Der Un-Tote - Eine Untersuchung anhand von Bram Stokers Dracula und der gleichnamigen Verfilmung von Francis Ford Coppola


Trabajo de Seminario, 2000

51 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


INHALT

1) Einleitung

2) Die Macht des Blutes – Über die Wurzeln des Vampirglaubens

3) Die Entwicklung des literarischen Vampirs bis hin zu Bram Stokers Dracula

4) Die Erotik des Todes – Sexuelles Potential in Dracula

5) Männlich oder weiblich? – Zur Geschlechterproblematik in Dracula

6) Die Unsterblichkeit – Fluch oder Segen des Vampirs?

7) Resümee

8) Benutzte Sekundärliteratur

1) Einleitung

Der Glaube an ein Leben nach dem Tode ist vielen Kulturen und Religionen gemeinsam. Der Mensch kann und will sich seine Nicht-Existenz nicht vorstellen. Der Tod ist für ihn ein Mysterium. Niemand weiß genau, was mit uns geschieht, wenn wir sterben, denn keiner ist zurückgekehrt, um davon zu berichten. Diese Ungewissheit ist beängstigend. Wieviel tröstlicher erscheint da die Erklärung, dass der Tod nicht nur unsere hiesige Existenz beendet, sondern gleichzeitig den Übergang in eine neue, andersartige Seinsform markiert. Und wie schön wäre es, könnte man diesen tiefen Einschnitt in das menschliche Leben schließlich ganz und gar umgehen, dem Tod ein Schnippchen schlagen und einfach ewig leben. Der Wunsch nach Unsterblichkeit ist verständlich, bekommt aber vor dem Hintergrund vieler Religionen geradezu ketzerische Züge und erscheint somit verwerflich. Dieses Verlangen, ebenso wie andere unterdrückte Sehnsüchte und der Glaube an die mystischen Kräfte des Blutes, vereinen sich in der Gestalt des Vampirs.

Ich möchte in meiner Arbeit zunächst die Entstehung des Vampir-Mythos aufzeigen und wie sich dieser Aberglaube, der sich durchaus auf logische Folgerungen aus der Lebenswirklichkeit unserer Vorfahren stützte, schließlich zu einer wahren Epidemie verselbständigte.

Das Betätigungsfeld des Blutsaugers wandelte sich jedoch endlich von der ärmlichen Bauernkate zur Literatur und der zombiehafte Untote aus dem Volksmärchen wurde zum Edelvampir des romantischen Romans und der „Gothic Literature“. Graf Dracula ist wohl der bekannteste Vertreter dieser Gattung und dass Bram Stoker mit seinem Werk und der Schöpfung dieses Erz-Schurken mehr gelungen ist als nur ein Schauerroman, wurde bereits von den Kritiker mehrer Jahrzehnte anerkannt und bestätigt.

Stoker benutzt in seinem Roman das Bild des Vampirs, um dem viktorianischen Publikum auf angemessen verschlüsselte Weise eine ganze Reihe anderer Themen nahe zu bringen. So lassen sich in seinem Roman, neben einem ausgeprägten sexuellen Potenzial auch die Anschauungen des Autors (und der viktorianischen Gesellschaft) zur Geschlechter- und Rollen-Problematik ablesen. Ebenso wie natürlich die Frage nach der Fluch oder Heil bringenden Unsterblichkeit. Stokers Roman verfehlt selbst heute, 103 Jahre nach seiner Veröffentlichung, nicht seine Wirkung, und der charismatische Bösewicht Dracula wurde verständlicherweise auch für ein anderes Medium entdeckt: den Film.

Ich werde in dieser Arbeit, neben Stokers Roman, auch die Verfilmung von Francis Ford Coppola (1992) zu Vergleichen heranziehen. Coppola hat sich im Wesentlichen an die Handlung des Romans gehalten, jedoch seine Hauptfiguren Mina und den Grafen in eine Art „Die Schöne und das Biest“-Liebesbeziehung zueinander gesetzt, die der Geschichte etwas andere Schwerpunkte und Akzente verleiht. Vor allem Stokers Konzeption des männlichen Vampirs wird dadurch, wie wir später sehen werden, unterwandert.

Meine Recherchen zu dieser Arbeit stützen sich hauptsächlich auf die beiden Werke von Leatherdale und das Buch von Borrmann. Vor allem die erstaunliche Entstehung des Vampir-Mythos und die Auswirkungen des Aberglaubens und der damit verbundenen Riten bis in unsere Gegenwart sind bei Leatherdale ausführlich beschrieben. Borrmann beschäftigt sich in seinem Werk eingehend mit dem Tabu-Thema Tod und der Unsterblichkeit des Vampirs, reißt aber auch alle anderen mit dem Vampirismus in Verbindung stehenden Themen an. Vor allem finden sich hier auch Fakten zu den „lebenden Vampiren“, den Fällen von pathologischem Blutfetischismus aus der Medizin, auf die näher einzugehen jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Zur Untersuchung des erotischen Potentials in Dracula und der damit einhergehenden Bewertung der Geschlechterrollen im Viktorianismus habe ich auf die Arbeiten von Byron, Pütz und Flocke zurückgegriffen. Hierbei ist zu beachten, dass sich Pütz und Flocke nur unter anderem mit Dracula beschäftigen, während Byron die Arbeiten verschiedener Kritiker von Stokers Roman zusammengetragen hat. Vor allem die Essays von Phyllis A. Roth, Elisabeth Bronfen und Christopher Craft waren für meine Arbeit von Interesse.

2) Die Macht des Blutes – Über die Wurzeln des Vampirglaubens

Die Angst vor Blut ist ein typischer menschlicher Charakterzug. Keine andere Körperflüssigkeit hat solche Macht. Man kann Tränen oder Samen vergießen soviel man will, aber verliert jemand zuviel Blut, dann stirbt er. Diese biologische Bedeutung des Blutes wurde schon in den frühesten menschlichen Gemeinschaften erkannt. Der Anblick von vergossenem Blut wurde damit zum Anblick des Todes selbst.

Auf die Erkenntnis, dass Blut lebenswichtig ist folgte die Annahme, dass es das Leben selbst und die Herberge der Seele verkörpert. So wurde das „Elixier des Lebens“ durch einen einfachen Umkehrschluss zum Objekt von Magie, Mystik und später der Medizin: Wenn Blutverlust Schwäche und Tod bedeutet, dann führt die Zufuhr von Blut sicher zu Stärkung, Verjüngung und neuem Leben. Oder wie Clive Leatherdale es ausdrückt: „If blood was life, then absorbing blood was absorbing life – and soul.“ (Dracula. 16)

Wir kennen die mystische und zeremonielle Funktion des Blutes aus Überlieferungen von religiösen Riten, wie dem Besprengen der Felder mit Blut für eine gute und fruchtbare Ernte oder dem Kriegsbrauch, das Blut des erschlagenen Feindes zu trinken, um sich seine Kräfte einzuverleiben. Auch viele kannibalische Zeremonien, wie zum Beispiel der Verzehr verstorbener Verwandter bei den Tapuyas, um ihren Geist in sich aufzunehmen und fortleben zu lassen, rühren von den gleichen Annahmen her.1 Ebenso kennen wir heute noch das zeremonielle Mischen von Blut bei der Blutsbruderschaft, wo durch die Einheit des Blutes auch die Einheit der Seele erreicht werden soll. Bluttransfusionen als medizinisches Heilmittel sind schon seit der Antike bekannt und der Aderlass, der sich aus dem Glauben entwickelte, Krankheiten resultierten aus einem sündigen Leben und die Seele könne durch das Abzapfen des verdorbenen Blutes gereinigt werden, wurde bis ins 20. Jahrhundert in der Medizin angewandt.

Die Beschäftigung des Menschen mit der mystischen Kraft des Blutes war der erste Schritt auf dem Weg zum Vampir-Aberglauben. Der Zweite war der Tod. Er ist unbestechlich, unwiderruflich, man kann ihm nicht entgehen. Und er ist geheimnisvoll. Wenn ein Mensch stirbt, bleibt ein lebloser Körper übrig. Aber was geschieht mit dem, was diese nun scheinbar leere Hülle vorher animiert hat? Wohin geht die Seele?

Die meisten Völker griffen zur Beantwortung dieser Frage auf die bereits eingangs erwähnte Erklärung zurück: Der Geist der Toten lebt weiter im Jenseits. Es muss noch eine andere Welt geben, wo das Leben in anderer Form weitergeht. Diese auf den ersten Blick beruhigende Aussicht barg aber eine Quelle der Unsicherheit. Ging man nämlich davon aus, dass jedem dieses Leben nach dem Tod zuteil wird, dann musste die Bevölkerung jener fernen Anderswelt die Anzahl der Bewohner in der hiesigen Welt schon um einiges übersteigen. Die Lebenden schienen demnach gut beraten, wenn sie den Toten keinen Grund zu Unmut gaben.

Man erfand also komplizierte Rituale, um mit den Bewohnern des Jenseits zu kommunizieren und ihre Zufriedenheit sicherzustellen. Bei diesen Ritualen kam dem Blut eine zentrale Funktion zu, denn da es für jede Lebensform unverzichtbar schien, nahm man an, dass die Geister es auch brauchten. Da sie aber ihren Körper als Quelle in dieser Welt zurückgelassen hatten, lag es an den Lebenden, dafür zu sorgen, dass sie es bekamen. Hier zeichnen sich laut Leatherdale bereits die Charakterzüge des Vampirismus ab: „The common belief that the dead can sustain life by imbibing the blood of the living is itself an expression of the vampiric process.“ (The Origins of Dracula. 49)

Während das freiwillige Blutopfer für die Geister als gut und richtig erschien, erweckte der Gedanke daran es unwillentlich und unkontrolliert durch Aktivitäten seitens des Geistes zu verlieren Angst und Hysterie. Die menschliche Phantasie war durchaus in der Lage, auch in diese Richtung weiterzudenken und alle möglichen blutsaugenden Dämonen zu erfinden.

Außerdem fällt es den Lebenden schwer, sich den Tod als Zustand der Empfindungslosigkeit vorzustellen. Die Hinterbliebenen projizieren in den Verstorbenen die gleichen Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle, die die Lebenden haben. „The living do not forget the dead: nor, therefore, can the dead forget the living.“ (Leatherdale. Dracula. 21) Man stellte sich also vor, dass die Verstorbenen sich genötigt fühlen würden zurückzukehren, sei es aus Liebe, Hass, Schuldgefühlen, Rachedurst oder sonstigen Gründen.

Zwar versuchte man durch bestimmte Beerdigungsriten entweder dafür Sorge zu tragen, dass es dem Verstorbenen im Grab an nichts mangelte (so zum Beispiel durch verschiedene Grabbeigaben) oder den potentiellen Wiedergänger zu entmutigen (zum Beispiel dadurch, dass man den Sarg mit Steinen, Scherben und Kohlen bewarf), aber absolute Sicherheit versprachen diese Maßnahmen nicht. Auch unsere schwarzen Trauergewänder lassen sich auf diesen Ursprung zurückführen. Denn in früherer Zeit schwärzten sich unsere primitiven Vorfahren beim Tod eines Verwandten am ganzen Körper mit einem Gemisch aus Ruß und Talg, damit der Verstorbene sie nicht erkennt und zurück in den Schoß der Familie will. Manche Völker, wie zum Beispiel die Finnen und die Walachen, nagelten ihre Toten in den Särgen fest, während es bei den Arabern Brauch war ihnen die Beine zusammenzubinden oder wie bei den Indianern Kaliforniens das Rückgrat zu brechen, um dem Toten das Aufstehen und Gehen unmöglich zu machen. Die Isländer pflegten das Grab eines unruhigen Geistes zu öffnen, dem Toten den Kopf abzutrennen und den Körper darauf zu setzen, um den Störenfried auf diese Weise ausreichend zu verwirren.2 Die Beispiele sind zahllos und in vielen der Bräuche wird bereits der Grundstein für die rituelle Austreibung des Vampirs gelegt.

Der europäische Vampir wird besonders mit verlorener Liebe assoziiert. Die Trennung zweier Liebender, von Mann und Frau oder Mutter und Kind durch den Tod galt als der Hauptgrund für eine Rückkehr des Verstorbenen. Daraus ergeben sich bereits drei wichtige Konsequenzen: 1. Vampirismus beinhaltet meist einen sexuellen Aspekt. 2. Die am meisten gefährdeten Personen stammen aus der eigenen Familie. 3. Der Vampir ruft bei seinem Opfer widerstreitende Gefühle hervor: einerseits Anziehung, bzw. Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit dem Geliebten, andererseits Abscheu und Angst vor dem Kontakt mit dem Toten. Denn der Vampir sucht nicht die Wiedervereinigung mit den Lebenden, sondern nimmt diese mit sich in den Tod.

Der europäische Vampir ist auch nicht länger ein astrales Geisterwesen, sondern er besteht aus Fleisch und Blut. Er ist ein animierter toter Körper. Da er seinen Körper noch braucht, kann dieser nach dem Tod nicht in Verwesung übergehen. Der physische Tod ist zwar eingetreten, nicht aber die normalerweise damit einhergehenden Folgen, nämlich die körperliche Zersetzung. Der Vampir führt also eine Art Zwischenexistenz. Er ist nicht tot und nicht lebendig, er ist „’in between’. It is both; it is neither. […] The body dies in the natural sense, but is resurrected as a risen dead. Demonic spirits reanimate it, and it lives a twilight existence of its own beyond the land of the living but not yet in the land of the dead: living in death.” (Leatherdale. Dracula. 22) Da der Vampir einen realen Körper hat, braucht er natürlich auch echtes Blut.

Der Glaube an die verjüngende Kraft des Blutes und ein Leben nach dem Tod war nahezu universell, deshalb ist auch ihr Produkt überall zuhause. Legenden von Toten, die aus dem Grab zurückkehren, um das Blut der Lebenden zu trinken gibt es in fast jeder Kultur von der wir Zeugnisse haben.3 Der Vampir der Legenden aus Zentral- und Ost-Europa, der vom 15. Jahrhundert an dokumentiert ist, setzt sich aus all diesen Charakteristika zusammen. Der Name selbst stammt von dem ungarischen Wort „vampir“ und den slawischen Abwandlungen „vapir“ in Bulgarien und „upuir“ in Russland. Die Etymologie ist verworren, kann aber ungefähr auf die Bedeutungen „Blutsauger“ oder „berauscht von Blut“ zurückverfolgt werden.

Den Menschen in Europa bereitete es wenig Probleme an die Existenz von Vampiren zu glauben, denn sie hatten bereits ein erwiesenes Beispiel für einen Menschen, der gestorben, begraben und schließlich, ausgestattet mit besonderen Kräften, wieder auferstanden war, um unter den Lebenden zu wandeln: Jesus Christus. Und hatte er nicht die Auferstehung der Toten und ewiges Leben versprochen? Unter dieser Prämisse bekommen selbst die christlichen Begräbnisworte „Ruhe in Frieden“ eine ganz neue Bedeutung.

Die Bibel selbst trug eine Menge zur Popularität des Vampir-Aberglaubens im Mittelalter bei, denn sie dokumentiert nicht nur Christus’ Wiederauferstehung von den Toten, sondern beschäftigt sich sowohl im Alten als auch im Neuen Testament mit der Macht des Blutes. Im Alten Testament ist das Blut Ausdruck von Gewalt und Tod, wie zum Beispiel in der Geschichte von Kain und Abel. Auch der Ausdruck „Das Blut ist das Leben“, der in Dracula öfter zitiert wird, stammt hierher. Das Abendmahl und damit verbunden die Worte Jesu aus dem neuen Testament, die den Gläubigen dazu auffordern das Blut Christi zur Absolution ihrer Sünden zu trinken, schüren ebenfalls eindeutig den Glauben an die regenerativen Kräfte des Blutes:

„Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken. Denn mein Fleisch ist die wahre Speise und mein Blut ist der wahre Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.“ (Johannes 6, Vers 54-56)

Die allseits beliebten Heiligengeschichten und vor allem der Marienkult taten ein Übriges, um den Volksglauben an die mystischen Kräfte des Blutes zu stärken. So führte die Marienverehrung beispielsweise dazu, dass das Blut unschuldiger Jungfrauen im Mittelalter als landläufiges Heilmittel für fast jede Krankheit gehandelt wurde.4

Vor allem in Zentral- und Ost-Europa wurde dem Vampir durch die Auseinandersetzung zwischen westlicher und östlicher Kirche und den Kampf gegen den Islam zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert ein fruchtbarer Boden bereitet. Die römisch-katholische und die griechisch-orthodoxe Kirche kämpften gegeneinander um die Gläubigen, und das sicherste Mittel die Menschen für sich zu gewinnen war natürlich, ihnen Angst zu machen. Beide „Säulen des Christentums“ zogen ihren Nutzen aus Leichtgläubigkeit, mangelnder Bildung und der Neigung des Volkes zur Hysterie. Die Kirche legte zunächst den Grundstein für die Bedrohung durch den Vampir (womit die Existenz dieses Monstrums offiziell bestätigt wurde) und erhob dann Anspruch auf das Monopol zur Vernichtung der Bestie.

Auf Seiten der römisch-katholischen Kirche geschah dies durch das von Papst Innozenz VIII in Auftrag gegebene Malleus Maleficarum, „one of the most notorious publications ever to receive the papal seal [...]“. (Leatherdale. Dracula. 26) Dieses Werk wurde in den Jahren um 1490 zusammengestellt und enthielt genaue Anweisungen und Rezepte zur Untersuchung der Aktivitäten von Hexen, Incubi und Succubi, Werwölfen und Vampiren. Für die nächsten zwei Jahrhunderte war das Malleus Maleficarum die ultimative Autorität im Kampf gegen den Satan, obwohl es heute schwierig ist von katholischer Seite die Bestätigung zu bekommen, dass es überhaupt existiert.5

Aus der Verschmelzung des heidnisch-abergläubischen Ursprungs der Vampir-Legenden mit den christlichen Kategorien für die Untoten entstand eine neue Form dieser Schreckgestalt. Nach vor-mittelalterlichen Kriterien wurde man unschuldig zum Vampir. Dieses Schicksal konnte jeden treffen. Zwar gab es Umstände, die unweigerlich zur Verwandlung in einen Untoten führen würden, aber man konnte diese nicht unbedingt beeinflussen. So galten beispielsweise Ertrunkene oder Opfer eines gewaltsamen Todes als sichere Kandidaten für eine vampirische Wiedergeburt. Vampirismus war aber auch erblich oder konnte durch Flüche, den bösen Blick oder den Verzehr von Schafen, die durch Wölfe gerissen worden waren, hervorgerufen werden. Wer zu Lebzeiten ein Werwolf gewesen war, verwandelte sich nach dem Tod ebenso sicher in einen Vampir wie jemand, dessen Mutter es während der Schwangerschaft versäumt hatte ihr Essen ausreichend zu salzen. Die Kriterien waren zahlreich und regional verschieden. Auf jeden Fall waren immer die Menschen verdächtig, die in irgendeiner Weise anders waren als der Rest. Sei es durch körperliche oder geistige Deformation, Krankheit oder einfach dadurch, dass jemand in einer Gegend, wo braune Augen vorherrschten blaue Augen hatte.

Durch den Einfluss der Kirche kamen im Mittelalter eine Reihe von Vergehen und religiösen Verstößen hinzu, die zu einem zweiten Leben als Vampir führen würden. Hierzu gehörten zum Beispiel Mord, Diebstahl, Kontakt mit schwarzer Magie und Meineid. Aber das Hauptaugenmerk lag auf dem Schicksal jener, die exkommuniziert worden waren. Die Exkommunikation war die stärkste Waffe der Kirchen im Kampf um die Gläubigen und es wurde fleißig Gebrauch von ihr gemacht. Sie beraubte den sündigen Menschen seiner einzigen Hoffnung auf Heil und Gnade und verdammte ihn über den Tod hinaus. Denn ohne die Vergebung der Sünden und ein ordentliches Begräbnis wurde der Schutz Gottes von dem Verstorbenen genommen und er war damit ein offenes Gefäß für den Satan und seine Dämonen, die ihn als einen der ihren wiederbeleben würden. Die Kirchen trugen Sorge dafür jedem, der nicht mit ihren Wünschen konform ging klar zu machen: „the devil could, and would, gain admittance to those who had been deprived of christ’s protection and resurrect them as undead.“ (Leatherdale. Dracula. 28)

Die griechisch-orthodoxe Kirche fügte ihrer Macht über die Seele auch noch die körperliche hinzu indem sie proklamierte, dass die Körper von exkommunizierten Verstorbenen in ihren Gräbern nicht verwesen würden, weil der Teufel sie für den späteren Gebrauch intakt hielte. Während diese Erörterungen zwar einerseits zur Erklärung von lokalem Aberglauben auf der Folie des christlichen Glaubens dienten und die Kirche sich somit erfolgreich den heidnischen Glauben einverleibte, geriet sie andererseits immer wieder mit sich selbst in Konflikt. In diesem Fall dadurch, dass die lateinische Tradition die Nicht-Verwesung toter Körper als eindeutiges Zeichen von Heiligkeit interpretierte. Die griechisch-orthodoxe Erklärung dieses Zustandes durch weltliche Sünden und ewige Verdammnis sorgte deshalb für einige Verwirrung in beiden Kirchen.

Schließlich lösten die griechisch-orthodoxen Prediger das Problem jedoch durch die Einführung kosmetischer Feinheiten: Während die toten Körper der Heiligen sich durch einen reinen Teint und zarten Duft auszeichnen, erkennt man die Verdammten sofort an ihrem schwarzen Fleisch, den aufgedunsenen Körpern und teuflischen Gesichtszügen. Eine Unterscheidung, die sich übrigens als rein hypothetisch erwies, da die meisten Körper von Exkommunizierten, die exhumiert wurden, nicht schwarz, aufgedunsen und teuflisch waren, sondern sich schlichtweg in Verwesung aufgelöst hatten.6

Wie aber sah er nun aus, der Vampir des Mittelalters? Da die Wurzeln der Untoten aus den ärmeren und weniger gebildeten Gesellschaftsschichten stammen, reflektieren ihr Aussehen und Gebaren im Großen und Ganzen diesen sozialen Hintergrund. Sie werden beschrieben als hager, hohläugig und mit verschorften Wunden an Armen und Beinen. Ihre Haut ist trocken und von außerordentlicher Blässe, außer nach dem Genuss von Blut, wenn ihr Gesicht frisch und rosig erscheint und der Mund noch blutbefleckt ist. Die Augen glühen rot und da ihre Lebensfunktionen nicht gestoppt wurden sind die Nägel lang und gebogen und die Haare wild und verfilzt. Die Lippen erscheinen rot und blasig und können unbewusst zurückgezogen sein, so dass man das strahlend weiße Gebiss mit den verlängerten Eckzähnen sieht.

Ihr Blutdurst ist unstillbar und ihr ständiges Hecheln und Sabbern erinnert ebenso an einen Werwolf, wie die behaarten Handflächen. Der Vampir stinkt nach Exkrementen und unterdrückter Verwesung und trotz seiner ausgemergelten Erscheinung verfügt er über unmenschliche Kräfte und kann schneller laufen als der Wind.

Sein bester Schutz ist die Fähigkeit zur Transmutation. Er kann sich durch pure Willenskraft in einen Wolf, kleine Lichtpunkte oder Nebel verwandeln.

Die Assoziation mit der Vampirfledermaus ist übrigens ausschließlich Literatur und Film-Industrie zuzuschreiben, denn diese Spezies ist in Europa nicht heimisch, sondern wurde erst im 17. Jahrhundert in Süd-Amerika entdeckt.7

Wie die Meisten im Gefolge des Teufels ist der Vampir nachtaktiv und meidet die Sonne. Während ihn der Vollmond belebt und ihm sogar neue Energie zuführen kann, wirkt die Sonne, je nach lokalem Aberglauben, zerstörerisch oder nimmt dem Vampir doch zumindest bis Sonnenuntergang seine übernatürlichen Fähigkeiten.

Außerdem verfügt der Vampir über hypnotische Kräfte und Nachtsicht und hat Macht über Wölfe und andere nächtliche Kreaturen. Da sie eng mit dem Teufel assoziiert werden, können sich die Untoten nicht gewaltsam Eintritt in ein Haus verschaffen, sondern müssen ebenso wie er bewusst oder unbewusst eingeladen werden. Vampire haben auch kein Spiegelbild, was sich aus dem Volksglauben erklärt, dass Reflexionen in Spiegeln oder Wasserflächen die Seele einer Person zeigen. Und der folkloristische Vampir hat, so wie alle bösen Geister, keine Seele.

Durch die Kirche wurde die sexuelle Komponente im Vampirismus besonders betont, denn unerwünschte Unsterblichkeit statt Seelenfrieden galt als rechtmäßige Strafe für die Unmoralischen und Unzüchtigen. Auch die physische Erscheinung des Vampirs – blass, mager, haarig und übelriechend – entspricht genau dem Bild der Kirche von einer promiskuitiven Person. Auch die Tatsache, dass die Vampirattacken nachts stattfinden und das Opfer meist der/die Geliebte oder Ehepartner ist, gibt der Sache einen sexuellen, um nicht zu sagen, nekrophilen Anstrich. Ebenso wie die Vorliebe des Vampirs seinem Opfer das Blut am Hals abzusaugen, an die sado-sexuelle Praktik des Liebesbisses erinnert.

Ist der Vampir erst einmal als solcher identifiziert, gilt es verschiedene Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Vorbeugend waren bereits die Bestattungsriten, von denen ich schon einige erwähnte. Neben verschiedenen Möglichkeiten, den Vampir auf dem Weg zu seiner Beute in die Irre zu führen, denen stets die Annahme zugrunde lag, dass der Untote nur mäßig intelligent ist, gab es eine Menge „homöopatische Mittel“ gegen böse Geister. Der Knoblauch ist uns davon bis heute erhalten geblieben. Seine Qualität, ebenso wie die von Zwiebeln und anderen Pflanzen, liegt in seinem unangenehmen Geruch, da man glaubte, dass Dämonen keinen stechenden Geruch ertragen können, außer ihren eigenen. Ferner galt jedes Symbol von Reinheit oder Heiligkeit als sicheres Abwehrmittel, wie zum Beispiel die Farbe weiß, fließendes Wasser, Salz und Silber. Nachdem die Kirche ihr Interesse an den Untoten bekundet hatte, wurden auch alle christlichen Symbole im Kampf gegen das Böse eingesetzt, aber als effektivste Versicherung gegen die Untoten postulierte man ein frommes und gottesfürchtiges Leben.

Das Aufspüren und Vernichten eines Vampirs verlangte komplizierte Rituale und Zeremonien, denn man konnte einen Vampir nicht töten: er war bereits tot.8 Die heidnischen Rituale zur Zerstörung eines Vampirs waren lokal sehr verschieden. Während das Monster nach christlicher Tradition natürlich nur von der Kirche ausgetrieben werden konnte. Dazu brauchte es zunächst einmal einen erfahrenen Priester, denn der kennt sich mit der Natur des Bösen aus und verkörpert gleichzeitig die Macht Gottes gegenüber Satan. Drei Möglichkeiten standen dem Exorzisten zur Austreibung Untoter zur Verfügung: Pfählen, Verbrennung und Enthauptung.

Das Pfählen mit einem angespitzten Pfahl aus heiligem Holz (man verwendete das Holz, aus dem nach lokalem Glauben das Kreuz gefertigt gewesen war) sollte möglichst mit einem einzigen Schlag vonstatten gehen. Es diente nämlich ursprünglich nicht zur Tötung des Vampirs, wie wir es aus der Literatur kennen, sondern sollte ihn wehrlos und immobil machen, indem man ihn im Sarg festnagelte. Deshalb war es auch nötig, dies mit einem Schlag zu tun, weil der Vampir von den wiederholten Versuchen den Pfahl durch seinen Körper zu treiben geweckt werden könnte und dann in der Lage wäre sich zu befreien. War der Vampir schon mehrere Jahre lang tot, löste er sich durch das Pfählen zu Staub auf. Wenn nicht, musste man ihn dadurch vernichten, dass man seinen Körper, der ja für seine Existenz unerlässlich war, zerstörte. Dies geschah durch die anschließende Enthauptung oder Verbrennung.

Die Verbrennung galt zwar als die sicherste Variante, stand aber in Konflikt mit der christlichen Lehre, da sie an heidnische Praktiken erinnerte. Die Enthauptung erwies sich deshalb als die bevorzugte Methode. Hierbei wurde der Kopf des Vampirs nicht etwa mit einem scharfen Werkzeug vom Rumpf getrennt, sondern mit dem Spaten des Küsters. Der Körper wurde dann in Stücke gehackt, ein Tribut an frühere Zeiten, als Kriminelle oder politische Störenfriede auf diese Weise bestraft wurden.

Neben den bereits angeführten Umständen und Annahmen, die zur Entstehung und Verbreitung des Vampiraberglaubens führten und die für den modernen Menschen immer noch recht weit hergeholt erscheinen mögen, gab es noch einen weltlicheren und weitaus unmittelbareren Grund für den Glauben an die Existenz von Vampiren: die Schwierigkeiten den Tod zu diagnostizieren. Selbst heute, auf dem hohen medizinischen Entwicklungsstand unserer Gesellschaft, streitet man sich noch über den genauen Zeitpunkt, zu dem ein Mensch für tot erklärt werden kann oder muss. In Zeiten, in denen das medizinische Wissen noch weniger entwickelt war, wurden die Leute tragischerweise häufig zu früh für tot gehalten.

Vor allem in Zeiten von Seuchen und Hungersnöten war man mit dem Tod schnell bei der Hand. Der einzige unwiderlegbare Beweis für das Ableben war die Verwesung des Körpers. Allerdings war es schon aus hygienischen Gründen nicht ratsam so lange mit der Beerdigung zu warten. (Hier ergibt sich auch wieder die Rechtfertigung für den Umkehrschluss, dass nicht verwesende Körper als Zeichen von Untoten zu werten sind.) Durch die Schwierigkeiten bei der Diagnose des Todes wurden über Jahrzehnte hinweg Menschen lebendig begraben. Manche erlangten ihr Bewusstsein im Grab gar nicht erst wieder, andere erstickten oder verhungerten in ihren Särgen. Aber manchen gelang auch die Flucht aus ihrem unterirdischen Gefängnis, da die Särge meist hastig zusammengezimmert und nicht besonders stabil waren und die Gräber dicht unter der Oberfläche lagen. Diese Opfer einer verfrühten Beerdigung schürten erst recht den Aberglauben:

„Needless to say, any dishevelled, hysterical, bloodstained, mud-smeared, white-shrouded figure that did somehow escape from ist grave would have tried to seek out ist relatives, inducing panic in anyone it encountered, and ending up unleashing a vampire mania.“ (Leatherdale. Dracula. 41)

Da die toten Körper nicht tief vergraben wurden, konnte man sie auch leicht wieder ausgraben und das geschah nicht nur, um vermeintliche Vampire auszutreiben. Der jahrhundertealte Brauch persönliche Gegenstände mit ins Grab zu nehmen, ließ eine ganze Zunft von Grabräubern entstehen, die entweder hinter den Grabbeigaben her waren oder hinter der Leiche selbst. Für manche Anatomie-Schulen war dies die einzige Möglichkeit zur Deckung ihres Bedarfs an Studienobjekten. Jedenfalls wurde jedes leere oder geöffnete Grab als eindeutiger Beweis vampirischer Aktivität betrachtet. Schließlich hatte der ehemalige Insasse sein Grab offensichtlich verlassen und war bisher auch nicht zurückgekehrt oder er verriet sich durch die unnatürliche Pose in der er vorgefunden wurde. Daran, dass der Tote von Grabräubern auf der Suche nach Beute bewegt worden sein könnte oder sich möglicherweise selbst als Opfer einer verfrühten Beerdigung zu befreien versucht hatte, dachte niemand.

[...]


1 vgl. Leatherdale. The Origins of Dracula. S.49

2 vgl. Leatherdale. The Origins of Dracula. S.35f.

3 vgl. Leatherdale. The Origins of Dracula. S.14

4 vgl. Leatherdale. Dracula. The Novel and the Legend. S.25

5 vgl. Leatherdale. Dracula. The Novel and the Legend. S.26

6 vgl. Leatherdale. Dracula. The Novel and the Legend. S.29

7 vgl. Leatherdale. Dracula. The Novel and the Legend. S. 32

8 vgl. Leatherdale. The Novel and the Legend. S.37

Final del extracto de 51 páginas

Detalles

Título
Der Un-Tote - Eine Untersuchung anhand von Bram Stokers Dracula und der gleichnamigen Verfilmung von Francis Ford Coppola
Universidad
University of Siegen  (Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften)
Curso
Seminar: Tod in Literatur, Kunst und Kultur I+II
Calificación
1,0
Autor
Año
2000
Páginas
51
No. de catálogo
V4318
ISBN (Ebook)
9783638126809
ISBN (Libro)
9783656202516
Tamaño de fichero
570 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Tod, Unsterblichkeit, Vampir, Vampirismus, Dracula, Bram Stoker, Untote
Citar trabajo
Tanja Hamann (Autor), 2000, Der Un-Tote - Eine Untersuchung anhand von Bram Stokers Dracula und der gleichnamigen Verfilmung von Francis Ford Coppola, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4318

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