Einflüsse der Sinnlichkeit auf den Verstand, oder, genauer zu reden, auf das Urteil “. Solche Einflüsse können dazu führen, dass wir Subjektives, z.B. in Vorurteilen sowie in bloßem Meinen und Glauben, für objektiv zutreffend halten und daher „den bloßen Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechseln“. Solches Irren habe der Mensch sich selbst zuzuschreiben, nämlich seinem Hang, die eigenen Grenzen zu verkennen und zu überschreiten, d.h. auch über Dinge zu urteilen, von denen er/sie nichts oder zu wenig versteht.

Um derartige Irrtümer zu vermeiden, empfiehlt Kant Vorkehrungen unterschiedlicher Art, z.B. a) den eigenen gesunden Menschen-verstand walten zu lassen und b) die eigenen Meinungen mit denjenigen anderer, insbesondere von Experten, zu vergleichen, ohne dabei auf eigenständiges Denken zu verzichten.

Wobei Kant der Gefahr des Irrtums durch Vorurteile besondere Aufmerksamkeit widmet. In jedem Vorurteil erkennt er ein „Prinzip irriger Urteile“ und nennt als deren Hauptquellen „Nachahmung, Gewohnheit und Neigung “. Simple Nachahmung führe leicht zu kritikloser Übernahme fremder Meinungen, während die Macht der Gewohnheit sich nur langfristig und nur durch geduldige Verstandesarbeit brechen lasse. Was jedoch nahezu aussichtslos sei, wenn ein Vorurteil sowohl aus Neigung als auch aus Gewohnheit entstanden sei.

Zwischen Falsch und Richtig: Meinen, Glauben, Wissen

Um sich gegen Vor- und Fehlurteile zu wappnen, empfiehlt Kant, genau zwischen Meinen, Glauben und Wissen zu unterscheiden. In der Logik schreibt er dazu: „Vom Meinen fangen wir größtenteils bei allem unserm Erkennen an. Zuweilen haben wir ein dunkles Vorgefühl von der Wahrheit; eine Sache scheint uns Merkmale der Wahrheit zu enthalten; – wir ahnen ihre Wahrheit schon, noch ehe wir sie mit bestimmter Gewißheit erkennen.“ – Wie Glauben und Wissen bezeichnet Kant das Meinen als eine Form des „Fürwahrhaltens“, genauer: als ein „ vorläufiges Urteilen“, das weder subjektiv noch objektiv hinreichend gesichert ist. Meinen und apriorische Gewissheit schließen sich aus, so dass es wissenschaftlich z.B. nicht in Mathematik oder Ethik, sondern nur in Erfahrungswissenschaften wie Physik und Psychologie eine Rolle spielen kann, und zwar in der benannten Art der Vorausahnung, die stattfinden muss, noch ehe irgendwelche Annahmen oder gar Behauptungen möglich sind.

Das Glauben bezeichnet Kant als nur subjektiv, nicht objektiv zureichend. Glaubensinhalte gehören weder zu den empirischen noch zu den apriorischen Erkenntnissen. „Nur solche Gegenstände sind Sachen des Glaubens, bei denen das Fürwahrhalten notwendig frei, d.h. nicht durch objektive, von der Natur und dem Interesse des Subjekts unabhängige, Gründe der Wahrheit bestimmt ist.“

Wissen verbindet Kant mit Gewissheit. Dazu müssen objektiv und subjektiv, empirisch und/oder rational hinreichend triftige Gründe vorhanden sein. Rationale Gewissheit gebe es nur in der Mathematik (als Evidenz) und in der Philosophie, während empirische Gewissheit auf eigener oder abgeleiteter (fremder, historischer) Erfahrung beruhe. Wissenschaftliche Sätze mit Wahrheitsanspruch müssen beweisbar sein, können nicht willkürlich aufgestellt werden. Auf gesichertes Wissen gegründete Wissenschaft versteht Kant als „Inbegriff einer Erkenntnis, als System “; dies im Unterschied von der „gemeinen“, nicht-wissenschaftlichen Erkenntnis. Bei den Wissenschaften unterscheidet er zwischen historischen und rationalen („Vernunft-wissenschaften“).

Zu klären bleibt, was Kant unter subjektiv und objektiv, zumal als Kriterien wissenschaftlicher Gewissheit, versteht. In der Kritik der reinen Vernunft nennt er drei Quellen subjektiver Erkenntnis: „ Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption “.21 „Sinn“ – als Teil des Sinn-lichen ! – manifestiert sich in der Wahrnehmung, Einbildungskraft in der Anschauung (bzw. Vorstellung); Apperzeption bedeutet, dass man die Übereinstimmung von Wahrnehmung und Anschauung mit den im Bewusstsein präsenten und insofern subjektiven Erscheinungen feststellt. Subjektiv ist auch das Apriorische, das schon in den Quellen der subjektiven Erkenntnis enthalten ist. Der Clou: Diese subjektiven Bedingungen der Erkenntnis seien zugleich objektiv gültig, „indem sie die Gründe der Möglichkeit sind, überhaupt ein Objekt in der Erfahrung zu erkennen.“22 Was Hegel und Schelling später als Dialektik von Subjekt und Objekt näher analysieren, hat Kant hier vorbereitet. Objekt-Bezüge zu erfahren, ist nur möglich, wenn Wahrnehmung, Anschauung, Begriff, Verstand und Vernunft zusammenwirken. Somit im Grunde nur als Leistung des Denken s, das Kant als „Erkenntnis durch Begriffe“ und als „die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen“, versteht.

[...]


1 Kant: Logik – ein Handbuch zu Vorlesungen, 1900, III. Begriff von der Philosophie überhaupt

2 Hervorhebungen und Zitate, auch im Folgenden, aus: Eisler 1964

3 Vgl. Kant 1956, S. 141 a f.

4 Kant 1957, S. 79

5 Vgl. Kant 1956, S. 115 f.

6 Vgl. Kant 1956, S. 118 f.

7 a.a.O. S. 580

8 a.a.O. 1956, S. 20

9 Prauss 1974, S. 23

10 Vgl. Kant 1956, S. 527-529

11 Kant a.O. S. 64

12 Kant, zitiert bei Schmidt/Schischkoff S. 586

13 Kant 1956, S. 64

14 Kant a.O. S. 66

15 S. auch Robra 2017, S. 51 ff.

16 Kant 1956, S. 74

17 Vgl. Kant 1956, S. 441 ff.

18 Kant a.a.O., S. 67

19 A.a.O. S. 73

20 Kant 1956, S. 244

21 Kant 1956, S. 168a

22 Kant 1956, S. 184a. Dort auch zum Thema ‚Meinen, Glauben und Wissen‘: S. 739 ff.

Ende der Leseprobe aus 187 Seiten

Details

Titel
Wie ist Erkenntnis möglich? Kants Theorie und ihre Folgen
Untertitel
Schicksalsfrage der Menschheit?
Autor
Jahr
2018
Seiten
187
Katalognummer
V429613
ISBN (eBook)
9783668739048
ISBN (Buch)
9783668739055
Dateigröße
1380 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erkenntnis, kants, theorie, folgen, schicksalsfrage, menschheit
Arbeit zitieren
Dr. Klaus Robra (Autor:in), 2018, Wie ist Erkenntnis möglich? Kants Theorie und ihre Folgen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/429613

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