Die Bedeutung des Hautleisten- und Furchensystems der Palmae für die Diagnose des Silver-Russell-Syndroms


Diplomarbeit, 1998

303 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Abstract Diploma Thesis

The Relevance of the epidermal ridges of the plamae for the diagnosis of the Silver-Russel-Syndrom

Silver-Russell syndrome is a congenital disorder characterized by severe intrauterine and postnatal growth retardation, dysmorphic facial features and body asymmetry.

None of the SRS-characteristic criteria is typical for every patient and no patient as all specific criterion. Furthermore none of the typical symptoms is exclusively associated with Silver-Russell-Syndrome. On top of that no explicit aetiology has been verified yet.

These special circumstance create an extraordinary problematic situation for both affected and scientists. Considering the results of former studies dealing with that item the epidermal ridge diagnosis could be a helpful instrument to identify the syndrome in affected persons. Certain epidermal ridge patterns are supposed to occur significantly more often in the patients group than in the average population. A syndrome-specific combination of patterns is postulated.

This was the reason why this diploma thesis was made about the meaning of the epidermal ridge diagnosis in the Silver-Russel-Syndrome diagnostics. Hand prints of SRS-patients were compared to a representative control sample of healthy people. This work is also taking the hand prints of the patients parents into consideration.

The epidermal ridge system is highly correlated to prenatal development disorders due to its distinctive ontogenesis. If the prenatal maturation of a foetus is influenced by negative circumstances the epidermal ridge system could be altered in several typical ways. Knowing this could be helpful for the dermatoglyphic diagnosis.

SRS-subjects could be clearly detached from healthy subjects following the data ascertainment of this study. Also the subjects parents differ in their results from the comparison group. Nevertheless it has to be pointed out that parents and patients don’t belong to the same group. Parents parameter values are quasi in the middle between both groups. This fact is a strong hint that the parents exhibit already a genetic pre-disposition that cumulates in their children.

Die Bedeutung des Hautleisten- und Furchensystems der Palmae für die Diagnose des Silver-Russell-Syndroms

Diplomarbeit

vorgelegt von

Alexandra Halschka

Humanbiologisches Institut der Universität Hamburg

Hamburg 1998

1 Einleitung

Die Symptome des heute als SILVER-RUSSELL-Syndrom (SRS) bekannten Merkmalskomplexes wurden 1953 erstmalig von dem amerikanischen Kinderarzt Henry K. SILVER beschrieben. Ein Jahr später veröffentlichte sein britischer Kollege A. RUSSELL einen Artikel in dem Patienten mit ähnlichen Symptomen beschrieben wurden. Im Laufe der Zeit setzte sich die Ansicht durch, dass es sich bei den beschriebenen Fällen um ein und dieselbe Krankheit handelte. Beim SRS werden Haupt- und fakultative Diagnosemerkmale unterschieden.

Als eines der herausragendsten Merkmale kann zweifellos ein niedriges Ge­burtsgewicht bei termingerechter Geburt und im weiteren Verlauf weiter beste­hender Kleinwuchs bezeichnet werden.

Keines der im Rahmen dieser Arbeit noch ausführlich zu beschreibenden Merk­male, tritt bei jedem Patienten auf und kein Patient trägt alle möglichen Merkmale. Ebenso kommt keines der typischen Symptome nur beim SRS vor. Mit anderen Worten es gibt keinen diagnostischen Marker für das SILVER-RUSSELL-Syndrom. Auch konnte bislang keine einheitliche Ätiologie des Syndroms verifiziert werden.

Diese Umstände stellen von dieser Krankheit Betroffene und damit befaßte Wis­senschaftler vor eine besondere Problematik. Die Hautleistendiagnostik könnte nach in der Vergangenheit erhobenen Befunden (JAKOB 1994) einen Beitrag zur Diagnosefindung bei Verdacht auf SRS darstellen. Man nimmt an, dass beim SILVER-RUSSELL-Syndrom bestimmt Hautleistenmuster häufiger vorkommen als in der Durchschnittsbevölkerung. Und zwar in Form einer syndromspezifischen, charakteristischen Musterkombination.

Aus diesem Grunde wurde diese Diplomarbeit zum Thema der Bedeutung des Hautleisten- und Furchensystems beim SILVER-RUSSELL-Syndrom angefertigt. Es werden Handabdrücke von SILVER-RUSSELL-Patienten mit einer repräsentativen Stichprobe von Gesunden verglichen. In dieser Arbeit sollen auch Eltern und Geschwister der SRS-Patienten mit einbezogen werden.

Einleitend wird eine Einführung in das Hautleisten- und Furchensystem gegeben. Gefolgt von einer umfangreichen Charakterisierung des SILVER-RUSSELL-Syndroms.

1.1 Das Hautleisten- und Furchensystem beim Menschen

1.1.1 Einführung

Auf den Hand- und Fußinnenflächen kann man bei genauer Betrachtung ein Hautleisten- und Furchensystem entdecken.

Die ältesten Abdrücke von diesen Hautleisten, die man bis jetzt gefunden hat, sind auf etwa 30.000 Jahre alten Keramikresten eingebrannt. Hinweise, dass die Menschen sich mit diesen Hautzeichnungen beschäftigt haben finden sich schon im Alten Testament. Auch bei Homer und Vergil werden diese erwähnt. Später, ungefähr ab dem 7. Jahrhundert wurden Fingerabdrücke wichtig zur Identifizierung und als Unterschriftenersatz (sog. Fingersiegel) . Man hatte also schon damals erkannt, dass jeder Mensch individuelle Hautleistenmuster trägt. Unter anderem verfuhren so die Chinesen, Japaner, Inder, Indianer und Türken. In vielen Ländern wird auch heute noch bei Schreibunkundigen der rechte Zeigefingerabdruck als Unterzeichnung anerkannt.

Die erste wissenschaftliche Bearbeitung erfolgte im Jahre 1686 durch Marcellus Malpighius. Der Breslauer Physiologe und Pathologe Purkinje untersuchte die Hautleisten zum erstenmal systematisch. Von ihm stammt die Einteilung der Fingerbeerenmuster in neun Hauptgruppen, die im Großen und Ganzen auch heute noch angewandt wird.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Fingerabdrücke als Hilfsmittel in der Kriminologie entdeckt. Diese Anwendung ist auch heute den meisten Menschen geläufig. Ein Vetter Darwins, Sir Francis Galton arbeitete im Jahre 1888 Vorschläge für die Identifizierung von Personen anhand von Hautlinien aus. Ein Generalinspekteur der Polizei Kalkuttas griff Galtons Klassifizierungsschema zum ersten Mal auf, und daraus entwickelten sich die Formen der Registriermethode, wie sie noch heute üblich sind.

Diese Hautleistenysteme stellen einen individuellen Merkmalskomplex dar, der sich schon im dritten und vierten Monat der Schwangerschaft zu entwickeln beginnt und Ende des 7. Monats vollständig ausgeprägt ist. Diese schon vor der Geburt angelegten Musterkonfigurationen sind danach umwelt- und altersstabil. Das bedeutet die Hautleistenmuster, die Leistenanzahl und die Furchen verändern sich, abgesehen von groben Verletzungen, nicht mehr.

Die Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Muster sind so zahlreich, dass nur eine Chance von 1 zu 100 Milliarden besteht, dass die gleiche Musterkombination zweimal auftritt. Man kann also sagen, dass seit Beginn der Menschheit niemals das gleiche Hautleistenmuster noch einmal aufgetreten sein dürfte. Nicht einmal bei eineiigen Zwillingen kann man identische Muster finden.

Dennoch lassen sich aber gruppenspezifische Häufungen von bestimmten Mu­sterformen feststellen. Zum Beispiel werden auf den einzelnen Kontinenten manche Muster in unterschiedlicher Häufigkeit gefunden. Man erhofft sich Aufschlüsse über eventuelle Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Bevölkerungsgruppen, aus der Untersuchung von Isolaten auf Sumatra und Java oder von bestimmten Stämmen, wie z.B. den „Pygmäen“ (vgl. RODEWALD & ZANKL 1981).

1.1.2 Phylogenese des Hautleisten- und Furchensystems

Hautleisten und Furchen auf den Innenflächen von Händen und Füßen finden sich bei allen rezenten Primaten. Aber auch schon bei phylogenetisch primitiveren Säugetieren tritt diese Besonderheit auf. Z. B. bei vielen Arten der Marsupialia aber auch bei einigen Vertretern der Rodentia, Carnivora und Insectivora kann man Hautleisten und Furchen auf dem Volarintegument finden.

1969 verwies Dankmeyer auf eine positive Korrelation zwischen dem Ent­wicklungsgrad bzw. der Musterintensität der Hautleisten und dem Ausmaß, indem Hand und Fuß als Klammer- und Greiforgan genutzt wurden. Laut Schiemer (1971) kann man dieses Phänomen dadurch erklären, dass einer erhöhten Tastleistung eine Vermehrung der Nervenendversorgungen und somit eine Erhöhung der Leistenzahlen folgte. Aufgrund der geänderten Leistenzahlen änderten sich auch die Hautleistenmuster.

In der Palma der höheren Primaten kann man eine Abnahme der Musterintensität in der Reihenfolge Homo, Pan, Gorilla, Pongo feststellen. Diese Tatsache kann man dahingehend interpretieren, dass beim Menschen die Hände am stärksten als Tast- und Greiforgane eingesetzt wurden. In der Planta dagegen nimmt die Häufigkeit in der Reihenfolge Pongo, Pan, Gorilla, Homo ab (CUMMINS 1926).

Die Entwicklung der Hautleisten und Furchen steht in engem Zusammenhang mit den Ballen, die sich auf Händen und Füßen befinden. Es gibt ein Grundver­teilungsmuster dieser Ballen für alle Primaten, das aus elf Primärballen besteht (Abb.1).

Bei den Primaten entwickelten sich auch noch akzessorische Ballen an jeder Extremität. Ursprünglich dienten diese Tastballen als Laufballen und Stoßdämpfer. Phylogenetisch haben sich aus den unterschiedlichen Tastballen die Fingerbeeren, Hypothenar und Thenargebiete und die interdigitalen Hautpolster entwickelt. Eine phylogenetisch ursprünglichere Entwicklung als die Hautleisten stellen auch die zwischen den Ballen auftretenden Furchen da.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.1.3 Ontogenese des Hautleistensystems und der Beugefurchen

Während das Kind im Mutterleib heranreift gibt es für die Entwicklung der Hautleisten drei entscheidende Stadien:

a) Während der 6. bis 12. Schwangerschaftswoche entstehen die Fingerballen
b) Während des 3. bis 5. Monats werden Drüsenfalten gebildet; die Hautlei­stenmuster entstehen
c) Während dem 6. und 7. Monat wird die Oberfläche der Papillarleisten ausge­bildet

zu a) Fingerballenbildung

Die Mesenchymzellen des Gewebes der Handinnenflächen bilden Mucopolysac­carid-Protein-Komplexe. Diese Makromoleküle binden in verschiedenem Ausmaße Wasser. Dadurch wölben sich, abhängig vom Mucopolysaccarid-Protein-Gehalt, seinem Polymerisationsgrad und seiner qualitativen Zusammensetzung, die sogenannten embryonalen Ballen auf der Handfläche auf. Ihre Form hat Einfluß auf die Hautleistenausbildung. Die Ausprägung der Ballenwöllbung hängt vom Zusammenspiel von Gewebswasserdruck und Hautdicke ab. Durch bestimmte Störungen in der biochemischen Zusammensetzung des Gewebes können auch asymmetrische Ballen entstehen. Zusätzlich wirken auch mechanische Kräfte auf die Form der Ballen ein. Ab dem 4. Monat bilden sich die Ballen wieder etwas zurück.

zu b) Drüsenfaltenbildung

Auf den Handinnenflächen münden zahlreiche Schweißdrüsen nach außen. Un­terhalb dieser Drüsen, in der Haut, befinden sich die sogenannten Drüsenfalten. Sie bilden die Grundlage für den Verlauf und die Ausprägung der Hautleisten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2 Schema der Papillarleiste und der

Epidermis-Corium-Grenze (aus RODEWALD & ZANKL 1981; S. 11; nach Wendt, 1969)

Die Haut besteht aus mehreren Schichten. Das Corium (Lederhaut) und die Epidermis (Oberhaut) spielen bei der Drüsenfaltenbildung eine Rolle. Die Epidermis bildet Falten, die in das Corium eingebettet sind. Auf der Grundlage dieser Falten bilden sich später die Hautleisten auf der Oberfläche der

Epidermis.

Nach dem dieser Vorgang abgeschlossen ist, ca. um den 4. Embryonalmonat herum, sind die Hautleistenmuster fixiert. Sie werden durch genetische oder umweltbedingte Störungen nicht mehr verändert (DAR et al. 1971).

Nicht nur Form und Größe der Fingerballen und der Verlauf der Drüsenfalten haben Einfluß auf die Ausprägung der Hautleistenmuster, auch die darunterliegenden Phalangealknochen sind für diesen Prozeß von Bedeutung (RODEWALD & ZANKEL 1981).

Die Form und die Ausprägung der Fingerbeerenballen hat folgende Fingerbee­renmuster zur Folge:

- Ein Ballen mit hoher Wölbung, die an den Seiten abgegrenzt ist, hat die Ent­stehung eines Wirbels zur Folge.
- Ist hingegen die hohe Wölbung zur Seite hin abgeflacht, entsteht eine Schleife.
- Liegt keine ausgeprägte Wölbung vor, bildet sich ein Bogen (LOEFFLER 1969; SCHADE 1969)

zu c) Ausbildung der Oberfläche der Papillarleisten

Korrespondierend zu den oben beschriebenen Drüsenfalten bilden sich auf der Hautoberfläche die Haut- oder Papillarleisten. Sie sind von den Schweißdrüsen­gängen durchzogen. Die Schweißdrüsenöffnungen finden sich auf dem Kamm der Hautleisten. Ab dem 7. Fötalmonat öffnen sich die Schweißdrüsenöffnungen und sondern Drüsensektrete ab. So erhält das Hautleistensystem zwischen dem 6. und 7. Schwangerschaftsmonat sein charakteristisches Aussehen (RODEWALD & ZANKEL 1981).

Die Bildung der Beugefurchen beginnt zwischen dem zweiten und dritten Em­bryonalmonat schon vor der ersten Beugebewegung der Hand. Der Bereich der Beugefurchen nimmt nicht an der akzelerierten Zellproliferation (Ballenbildung) des umgebenden Gewebes teil. Unterhalb der Furchen finden sich keine dermalen Papillen, deshalb findet man in den Beugefurchen im Allgemeinen keine Hautleisten. Ganz selten finden sich dort Leistenbruchstücke. Bis zum sechsten Monat sind die Beugefurchen ausgereift. Das bedeutet, dass zum Beispiel die sogenannte Daumenfurche schon bei einem Embryo von 27 mm Länge vorhanden ist.

Es werden aber nicht alle Handfurchen gleichzeitig und in einem Stück gebildet. Zuerst werden einzelne Segmente sichtbar, die allmählich zusammenwachsen. Im Falle der Fünffingerfurche verschmelzen zwei, bei der Dreifingerfurche drei Segmente.

1.1.4 Das Hautleisten- und Furchensystem als Indikator für Störungen während der pränatalen Entwicklung

Wird die vorgeburtliche Entwicklung eines Kindes negativ beeinflußt, können die Dermatoglyphen auf verschiedene Weise verändert sein.

Die Form oder die Häufigkeit von Mustern können vom Bevölkerungsdurchschnitt abweichen. Die Papillarleisten weisen eventuell Strukturstörungen auf oder der axiale Triradius befindet sich in einer abweichenden Position. Ähnliches kann auch für die distalen Triradien gelten. Pathologische Einflüsse sind manchmal auch an einem abweichenden Verlauf der Hauptlinien, an abweichenden Ausprägungen der Haupt-, Neben- oder Sekundärfurchen der Palma zu erkennen. Im Vergleich zu Kontrollgruppen der Durchschnittsbevölkerung können die Leistenzahlen der Fingerbeerenmuster oder der Palma erhöht oder erniedrigt sein. Mit Hilfe logarithmischer Indizes kann man in diesen Fällen die Daten vergleichbar machen.

Folgendes Modell verdeutlicht den Zusammenhang zwischen pränatalen Störungen (s. Kap. 1.1.4.1) und der Indikatorfunktion des Hautleisten- und Furchensystems. Es wäre zum Beispiel ein Gendefekt denkbar, der zu einem veränderten Protein führt. Dieses veränderte Protein spielt eine Rolle in den verschiedensten Organen und Stoffwechselprozessen. Da es defekt ist, hat der betroffene Mensch unter verschiedenen Störungen zu leiden, die insgesamt zu einem Syndrom führen (z.B. SILVER-RUSSELL-Syndrom). Unter Umständen ist dieses Protein auch an der Regelung der Form der oben beschriebenen Fingerballen beteiligt. Die Fingerballen erhalten eine Form, die anders ist als bei gesunden Menschen. Die Hautleistenmuster sind, wie oben bereits erwähnt, von der Form der Fingerballen abhängig. Somit bekommen Menschen, die eine bestimmte Störung oder Krankheit haben eventuell, im Vergleich zu Gesunden, etwas veränderte Hautleistenmuster.

Wenn man Erkenntnisse über die häufigsten Veränderungen der Dermatoglyphen bei einer bestimmten Krankheit gewonnen hat, kann man Rückschlüsse ziehen zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft eine Störung vorgelegen hat. Es ist bekannt in welchem Zeitraum der Embryogenese sich welche Ausprägungen des Hautleisten- und Furchensystems entwickeln. Liegt bei einer bestimmten Ausprägung besonders häufig eine Veränderung vor, wird in diesem Zeitraum der Schwangerschaft ein negativer Einfluß vorliegen.

Um die Dermatoglyphik diagnostisch anwenden zu können, ist es notwendig Serien von Abdrücken (von jeweils homogenen Patientenkollektiven und repräsentativen Kontrollgruppen) miteinander zu vergleichen. Dadurch werden individuelle Extremwerte statistisch ausgeglichen und es entsteht ein signifikantes Musterprofil, das für eine bestimmte Gruppe repräsentativ ist.

1.1.4.1 Pränatale Störungen und ihr Einfluß auf das Hautleistensystem

Nach RODEWALD & ZANKL (1981) kann man die Faktoren, die zur Störung der Embryogenese führen können in vier verschiedene Gruppen einteilen:

1.1.4.1.1 Monogene Krankheiten

Eine Krankheit wird durch ein defektes Gen verursacht. Nach dem in Kap. 1.1.4. beschriebenen Mechanismus kann sich dieser Gendefekt aufgrund seiner pleiotropen Genwirkung auch auf die Hautleisten- und Furchenmuster auswirken. Auf diese Weise können sich, zum Beispiel auch monogen vererbte Stoffwechselstörungen (z.B. Mukoviszidose, Phenylketonurie) im Hautleisten- und Furchensystem niederschlagen. In diesen Fällen sind allerdings nicht besonders typische Musterkombinationen zu erwarten.

1.1.4.1.2 Chromosomenaberrationen

Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von typischen Musterkombinationen ist bei Syndromen, die durch Chromosomenaberrationen verursacht werden sehr viel höher, als bei monogenen Erbleiden. In diesen Fällen können überzählige Gene vorhanden sein, es können ganze Chromosomenabschnitte fehlen, oder an anderen Stellen im Genom angelagert sein. In solchen Fällen sind dann auch häufiger Gene betroffen, die an der Ausprägung der Dermatoglyphen beteiligt sind.

1.1.4.1.3 Fehlerhafte Interaktion von Erbanlagen und Umwelt

Ähnliches wie in Kap. 1.1.4.1.2 angeführt, gilt auch für multifaktoriell bedingte Krankheiten. Wenn im Zusammenwirken mehrerer Erbanlagen und Umwelt­faktoren Störungen auftreten, können Beeinträchtigungen in der Entwicklung der Dermatoglyphen die Folge sein.

1.1.4.1.4 Exogene Noxen

Wenn äußere Faktoren einen schädlichen Einfluß in der frühen Embryonalent­wicklung ausüben, kann auch das Hautleisten- und Furchensystem im Sinne einer Hemmungsmißblidung betroffen sein. Infektionen mit Bakterien oder Viren, Stoffwechselerkrankungen der Mutter (wie z. B. Diabetes mellitus), plazentale Insuffizienz, diverse Chemikalien (z. B. Medikamente, Alkohol, Nikotin oder andere Drogen) oder physikalische Einflüsse (z. B. Röntgenstrahlen) werden zu den exogenen Noxen gezählt.

1.2 Klinische, anthropologische und genetische Aspekte des SILVER-RUSSELL- Syndroms

1.2.1 Geschichte

Wie bereits Eingangs erwähnt, wurden zum ersten Mal 1953 von HENRY K. SILVER und seinen Mitarbeitern W. KIYASU, J. GEORGE und W. C. DEAMER, in der Fachzeitschrift Pediatrics 2 Probanden vorgestellt, die die Symptome eines bis dahin unbekannten Syndroms zeigten. Es handelte sich um ein Mädchen und einen Jungen, die beide laterale Körperasymmetrie, Kleinwuchs und eine erhöhte Gonadotropin-Ausscheidung im Urin aufwiesen.

In der Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society of Medicine berichtete ALEXANDER RUSSELL gut ein Jahr später von 5 Patienten mit folgenden Symptomen: Intrauterine Wachstumsretardierung, Dysostosis cranio-facialis, im Verhältnis zum übrigen Körper kurze Arme. Zusätzlich waren in 4 der 5 Fälle während der Schwangerschaft Komplikationen aufgetreten und/oder eine kleine Plazenta mit Infarkten (Abbauerscheinungen der Plazenta). 2 der Patienten wiesen zusätzlich Körperasymmetrie auf.

J. BLACK bemerkte 1961 erstmalig, dass die von SILVER und RUSSELL be­schriebenen Patienten wahrscheinlich unter demselben Syndrom litten. Reister und Scherz schlugen 1964 die Bezeichnung "SILVER-SYNDROM" vor.

G.C. SZALAY und R.L. SUMMITT waren hingegen noch 1972 der Meinung, dass es ein SILVER- und ein RUSSELL-SYNDROM gäbe. Als Unterschei­dungsmerkmal führten die Verfechter dieser Einteilung die Körperasymmetrie an. Beim SILVER-SYNDROM, wäre sie vorhanden, beim RUSSELL-SYNDROM nicht.

Bis dato hat sich allerdings die Ansicht durchgesetzt, dass es sich um ein Syndrom handelt. Im Allgemeinen wird die Bezeichnung "SILVER-RUSSELL-SYNDROM" gewählt, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass SILVER et al. 1953 zu erst publizierten (z. B. nach TANNER et al. 1975, ESCOBAR et al. 1978, ANGEHRN et al. 1979, DUNCAN et al. 1990 u.a.).

Aber auch "RUSSELL-SILVER-SYNDROM" ist noch in der Literatur anzu­treffen. Hierbei wird nach der alphabetischen Reihenfolge der beiden Erstbe­schreiber vorgegangen (z. B. BREHME & SCHRÖTER 1967, CHAUVEL et al. 1975, CASSIDY et al. 1986 u. a.).

J.M. TANNER und seine Mitarbeiter legten 1975 mit ihrer Longitudinalstudie über 39 Kinder mit SRS einen Grundstein zur genaueren Charakterisierung des Syndroms bezüglich Wachstum, Entwicklung und einer möglichen Ätiologie.

In vielen nachfolgenden Veröffentlichungen weiterer Autoren werden Patienten vorgestellt, die an SRS und anderen Symptomen leiden, die normalerweise nicht in diesem Zusammenhang auftreten (s. Kap. 1.2.6.6).

Nachdem bekannt wurde, dass es auch Familien gibt, in denen mehrere Mitglieder vom SRS betroffen sind, wurden Überlegungen bezüglich einer möglichen genetischen Ätiologie angestellt (s. Kap. 1.2.6).

Einen breiten Raum nimmt die Literatur zur Wachstumshormonbehandlung bei SRS ein. Die Ergebnisse in dieser Hinsicht sind nicht heterogen und hängen auch in größerem Maße davon ab, ob bei den Patienten ein Wachstumshormonmangel vorliegt oder nicht (s. Kap. 1.2.5.1).

1.2.2 Definition des Syndroms

Beim SILVER-RUSSELL-SYNDROM ergibt sich aus der Tatsache, dass es keinen spezifischen diagnostischen Marker gibt, ein besondere Problematik. Keines der Merkmale, deren Gesamtheit das Bild dieses Syndroms bestimmt tritt nur beim SRS auf. Keines dieser Symptome ist bei allen betroffenen Patienten zu finden. Aus diesem Grunde erhebt sich die Frage, ob man tatsächlich von einem Syndrom sprechen kann. Oder handelt es sich bei den SRS-Patienten, wie 1978 von ESCOBAR et al. vermutet, um Kinder, die sich lediglich am unteren Ende der Normalverteilungen für Geburtsgewicht bzw. für Körperhöhe befinden?

Auch SAAL und seine Mitarbeiterinnen befaßten sich 1985 mit dieser Problematik. Bei 15 Patienten wurde im Alter von 5 Monaten bis 15 Jahren SRS diagnostiziert. Innerhalb dieser Studie wurden die Probanden im Alter von 3,4-26 Jahren nachuntersucht. Es ergaben sich sehr heterogene Befunde, zum Beispiel variable Wachstumsmuster und auch häufig Verzögerungen der psychomotorischen Entwicklung. Diese Ergebnisse stimmten nicht mit anderen Studien z. B. von TANNER et al. (1975) überein. Nach Auffassung der Autoren ist nach der Diagnose SRS keine Entwicklungsvorraussage möglich. Die Autoren vermuten, dass aufgrund der Unspezifität der Diagnosekriterien die Diagnose SRS häufig, trotz weniger Symptome bei einem Patienten, voreilig gestellt wird. Sie zitieren die Definition für den Begriff "Syndrom" aus "Steadman`s Medical Dictionary" folgendermaßen: – ein Syndrom ist ein mehrgliedriges Ganzes von Zeichen und Symptomen, die im Zusammenhang mit einem Krankheitsprozeß stehen und zusammengenommen das Bild der Krankheit ausmachen. – Geht man von dieser Definition aus, haben die Patienten in dieser und voraus gegangenen Studien anscheinend kein einzelnes spezifisches Syndrom, sondern eine heterogene Gruppe von Störungen mit sich überlappenden klinischen Merkmalen.

Auch KENNERKNECHT & RODENS kamen 1991 in einem Artikel, in dem ein Fall von Translokationstrisomie 1 vorgestellt wird, zu dem Ergebnis, dass SRS kein einheitliches Krankheitsbild sei. Der dort vorliegende Fall zeigte die typischen SRS Merkmale. Dieser Umstand wird von den Autoren allerdings als Phänokopie angesehen. (Anmerkung der Autorin: laut der Definition für den Begriff "Phänokopie" nach KNUSSMANN 1996 wäre die Voraussetzung für eine Phänokopie allerdings die tatsächliche Existenz des entsprechenden Genotyps, in diesem Fall SRS! Dieser Umstand scheint von KENNERKNECHT & RODENS nicht berücksichtigt worden zu sein). Auch andere zytogenetische Anomalien mit ähnlichen Phänotypen könnten gleichermaßen das SILVER-RUSSELL-SYNDROM imitieren [z. B. dup(1) (q31Õqter) beschrieben in Monatsschr. Kinderheilkd. 135; 851-856; 1987]. Die eher unspezifischen gemeinsamen Dysmorphiezeichen könnten eine unterschiedliche Ätiologie haben, aber ein einheitliches Gesamtbild ergeben. Wäre dies der Fall würde es sich um eine Entwicklungskonkordanz handeln.

Wie bereits erwähnt kamen Tanner und seine Mitarbeiter zu anderen Ergebnissen. In ihrem Bericht von 1975 über eine longitudinale Studie mit 39 Patienten führten sie Argumente, die für ein einheitliches Syndrom sprechen auf. Die typische Physiognomie des Gesichtes scheint zum Beispiel nur beim SRS vorzukommen, diese Erkenntnis ist allerdings nicht 100%ig verifiziert worden. Schwerer wiegt dagegen das Argument, dass verschiedene Autoren (z. B. Ounsted & Ounsted 1973; "Geburtsgewicht ist stark erbbedingt") herausgestellt haben, dass "echte"nur SGA-Kinder (S mall for G estational A ge) eine große Anzahl von Geschwistern haben, die ebenfalls SGA geborgen wurden. Dies ist bei SRS-Kindern nicht der Fall.

1.2.3 Sind SILVER-Syndrom und RUSSELL-Syndrom identisch?

Diese Frage hat über viele Jahre die mit dieser Thematik befaßten Wissenschaftler beschäftigt. BLACK schrieb 1961 eine Abhandlung über die verschiedenen Kleinwuchsformen, die mit einem niedrigen Geburtsgewicht assoziiert sind. Er faßte erstmalig die von SILVER und RUSSELL beschriebenen Fälle als "Zwergwuchs" infolge von Störungen in der frühen Schwangerschaft zusammen.

Auf BLACK beziehen sich auch REISTER & SCHERZ in ihrem 1964 erschienenen Artikel. Sie stellten fest, dass RUSSELL- und SILVER- Patienten auf jeden Fall zu einer übergeordneten Kategorie von intrauteriner Wachstumsretardierung gehören.

Auch Rimoin (1968) schlug vor, dass SILVER- und RUSSELL- Syndrom eine Einheit darstellen könnten.

Es wurde zu nächst die Benennung "RUSSELL-Syndrom" angewandt. Weil SILVER die Krankheit zuerst beschrieben hat schlugen Tanner et al. 1975 die Bezeichnung SILVER-RUSSELL-SYNDROM vor.

G.C. SZALAY & R.L. SUMMITT vertreten 1972 die Meinung, dass es ein SILVER- und ein RUSSELL-Syndrom gibt. Auch in einem Artikel von 1973 wiederholt Szalay diese Ansicht (vgl. ESCOBAR et al. 1978).

Der Erstbeschreiber selbst fügt in einem Artikel, der 1964 publiziert wurde zu seinen bis dahin bekannten 27 Fallbeschreibungen zwei der von RUSSELL 1954 geschilderten Probanden zu, die laterale Asymmetrie aufwiesen. Die von RUSSELL (1954) beschriebenen besonderen morphologischen Gesichtsmerkmale nahm SILVER 1964 in seine Beschreibung des Syndromes auf. Ergänzend fügte er hinzu, das keines der von ihm genannten Hauptmerkmale bei allen seiner bis dahin beschriebenen 29 Probanden vorkam. Nach REISTER & SCHERZ, sagte SILVER die Diagnose des Syndroms sei als gesichert anzusehen, wenn ein Kind drei der Hauptsymptome aufweist; insbesondere wenn noch eines oder mehrere der Nebensymptome dazu kämmen. Das bedeutet nach SILVERs eigenen Aussagen ist die Unterscheidung in SILVER- und RUSSELL-Syndrom, insbesondere anhand des Kriteriums "Symmetrie-Asymmetrie" hinfällig.

1969 unterschieden TANNER & HAM noch zwischen den Syndromen, nur auf der Grundlage des Vorhandenseins von Symmetrie bzw. Asymmetrie. In ihrer Langzeitstudie von 1975 kamen sie aber zu dem Ergebnis, dass sich die Einteilung in symmetrische und asymmetrische Form des Syndroms nicht aufrechterhalten läßt. Ihre Meßergebnisse von einigen Körpermaßen wurden herangezogen um das Vorhandensein bzw. das Ausmaß von Asymmetrie festzustellen. Werden die Werte auf "0" kalibriert um absolute Differenzen zu erhalten, zeigt die Verteilung keine Zweigipfeligkeit, sondern ist eingipfelig mit positiver Schiefe. SILVER- und RUSSELL-Syndrom lassen sich also nicht klar trennen: der Name des Syndromes sollte laut TANNER et al. (1975) SILVER-RUSSELL-Syndrom. sein.

V. ROBICHAUX et al. berichten 1981 von einer Familie in der 2 Geschwister mit SRS geboren wurden. Nur eines der Kinder zeigte Asymmetrie ("SILVER-Variante"). Vermutlich war die (genetische) Ursache für die Manifestation des SRS bei beiden Kindern dieselbe. Diese Tatsache sehen die Autoren als einen weiteren Beweis dafür an, dass SILVER- und RUSSELL-Syndrom identisch sind.

1967 wurde von BREHME & SCHRÖTER eine Studie über Hautleistenmerkmale von SRS-Patienten vorgestellt. Die SRS-Probanden ließen sich klar von der Referenzgruppe trennen. Die Probandengruppe selbst ließ sich aber nicht weiter in zwei verschiedene Gruppen unterteilen, wie es möglich sein müßte, wenn es sich um zwei differierende Syndrome handeln würde.

1.2.4 Diagnosekriterien

1.2.4.1 Diagnosekriterien nach SILVER und RUSSELL

Im ersten Artikel von SILVER et al. werden 1953 zwei, bisher noch nicht beschriebene Fällen mit Hemihypertrophie, Kleinwuchs und erhöhter Urinkonzentration von Gonadotropin vorgestellt. Die Hemihypertrophie führte bei beiden Patienten zu einer Körperseitenasymmetrie. Die Autoren bemerkten, dass bisher selten Hemihypertrophie in Verbindung mit Kleinwuchs beobachtet worden sei. Der Terminus "Kleinwuchs" beinhaltete bei beiden Probanden, ein niedriges Geburtsgewicht und -größe, trotz termingerechter Geburt Das anschließende Wachstum verlief zwar langsam aber stetig parallel unterhalb der normalen Wachstumskurve.

Bei der Schilderung des 2. Falles wird unterhalb einer Abbildung der Hände auf die Anomalien der Finger (deutlich sichtbar: Klinodaktylie d. linken 5. Fingers) hingewiesen. Im Text erfolgt aber keine weitere Erläuterung dieses Befundes.

1964 veröffentlichte SILVER eine aktualisierte Liste der Symptome. Hierbei werden erstmalig Haupt- und Nebensymptome von einander unterschieden:

A. Hautpsymptome

I) Kleinwuchs

II) Signifikante Asymmetrie

II) Kleine Größe trotz normaler Schwangerschaftsdauer

IV) Variationen im Muster der sexuellen Entwicklung:

1) Erhöhte Gonadotropinwerte im Urin

2) Früher Beginn der sexuellen Reifung

3) Frühzeitige Östrogenisation der urethralen und vaginalen Mucosa

4) Merklich retardiertes Knochenalter in Relation zur sexuellen Entwicklung

B. Nebensymptome

I) Café-au-lait-Flecken oder andere anormale Hautpigmentationen

II) Kurze fünfte Finger (Brachydaktylie); fünfte Finger radial gekrümmt (Klinodaktylie)

III) Dreieckförmiges Gesicht

IV) Nach unten gezogenen Mundwinkel

V) Syndaktylie oder andere Anomalien der Zehen

VI) Komplikationen seitens der Mutter während der Schwangerschaft

Die ursprünglichen von RUSSELL geschilderten Diagnosekriterien lauten wie folgt:

1) Niedriges Geburtsgewicht bei termingerechter Geburt

2) Kleinwuchs

3) Disproportional kurze Arme

4) Komplikationen seitens der Mutter während der Schwangerschaft

5) Craniofaciale Dysostose:

A. Dreieckiges Gesicht mit kleiner fliehender Mandibel

B. Im Verhältnis zum Schädel kleines Gesicht

C. Hohe beulenförmig vorgewölbte Stirn

D. Prominenter Nasenrücken (sogar bei der Geburt)

E. Haifischmund (Philtrum hoch, Ecken abwärts)

F. Anteriore Fontanelle bis zum dritten Lebensjahr geöffnet

6) Variable andere Anomalien:

A. Kongenitale Asymmetrie

B. Gebogene V. Finger (Klinodaktylie)

C. Kryptorchismus

D. Kalkaneusvalgus Deformität (Fehlbildung des Fersenbeines)

E. Fehlender kardialer Sphinkter

F. Angeborene Ptosis

1.2.4.2 Aktuelle Diagnosekriterien

Nach einem Informationsblatt zum „Stichwort SILVER-RUSSELL-Syndrom" von Juli`96 des Bundesverbandes Kleinwüchsiger Menschen und ihrer Familien e.V. (BKMF) verfaßt von FRANK-BOSSLER & GIEGERICH sind folgende Diagnosekriterien aktuell:

1. Intrauterine Wachstumsretardierung; als Folge davon werden die Kinder bei termingerechter Geburt zu klein geboren (Small-for-Gestational-Age = SGA bzw. Low Birth Weight = LBW): Geburtslänge < 48 cm, Geburtsgewicht < 2.500 g bei SRS í 43 cm; 1.900 g

2. Längenwachstum bleibt unterhalb d. 3. Perzentiles (verläuft aber i. a. parallel dazu)

3. Gewicht im Verhältnis zur kleinen Länge sehr gering; zierliche Figur, Untergewicht

4. Kopfumfang altersgemäß (Pseudohydrocephalus)

5. Gesicht klein im Verhältnis zur Stirn; schmales Kinn Þ es entsteht der Eindruck einer Dreiecksform des Gesichtes

6. Ossifikationsalter niedriger als Lebensalter (Röntgenaufnahme linke Hand)

7. Körperasymmetrie; (bei ca. der Hälfte der Kinder) gesamte Körperhälfte od. einzelne Körperteile; kürzer und/oder dünner

8. Brachyklinodaktylie

H.A. Wollmann und Mitarbeiter veröffentlichten 1995 einen Bericht über Wachstum und Symptome bei SRS, in dem die Daten von 386 Patienten ausgewertet wurden. Aus den Daten von insgesamt 143 Individuen (WOLLMANN et al. (1995) n = 40; SILVER (1964) n = 29; TANNER et al. (1975) n = 39; SAAL et al. (1985) n = 15; ANGEHRN et al. (1979) n = 20) wurden in Prozentzahlen die Frequenzen diverser Symptome berechnet:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Literatur werden allerdings noch zahlreiche andere Merkmale von SRS-Patienten erwähnt. In den nachfolgenden Kapiteln wird darauf näher eingegangen.

1.2.4.3 Probleme der Diagnosestellung

Wie bereits erwähnt ist beim SILVER-RUSSELL-Syndrom kein diagnostischer Marker vorhanden, d. h. kein Merkmal kommt ausschließlich beim SRS vor, und keines ist bei allen SRS-Probanden zu finden. Laut SILVER (1964) erfolgt die Diagnose, wenn mindestens drei Hauptdiagnosemerkmale vorhanden sind. Durch das Vorhandensein von Neben-, oder fakultativen Diagnosemerkmalen kann die Diagnose abgesichert werden. Andere schwere Störungen als Krankheitsursache müssen ausgeschlossen werden.

Bei erwachsenen Patienten ist eine Diagnose auf SRS i. a. schwerer zu erstellen als bei Kindern, da die Ausprägung der SRS-typischen Gesichtsmerkmale mit zunehmendem Alter abgeschwächt wird (FULHEIHAN et al. 1971; TANNER et al. 1975; ESCOBAR et al. 1978).

1.2.4.4 Hauptdiagnosemerkmale
1.2.4.4.1 Intrauterine Wachstumsverzögerung und niedriges Geburtsgewicht

(Als Abkürzungen werden die Anfangsbuchstaben der englischen Fachausdrücke verwendet: intrauterine Wachstumsretardierung = IntraUterine Growth Retardation = IUGR ; niedriges Geburtsgewicht = Low Birth Weight = LBW)

Das Geburtsgewicht und die Geburtslänge werden nach der Dauer der Schwangerschaft, dem Geschlecht des Kindes, dem Platz in der Geschwisterreihe und der Körperhöhe der Mutter beurteilt. Die Durchschnittswerte gesunder Kinder dienen als Referenzwerte.

Kinder mit SILVER-RUSSELL-Syndrom liegen bezüglich des Körpergewichtes bei der Geburt, noch weiter unterhalb des Durchschnitts, als bezüglich der Körperlänge. Dadurch wirken die Neugeborenen besonders mager (LBW). Dieses Erscheinungsbild ist auf eine pränatale Wachstumsretardierung zurückzuführen (IUGR). Die Werte für Geburtsgewicht und -länge liegen in den meisten Fällen unterhalb des 3. Perzentils der Normalverteilung (SILVER 1964; PATTON 1988). Andersherum betrachtet sind 97 % der vergleichbaren Neugeborenen größer.

Die Angabe der Differenzen kann auch in Standardabweichungseinheiten erfolgen (TANNER et al. 1975; ANGEHRN et al. 1979; DAVIES et al. 1988). Beim SRS liegen Geburtsgewicht- und länge häufig 2 Standardabweichungseinheiten unterhalb den Durchschnittswerten (- 2 SDS = s tandarddeviation scores). Das bedeutet 97,75 % der Neugeborenen sind größer.

Nach WOLLMANN et al. (1995) lag bei 94 % der Kinder mit SRS das Geburtsgewicht unterhalb der 3. Perzentile. Trotz der großen Häufigkeit mit der dieses Symptom auftritt, ist es als alleiniges Diagnosekriterium nicht geeignet, da intrauterine Wachstumsretardierung die verschiedensten Ursachen haben kann.

Außerdem besteht die Gefahr, dass die verbleibenden ca. 6 % der Fälle möglicherweise nicht diagnostiziert werden (TANNER & HAM 1969; TANNER et al. 1975). SAAL et al. berichteten 1985 ebenfalls von drei Probanden, dessen Geburtsgewicht nicht unterhalb der 3. Perzentile gelegen hat, die aber ansonsten typische SRS-Merkmale aufwiesen.

Für ein niedriges Geburtsgewicht und eine geringe Körperlänge bei der Geburt kann es noch eine Vielzahl anderer Ursachen geben. PATTON zählt in seiner Publikation von 1988 folgende mögliche Ursachen auf:

1. Plazentainsuffizienz; man kann verschiedene Effekte von Plazentainsuffizienz unterscheiden:

* chronische intrauterine Wachstumsretardierung: alle Wachstumsparameter sind vermindert („perfekte Miniatur“); meistens Aufholwachstum innerhalb d. 1. Lebensjahres (bei 2/3); keine Asymmetrie

* späte intrauterine Wachstumsretardierung: geringes Geburtsgewicht, normale Länge, normaler KU; keine Asymmetrie; schnelles Aufholwachstum

2. Chromosomale Mosaike; ähnliche Phänotypen bei Trisomie 18 Mosaiken, diploid-triploid Mosaike, 45,X/46,XY Mosaike

3. 3-M-Syndrom; Ähnlichkeiten zu SRS: intrauterine Wachstumsretardierung (IUGR), relativ großer Kopf, kurzer 5. Finger; Unterschiede: prominente Fersen, große Wirbelkörper, Gesichtsmerkmale (breite, fleischige Nase, scharfgeschnittenes Profil)

4. TURNER-Syndrom

5. Neonatale Progerie; unvollständiges Progerie-Syndrom; mit erhaltener Kopfbehaarung; vorzeitige Vergreisung; Pseudohydrocephalus, Mangel an subkutanem Fett; Geburtszähne

Ebenfalls mit intrauteriner Wachstumsretardierung können DELANGE-Syndrom, DUBOWITZ-Syndrom, COSF-Syndrom, SECKEL-Syndrom, MILIBREY-Synrom oder Alkohol-Embryopathie verbunden sein (DETONI et al. 1982).

All diese Fälle beziehen sich auf eine termingerechte Geburt. Sie sind unbedingt von den Fällen zu unterscheiden, in denen die Kinder zu früh geboren wurden und deshalb ein niedriges Geburtsgewicht haben.

1.2.4.4.2 Kleinwuchs

Folgender Wachstumsverlauf ist für das SRS charakteristisch: das Wachstum verläuft langsam aber stetig, parallel zur durchschnittlichen Wachstumskurve unterhalb der 3. Perzentile (SILVER et al. 1953; SILVER 1964; PATTON 1988), bzw. 2 oder mehr Standardabweichungseinheiten unter der durchschnittlichen Wachstumskurve (TANNER et al. 1975; ANGEHRN et al. 1979; DAVIES et al. 1988).

Beim SRS findet kein Aufholwachstum statt (DAVIES et al. 1988). Die zu erwartende Endgröße bei Erwachsenen liegt im Durchschnitt bei 139,5 cm für Frauen mit einer Variationsbreite von 130 bis 150 cm und 151,5 cm für Männer, mit einer Variationsbreite von 142 bis 162 cm (FRANK-BOSSLER & GIEGERICH 1996).

1.2.4.4.3 Verzögerte Ossifikation

Bei ca. 50 % der SRS-Patienten stimmt in der frühen Kindheit das Ossifikationsalter nicht mit dem chronologischen Alter überein (BUYSE 1990). In den allermeisten dieser Fälle ist das Knochenalter retardiert. Nach den Ergebnissen von ANGEHRN et al. (1979) entspricht der Rückstand der Ossifikation bis etwas zum zehnten Lebensjahr dem der Körperhöhe. Ist das zehnte Lebensjahr überschritten, gleicht sich das Ossifikationsalter häufig dem Lebensalter an (vgl. auch HERMAN et al. 1987).

Eine Besonderheit ergibt sich bei manchen Kindern mit lateraler Asymmetrie. In diesen Fällen kann die Knochenentwicklung in den beiden Körperseiten unterschiedlich schnell verlaufen (LÄßKER & REICH 1979; BUYSE 1990).

1.2.4.4.4 Laterale Körperseitenasymmetrie

Wie bereits in Kap. 1.2.4.2 erwähnt ist ungefähr bei der Hälfte der Patienten eine laterale Asymmetrie vorhanden. Die Ungleichheit kann eine ganze Körperseite betreffen oder nur bestimmte Körperpartien, z. B. den Kopf, das Gesicht, den Rumpf, Arme oder Beine. Im Falle einer Asymmetrie ist der jeweils betroffene Bereich einer Körperseite größer, d. h. umfangreicher und länger, als der andere. Z. B. das linke Bein hat einen größeren Umfang und ist länger als das rechte Bein.

SILVER et al. zählten 1953 die Körperseitenasymmetrie noch zu den Hauptmerkmalen des Syndroms. RUSSELL (1954) zählte dieses Merkmal zwar nicht zu den verbindlichen Diagnosekriterien, aber auch er hat bei zwei seiner fünf Patienten Asymmetrie beschrieben.

Die Frage, ob die Asymmetrie schon von Geburt an vorhanden ist, läßt sich oft nicht klar beantworten, da sie manchmal erst nach Monaten von den Eltern oder Ärzten bemerkt wird. Die Ungleichmäßigkeit könnte in solchen Fällen auch erst mit dem postnatalen Wachstum aufgetreten sein.

Das Verhältnis der betroffenen Körperpartien zu einander scheint sich im Laufe des Wachstums nicht mehr zu verändern. Diese Feststellung machten jedenfalls einige Autoren, die über mehrere Jahre hinweg die Körpermaße von Patienten mit Asymmetrie beobachteten (LÄßKER & REICH 1979; SAAL et al. 1985).

In einigen Fällen ist die Ungleichheit der Körperseiten nur mit Hilfe von Röntgenbildern oder anthropometrischen Messungen feststellbar. Diese Abweichungen bewegen sich im Rahmen des Bevölkerungsdurchschnitts (TANNER & HAM 1969). Von einer signifikanten Asymmetrie kann man bei Unterschieden von einem Zentimeter oder mehr sprechen (TANNER et al. 1975; SAAL et al. 1985).

TANNER et al. veröffentlichten in ihrer Studie von 1975 genaue Meßdaten über Körperseitenasymmetrie bei SRS-Patienten. Darüber hinaus verglichen sie die Daten mit den Meßwerten einer Referenzgruppe gesunder Kinder.

Bei 106 gesunden europäischen Kindern wurden linke und rechte obere und untere Extremitäten vermessen und auf Asymmetrie untersucht. Die Mittelwerte der Differenzen lagen nahe bei Null (d. h. im Durchschnitt lagen kaum Längendifferenzen zwischen den Extremitäten vor). Eine Standardabweichung der Differenzen entsprach bei den oberen Extremitäten 0,49 cm; bei den unteren Extremitäten 0,41 cm.

Bei SRS-Patienten waren die Mittelwerte der Differenzen ebenfalls nahe Null. Allerdings war die Streuung größer: die SDS für die Armdifferenz betrug 0,9 cm, die der Beindifferenz 1,3 cm.

TANNER et al. (1975) zogen die Schlußfolgerung, dass bei einigen SRS-Patienten offensichtlich der Prozeß, der die bilaterale Symmetrie kontrolliert gestört sei.

Beim Vergleich der unteren Extremitäten mit den oberen und jeder einzelnen mit der Rumpflänge, ergaben sich Hinweise, dass die längere der beiden Extremitäten im Allgemeinen, die anormale ist, also als hypertrophiert im Vergleich zum Rest des Körpers an zusehen sei.

In der Literatur wurde die Frage diskutiert, ob die größere Seite als überentwickelt (hypertrophiert), oder ob die kleinere Seite als unterentwickelt (hypotrophiert), im Vergleich zum Rest des Körpers anzusehen sei.

RUSSELL (1954) ging von einem Entwicklungsrückstand der einen Körperhälfte aus. Er bezeichnete diesen Zustand bei zwei seiner Probanden als Hemiatrophie.

Von einer Hemihypotrophie der kleineren Körperseite gingen auch die Leipziger Kinderärzte LÄßKER & REICH (1979) aus. Sie begründeten ihre Ansicht mit der Tatsache dass, das Ossifikationsalter der größeren Körperseite dem Lebensalter des Kindes entsprach. Der Grad der Knochenreifung der kleineren Körperseite war dagegen im Verhältnis zum Lebensalter retardiert.

SILVER (1953) geht im Gegensatz dazu von einer Hemihypertrophie aus. Er schildert in seinem Artikel das mikroskopisches Bild der Hypertrophie: sichtbar war ein übermäßiges Wachstum von Media und Intima der Blutgefäße, die Muskelbündel waren größer als normal, auch die Knochen zeigten ein übermäßiges Wachstum. Auch die peripheren Nerven waren betroffen. Deren interstitielles Konnektivgewebe war ebenfalls hypertrophiert.

1.2.4.5 Fakultative Diagnosemerkmale
1.2.4.5.1 Kopf- und Gesichtsmerkmale

1.2.4.5.1.1 Kopfumfang

Kopfumfang = occipitofrontal circumference = OFC

Die SRS-Patientengruppe ist auch bezüglich des Kopfumfanges nicht homogen. Bei einem Teil der Kinder liegt zwar die Körperhöhe deutlich unterhalb des Durchschnittes, der Kopfumfang dagegen entspricht dem Altersdurchschnitt. So erscheint der Kopf im Vergleich zum Körper relativ groß (Pseudohydrocephalus). Dieser Umstand führt bei Neugeborenen häufig irrtümlicherweise zu der Diagnose "Hydrocephalus".

Ein anderer Teil des Patientenkollektivs hat dagegen einen OFC der eher den übrigen Körperproportionen entspricht. Diese Kinder werden als mikrozephal eingestuft, wenn ihr OFC mehr als zwei SDS unterhalb des Durchschnitts, bzw. unterhalb des 3. Perzentils für Alter und Geschlecht liegt (TANNER et al. 1975; SAAL et al. 1985).

TANNER et al. untersuchten in ihrer Longitudinalstudie von 1975 bei 37 von 39 Kindern den Kopfumfang. Der Mittelwert aller 37 Messungen lag 1,88 SDS unter den Durchschnittswerten der Referenzgruppe.

Innerhalb der Gruppe konnten jedoch zwei Untergruppen unterschieden werden:

a) 19 der Kinder hatten einen OFC, der altersgemäß war (d. h. relativ großer Kopf im Verhältnis zum Körper s. o.)

b) 18 Probanden lagen mit ihren Meßwerten unterhalb des 3. Perzentils des OFC ihrer Altersgruppe und ihrem Geschlecht und waren somit mikrozephal.

SAAL et al. (1985) fanden während der Anfangsuntersuchung für ihre Studie bei 6 Patienten einen OFC ó der 2. Perzentile. Bei der Nachuntersuchung allerdings hatten nur noch 4 Patienten einen OFC < 2. Perzentile. Die anderen beiden Patienten hatten inzwischen eine normale Kopf- und Körpergröße.

Aufgrund der Heterogenität dieses Merkmals bei SRS betrachteten weder TANNER et al. (1975), noch SAAL et al. (1985) und DAVIES et al. (1988) einen bestimmten Kopfumfang als obligatorisches Aufnahmekriterium in ihre Studien.

ANGERHN et al. (1979) hingegen nahmen nur Probanden in ihre Studie auf, die einen im Verhältnis zum Körper relativ großen Kopf hatten.

1.2.4.5.1.2 Kopf- und Gesichtsproportionen

Wie schon in Kap. 1.2.4.5.1.1 erwähnt wird bei Neugeborenen mit SRS häufiger fälschlicherweise die Diagnose Hydrocephalus gestellt. Dieser Eindruck wird u. a. deshalb verstärkt, weil ein im Vergleich zum Gesichtsschädel relativ großer Hirnschädel vorhanden ist.

Bisher ist allerdings in der Literatur nur ein Fall beschrieben worden, bei dem tatsächlich ein, wenn auch milder, Hydrocephalus vorlag (DONNAI et al. 1989).

Der Begriff "Pseudohydrocephalus" hat sich für die besonderen Schädelproportionen beim SRS etabliert. MARKS & BERGESON (1977) fanden diesen Terminus in 45 von 148 Fallberichten erwähnt.

Schon RUSSELL (1954) zählte eine craniofaciale Dysostosis zu den Diagnosemerkmalen. TAUSSIG et al. (1973) untersuchten die Schädelmorphologie, die zu dem Befund "craniofaciale Dysostosis" führt bei einem für SRS diskordanten Zwillingspaar. Der Schädel des Zwillingsbruders, der unter SRS und Mukoviszidose litt, wurde mit dem der gesunden Zwillingsschwester verglichen.

TAUSSIG et al. (1973) konnten anhand von Röntgenaufnahmen folgende craniofaciale Merkmale feststellen: Die sagittale craniale Wölbung war beim Patienten nur ein wenig kleiner als bei seiner Schwester. Die Weichteilbereiche des Gesichtes waren beim Patienten wesentlich kleiner, konvexer und im Verhältnis zu den cranialen Strukturen weiter posterior positioniert. Die anteriore craniale Basislänge (S-N) des Patienten war nur leicht kürzer als die seiner Schwester. Die totale craniale Basis (S-Ba) war signifikant in der Größe reduziert. Ähnlich wie die Gesichtshöhe waren beim Patienten Maxilla und Mandibel in allen Dimensionen reduziert. Die craniofacialen Maße der Schwester waren normal.

Das Merkmal, das zum Befund "craniofaciale Dysostosis" beitrug war insbesondere, die reduzierte posteriore Länge der Schädelbasis des Patienten. Sie spielt eine wichtige Rolle, weil dort der knorpelige Bereich zwischen dem Os occipitale und dem Os sphenoidale liegt, welcher ein primäres Wachstumszentrum der Schädelbasis ist. Um einen normalen Verschluß der Kiefer und Zähne zu gewährleisten, müssen die Strukturen des Schädels, an denen die Maxilla (anteriore Schädelbasis) und die Mandibel (posteriore Schädelbasis) anschließen, kompensatorisch angepaßt werden.

Bei dem Patienten ist das Mandibulargelenk, wegen der verkürzten posterioren Schädelbasis mehr superior angebracht. Eine Vergrößerung des Gonionwinkels der Mandibel, eine Öffnungsrotation der Mandibel (nach außen) und Veränderungen der Winkelmaße von Corpus und Ramus zur Sella-Nasion-Ebene bewirken eine vertikale Kompensation. Eine mehr anteriore Position der Mandibularcondyle führt zu einer anteroposterioren Kompensation.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3

Übereinander Projektion der lateralen Röntgenaufnahmen der Schädel von Patient und Zwillingsschwester; die Ausrichtung erfolgte nach der Brücke der Sella-Nasion-Ebene; oben: Profile der Weichteilgewebe und des Craniums; unten: knöcherne craniofaciale Anteile; SN Sella-Nasion-Ebene; PP Gaumenebene; OP Ebene des Occlusio dentium; MP Mandibularebene; RP Ebene des Ramus mandibulae; Ba Basion; zuerst genannte Buchstaben beziehen sich auf die Verhältnisse beim gesunden Zwilling.

(nach TAUSSIG et al. 1973; S. 499)

1.2.4.5.1.3 Morphologische Merkmale des Gesichtes

Beim SRS ist in den allermeisten Fällen eine typische Morphologie des Gesichtes vorhanden. Sogar bei monozygoten für SRS diskordanten Zwillingen, war eine klare Unterscheidung zwischen dem betroffenen und dem gesunden Zwilling anhand dieser typischen Gesichtsmerkmale möglich (SAMN et al. 1990).

Die bereits in Kap. 1.2.4.5.1.2 beschriebenen Unterschiede im Bau des Craniums tragen wesentlich dazu bei, dass eine SRS-typische Physiognomie entsteht. Die Größenreduktion (Hypoplasie) der Mandibel bei gleichzeitiger Erhaltung der Größe des Hirnschädels führt zu dem Eindruck einer dreieckigen Gesichtsform. Die Stirn ist relativ breit, flächig und oft vorgewölbt, das Kinn hingegen ist verschmälert und läuft spitz zu.

Durch die Hypoplasie des Unterkiefers kommt es in einigen Fällen zu einem Zahnengstand (TAUSSIG et al. 1973). Der Gaumen wird oft als schmal und hoch geschildert (z. B. PATTON 1988). TAUSSIG et al. (1973) stellten Untersuchungen zu dieser Frage an, da sie bemerkten, dass der Ausdruck "hoch gewölbter Gaumen" im Zusammenhang mit SRS häufig benutzt wurde und bisher allerdings keine Methode vorgestellt wurde um diese Aussage zu quantifizieren. Um die Höhe des Gaumens bei dem von ihnen vorgestellten Patienten festzustellen, wurde die Distanz von der Occlusalebene der Oberkieferzähne zur Gaumenebene auf den Röntgenaufnahmen des bereits in Kap. 1.2.4.5.1.2. erwähnten Zwillingspaares gemessen. Bei diesem Patienten wurde allerdings ein durchschnittlicher Wert ermittelt, der etwas unterhalb des Meßwertes der Zwillingsschwester lag.

Bei Patienten mit SRS findet sich häufig eine typische Form des Mundes. Die Lippen sind schmal, insbesondere die Oberlippe, welche durch ein prominentes Philtrum gekennzeichnet ist. Die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Dieses Erscheinungsbild wird oft als "Haifischmund = shark mouth", bzw. als umgekehrtes "V" bezeichnet (PATTON 1988, LEIBER 1990).

Die Ohren sind bei SRS des öfteren tief angesetzt und dysplastisch (MARKS & BERGESON 1977, ESCOBAR et al. 1978, PATTON 1988).

FITCH & PINSKY stellten 1972 fest, dass das Gesichtsprofil bei SRS typisch ist und zur Diagnose herangezogen werden könnte. Sie stellten einen Fall aus ihrer eigenen Praxis vor und darüber hinaus Beispiele aus der Literatur, bei denen eine große Ähnlichkeit in der Physiognomie festgestellt werden kann (Schumacher & Niederhoff 1967; Girad 1965; Fall 18 von SILVER 1964). Das typische Profil wird durch charakteristische SRS-Merkmale wie prominente Stirn, Hypoplasie der Mandibel, "Pseudohydrocephalus" (kleines Gesicht mit normal großem Schädel) erzeugt. Die Autoren bemerkten auch, dass das Aussehen der Augen charakteristisch sei. Sie scheinen, hervorgerufen durch eine relativ große Lidspalten und die Kleinheit des Gesichtes, vorzustehen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4 nach Curi et al. 1967; S. 658; 17 Monate altes Mädchen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5

2 ½ Monate altes SRS-Kind; FITCH & PINSKY 1972; S. 828 (nach Schumacher & Niederhoff)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6 FITCH & PINSKY 1972; S. 829

links: SRS-Kind 6 Monate (nach Girad)

rechts: SRS-Kind 6 Monate (nach Girad)

CRICHTON et al. fanden 1972 allerdings bei 502 IUGR-Kindern überdurchschnittlich häufig einen kleinen Unterkiefer. Dieses Merkmal scheint eher unspezifisch zu sein.

Zwar sind nicht alle Gesichtsmerkmale bei jedem Kind mit SRS vorhanden, es ist dennoch recht häufig die charakteristische SRS-typische Physiognomie zu erkennen (Häufigkeiten der Merkmale vgl. Bericht von WOLLMANN et. al. 1995 s. Kap. 1.2.4.2).

RUSSELL beschrieb schon in seiner Veröffentlichung von 1954 diese morphologischen Merkmale, SILVER nahm sie 1964 als Diagnosemerkmale in die Beschreibung des Syndromes auf.

1.2.4.5.2 Merkmale der Hände

Bei SRS-Patienten finden sich an den Händen häufig dysmorphische Merkmale, die zur Diagnosestellung beitragen können.

Besonders an den 5. Fingern, einer oder beider Hände, sind Besonderheiten zu beobachten. Die sogenannte Brachydaktylie liegt vor, wenn der Finger verkürzt ist. Ist der Finger zur radialen Seite hin gekrümmt, handelt es sich um Klinodaktylie. Beide Merkmale können auch kombiniert auftreten (Klinobrachydaktylie). Wollmann et al. (1995) fanden Klinodaktylie bei 68 % und Brachydaktylie bei 48 % der Patienten. In 80,22 % der Fallberichte über SRS fanden ESCOBAR et al. (1978) mindestens eines dieser Merkmale.

[...]

Ende der Leseprobe aus 303 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung des Hautleisten- und Furchensystems der Palmae für die Diagnose des Silver-Russell-Syndroms
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
303
Katalognummer
V432052
ISBN (eBook)
9783668797765
Sprache
Deutsch
Schlagworte
srs, hautleisten, hautleistensysstem, furchensystem, palma, palmae, diagnose, silver-russell-syndrom, silverrussellsyndrom, silver-syndorm, russellsyndrom
Arbeit zitieren
Alexandra Golecki (Autor:in), 1998, Die Bedeutung des Hautleisten- und Furchensystems der Palmae für die Diagnose des Silver-Russell-Syndroms, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/432052

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