Die Funktion der Tränen in Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

17 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Der Werther – Zwischen Empfindsamkeit und Sturm und Drang

3. Tränenfunktionen und Intertextualität
3.1 Weinen mit Klopstock
3.2 Tränen bei Ossian

4. Die Bedeutung der Tränen für Werthers Schreiben

5. Schlusswort

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als Goethe ‚Die Leiden des jungen Werthers‘ schrieb und 1774 veröffentlichte, rechnete er kaum mit einer derartigen Reaktion auf sein Werk, die ihm, und damit auch der gesamten deutschen Literatur, zum Erfolg verhalf.[1] Mit seinem Roman traf der zu diesem Zeitpunkt erst 24 Jahre alte Goethe den Nerv der Zeit und den der Menschen. Ein regelrechtes „Wertherfieber“[2] wurde ausgelöst und man kleidete sich wie Werther und es wurden „Tränen herzlicher Anteilnahme“[3] vergossen. So bekannte auch Ludwig Tieck, er habe nach dem Erscheinen des Werthers „vier Wochen lang […] in Tränen gebadet.“[4]

Auf den häufig im Roman vorkommenden Tränen soll das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegen. Zunächst jedoch soll der Roman und seine Hauptfigur im Hinblick auf die Zeit der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang näher betrachtet und eingeordnet werden. Im Hauptteil der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, inwieweit sich die Tränen im Roman charakterisieren und darstellen lassen. Dabei wird die Intertextualität nicht nur im Roman, sondern auch in dieser Hausarbeit von zentraler Bedeutung sein. Klopstock und Ossian sollen im Hinblick auf die Darstellung der Tränen näher betrachtet und analysiert werden. Des Weiteren soll die Bedeutung von Tränen für das eigene Schreiben Werthers bestimmt werden. Abschließend wird in einem Schlusswort das Ergebnis dieser Arbeit festgehalten. Als Quelle dient dieser Hausarbeit ‚Die Leiden des jungen Werthers‘ in der ersten Fassung von 1774.[5]

Goethe konzipierte sein Werk ganz bewusst als einen Briefroman. Die Gattung des Briefromans steht der des Tagebuchromans nahe. Beiden ist gemeinsam, dass ihnen eine „faktuale Gattung“[6], der Brief, beziehungsweise das Tagebuch, als Basis dient. Werther ist „die Tragödie des Menschen in der Unbedingtheit des Gefühls. […] Eine Tragödie, die im Herzen ausgetragen wird, findet im bekennenden Brief ihren stärksten Ausdruck.“[7] In Briefen „werden weniger Nachrichten übermittelt als Erlebnisse und Gefühle mitgeteilt“.[8] Durch das Briefeschreiben kann die persönliche Perspektive sich entfalten und der dialogartige Prozess dieser Mitteilungsart kommt direkt aus dem Herzen der Schreibenden. Der Schreibende ist mit sich selbst alleine, obwohl er sich zeitgleich mitteilt.[9] Goethe hat den Prozess des Schreibenden, der mit sich alleine ist, weitergeführt. Obwohl der Leser den Empfänger der Briefe, Wilhelm, kennt, so bekommt er doch nur die Briefe Werthers zu lesen, weshalb der Roman in seiner Struktur als eine Art Monolog gesehen werden kann.[10] An dieser Stelle ist besonders zu betonen, dass der Leser vollkommen von Werthers Perspektive eingenommen wird. Ihn erreichen alle Informationen und Erlebnisse ausschließlich aus Werthers subjektiver Perspektive. „Alles Außen dient dem Bild von Werthers Innerem.“[11] Erst als der fiktive Herausgeber zu Wort kommt, um den Ausgang des Geschehens zu berichten, tritt der Leser aus der Innerlichkeit Werthers hinaus. Er, der fiktive Herausgeber, fungiert hierbei als ein Stellvertreter, „der für die Authentizität der Briefe eintritt“[12]. Doch selbst dort hat Goethe „die Dokumentarfiktion so weit getrieben, da[ss] er als Autor hinter den Text zurücktritt und der Leser bei der Deutung der Ereignisse auf sich selbst gestellt ist.“[13]

2. Der Werther – Zwischen Empfindsamkeit und Sturm und Drang

Die Empfindsamkeit zählt, trotz einer generellen Kritik an der ausschließlichen Berücksichtigung des Verstandes und gleichzeitig einer Emphase von Gefühl, in den Zusammenhang der Epoche der Aufklärung. Sie bringt, wie ihre Bezeichnung bereits ausdrückt, Empfindsamkeit in das Weltbild dieser Epoche. Kennzeichnend für diese Zeit sind, anders als oftmals dargestellt, das Zusammenspiel von Herz und Verstand.[14] Außerdem sind Leidenschaft und der Zustand der Melancholie zu nennen, die in der Empfindsamkeit stark vertreten und auch bei Werther unschwer zu finden sind. Melancholie wird oftmals als eine Krankheit betrachtet, die die betroffene Person lähmt und unfähig macht zu handeln. Aber sie wird auch als „natürliches Ingenium des schöpferischen Menschen“[15] bezeichnet und widerspricht so der Melancholie als Krankheitsauffassung. „Melancholie, Schwermut und Weltschmerz“[16] sind konstituierende Begriffe für die Zeit der Empfindsamkeit. Zu den Gemütszuständen gehören konstituierend vor allem die Tränen, auf die im Hauptteil dieser Arbeit noch spezifisch eingegangen wird. Die Tränen drücken in der Zeit der Empfindsamkeit Verschiedenes aus. Es wird nicht nur aus Trauer geweint, sondern auch aufgrund von überwältigendem Glück oder großer Anteilnahme. Das bedeutet, während dieser Zeit wurde viel geweint. In der Literatur, in Briefen und auch im echten Leben. „[D]ie Wonne der Wehmut und der Tränen [ ] erfüllt die Herzen. Enthusiasmus […] wird zur vorbildlichen Seelenhaltung der Ergriffenheit, und […] zeigt eindringlich, wie die ausländischen Anregungen mit den einheimischen Impulsen in der Zeitstimmung der Empfindsamkeit verschmelzen.“ Es entsteht eine Art neues „Ich-Erlebnis“, bei dem das Subjekt einerseits im Alleinsein mit sich selbst seinen inneren Reichtum und sein intensives Gefühlsleben entdecken und ausleben kann, andererseits aber auch Einsamkeitserfahrungen macht, die den Körper und das Alleinsein als einen Kerker erscheinen lassen. Wichtig ist, wie auch empfunden wird, dass das Subjekt letztendlich damit nicht alleine bleibt, es hat den Drang sich mitzuteilen: „Das Fühlen will sich fühlen, und dazu mu[ss] es auch im anderen reflektiert werden.“ Eine der beliebtesten literarischen Mitteilungsformen in dieser Zeit war neben dem Tagebuchroman auch der Briefroman. Hier wird bereits deutlich, wie viele Parallelen die Zeit der Empfindsamkeit mit dem Roman von Goethe aufweist. Dazu zählt nicht nur, dass Die Leiden des jungen Werthers als tagebuchartiger Briefroman konzipiert ist. Auch der Drang des Alleinseins, das Aufleben in der Einsamkeit und die vielen Tränen, die geweint werden, zeigen die Nähe zur Empfindsamkeit. Werther hat außerdem ein großes Bedürfnis sich mitzuteilen und er erlebt alles sehr intensiv, was nicht zuletzt zu seinem eigens gewählten Tode führt. Paradigmatisch für die aufgeführte Tendenz zum Ich und der inneren Gefühlswelt ist Werthers Aussage: „Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles.“ Bezeichnend ist auch die Beschreibung von Werther, wie er das Alleinsein empfindet, denn er fühlt sich „hier gar wohl. Die Einsamkeit ist in meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz.“[17]

Der Beginn der Bewegung von Sturm und Drang kann auf ungefähr 1770 datiert werden und lässt sich in einer Zeitspanne von ungefähr einem Jahrzehnt ausdrücken. Sie gilt in ihrer Bedeutung als die erste „Blüte der hervorragendsten Epoche deutscher Literatur“[18], wird jedoch trotzdem oftmals nur als eine Entwicklung in Richtung Romantik und Idealismus betrachtet. Die Vertreter des Sturm und Drang ergründen das Innenleben der bürgerlichen Welt und verteidigen deren Werte mit Überzeugung und Leidenschaft, teilweise sogar gewissermaßen rücksichtslos.[19] Damit geraten sie in Konflikt mit den Idealen der Aufklärung, da sie die Vorstellung des Menschen als einen rein auf Verstand basierendes Lebewesen ablehnen.[20] Aufgrund dessen wird die Zeit des Sturm und Drang auch als eine Zeit der Empfindsamkeit bezeichnet.[21] Diese wird deutlich, wenn man sich die Textstruktur im Werther genauer ansieht. Die Briefe enthalten Brüche in ihren Sätzen und Auslassungen. „Werthers Sprache ist ein biegsames und sensibles Instrument für den Ausdruck seiner Empfindungen, persönlich und gefühlsbetont.“[22] So teilt Werther seinem Briefpartner Wilhelm in einer kurzen Notiz vom dritten September mit: „Schon vierzehn Tage geh ich mit dem Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muss. […] Und Albert – und – ich muss fort.“[23]

Im Werther sehen die Vertreter der Sturm und Drang-Bewegung ihre Ideale von Genialität, Originalität und dem Gefühl auf höchster Stufe verwirklicht.[24] Man kann sagen, der Roman gehöre „mit seiner Parteinahme für das ‚Originalgenie‘ und gegen den Zwang der Regeln, mit seiner Kritik an Adel und Bürgertum ebenso wie nach Stil und Form zum Sturm und Drang.“[25] Außerdem zählt nicht zuletzt Goethe selbst als einer der großen Vertreter des Sturm und Drang, der seinen Teil dazu beitrug, ein neues Verständnis von Natur und Gefühl, sowie die „Aufwertung des Irrationalen“[26] zu entwickeln.

Von zentraler Bedeutung für den Sturm und Drang ist eine Entwicklung weg von vorgegebener Regelpoetik und hin zum Dichter, der aus sich selbst heraus Inspiration und Energie zum Schreiben schöpft. Es wird sich nicht länger an Vorgaben gehalten. Die Subjektivität rückt in den Mittelpunkt.[27] Es wird von einem Genie gesprochen, das keine göttliche Instanz mehr braucht, um tätig zu sein, sondern allein aus seiner eigenen Person Ideen bezieht. „Melancholie, Wahnsinn und Leid erscheinen dabei als Quelle der Inspiration, als ‚unverzichtbarer Bestandteil wahren Künstlertums‘.“[28] Diese Entwicklung ist auch bei Werther zu finden. An seinen Freund schreibt er gleich zu Beginn des Romans, dass er nicht mehr ermuntert oder gar angefeuert werden möchte, „braust dieses Herz doch genug aus sich selbst“[29].

Zwischen Empfindsamkeit und der Zeit des Sturm und Drang bestehen, wie hier deutlich wurde, große Ähnlichkeiten. Der Sturm und Drang hat biographisch gesehen im Unterschied zur Empfindsamkeit eine engere Beziehung zum Pietismus, bei welchem religiöse Ursprünge noch deutlicher zutage treten.[30] Werther als Figur, sowie der gesamte Roman, sind meiner Meinung nach nicht eindeutig nur in die Empfindsamkeit oder nur in die Zeit des Sturm und Drang einzuordnen. Der Roman orientiert sich an beiden Phasen. Er drückt durch den Selbstgenuss von Gefühl den Zustand höchster Empfindsamkeit aus und vertritt diese Richtung auf ganzer Linie. Allerdings wird im Roman deutlich, dass Werther es nicht schafft, ein Gleichgewicht zwischen Herz und Verstand zu bewahren. Er gibt sich seinen inneren Gefühlen, seinem Herzen, vollkommen hin. Damit bewirkt er einen Unterschied zur Empfindsamkeit, die eben diese Kombination im Gleichgewicht anstrebte.

[...]


[1] Vgl. Kaiser, Gerhard: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang. Tübingen 2007. S. 209.

[2] Blessin, Stefan: Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Frankfurt 1985. S. 5.

[3] Ebd.

[4] Hein, Edgar: Johann Wolfgang Goethe. Die Leiden des jungen Werther, München 1997. S. 74.

[5] Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers. Erste Fassung 1774, Stuttgart 2009.

[6] Kellner, Renate: Der Tagebuchroman als literarische Gattung. Thematologische, poetologische und narratologische Aspekte, Berlin 2015. S. 18.

[7] Kaiser: Aufklärung. S. 209.

[8] Blessin: Goethe. S. 16.

[9] Vgl. Blessin: Goethe. S. 16.

[10] Ebd.

[11] Kaiser: Aufklärung. S. 210.

[12] Kellner: Tagebuchroman. S. 18.

[13] Blessin: Goethe. S. 17.

[14] Vgl. Sauder, Gerhard: Empfindsamkeit. Band I, Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974. S. 125.

[15] Sauder: Empfindsamkeit. S. 149.

[16] Ebd. S. 150.

[17] Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 6.

[18] Pascal, Roy: Die Sturm-und-Drang-Bewegung. In: Wacker, Manfred (Hrsg.): Sturm und Drang. Darmstadt 1985. S. 26.

[19] Vgl. Pascal: Die Sturm-und-Drang-Bewegung. S. 29.

[20] Ebd. S. 38.

[21] Vgl. Karthaus, Ulrich: Sturm und Drang. Epoche-Werke-Wirkung, München 2007. S. 15.

[22] Karthaus: Sturm und Drang. S. 183.

[23] Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 56.

[24] Vgl. Graefe, Anette: Das Suizidmotiv in der deutschsprachigen Literatur. Gestaltung und Funktion, Düsseldorf 2017. S. 319.

[25] Blessin: Goethe. S. 16.

[26] Irsigler, Ingo/Jürgensen, Christoph: Sturm und Drang. Göttingen 2010. S. 9.

[27] Vgl. Ebd. S. 23f.

[28] Graefe: Suizidmotiv. S. 326.

[29] Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 8.

[30] Vgl. Kaiser: Aufklärung. S. 178.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die Funktion der Tränen in Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther"
Hochschule
Universität Augsburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2017
Seiten
17
Katalognummer
V429781
ISBN (eBook)
9783668741287
ISBN (Buch)
9783668741294
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
funktion, tränen, goethes, roman, leiden, werthers
Arbeit zitieren
Lena Gabel (Autor:in), 2017, Die Funktion der Tränen in Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/429781

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