Vergleich der zentralen Thesen der "Münchner Schule" und der "Wiener Schule" zum Stellenwert und zur Begründung des kirchlichen Rechts

Rechtstheologie


Hausarbeit, 2017

13 Seiten, Note: 2


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Begrundung des kirchlichen Rechts
1. Kerygmatisch-sakramentale Begrundung der „Munchner Schule"
a) ius divinum (positivum) bestimmt die Kirche als communio hierarchica
(1) communio-Theologie als Ausgangsbasis der Argumentationskette
(2) Gottliches Gehorsamsgebot
(3) Verwirklichung der Heilsordnung durch ius mere ecclesiae
b) Funktionelle Ahnlichkeit von Wurzelsakrament der Kirche und Rechtssymbolen
c) Der Glaubige als Rechtssubjekt
d) Wechselwirkungen zwischen kanonischem Recht und dem Glauben
e) Kanonische Folgerung aus theologischen Fakten
f) Ableitung des Kirchenrechtsbegriffs
2. Theologisch-rechtsphilosophische Begrundung der „Wiener Schule"
a) Praktische Notwendigkeit eines erweiterten Kirchenrechtsverstandnisses
(1) „Moralisierung“ des Kirchenrechts
(a) Gefahr eines innerkirchlichen Machtmissbrauchs
(b) Innerkirchliche Konfliktpotentiale
(2) Notwendigkeit allgemeiner Gerechtigkeits- und Rechtsstandards
b) Freiheitsfunktionale Konzipierung des Rechtsbegriffs
(1) Freiheit zur Verwirklichung einer christlichen Lebensweise
(2) Sakramentale Grundlegung dieses Freiheitsanspruchs
(3) Sicherung von Freiheit durch die Kirche
c) Allgemeine Sakramentalitat der Kirche und Humanitat in der Welt
d) Effektiver Rechtsschutz vor ubermaliiger Jurisdiktionsgewalt
(4) Unzulassige Gesetzgebungsdelegation auf staatlichen Gesetzgeber
e) Das klassische Rechtsverstandnis
f) Akzeptanz des kanonischen Rechts durch Glaubige
g) Relative Autonomie des kanonischen Rechts
h) communio mit rechtlicher Verbindlichkeit
i) Unvereinbarkeit des ius mere ecclesiae mit der communio als Liebesgemeinschaft
j) Ableitung eines Kirchenrechtsbegriffs
3. DerAnlassfurbeide Schulenzur BegrundungdesKirchenrechts
a) Abkehr von der Lehre der Schule der ,,/us publicum ecclesiasticum" (IPE)
b) Einfluss der Sohm'schen Thesen auf die konziliare Ekklesiologie

III. Folgewirkungenaufden Stellenwert des Kirchenrechts in seiner Anwendung
1. Arbeitsablauf fur die Erzeugung des Kirchenrechts
2. Verhaltnis zwischen Kanonistik und theologischer Wissenschaft
3. Der funktionale Stellenwert des Kirchenrechts
a) Auf Legitimationsfunktion reduziertes Rechtsverstandnis der „Munchner Schule"
b) Gerechtigkeitsverstandnis der „Wiener Schule" im gottlichen und juristischen Sinn
4. Pragnanz der juristischen Sprache

IV. Fazit

I. Einleitung

Beide Schulen befassen sich mit der Frage nach der grundlegenden Legitimierung von Kirchenrecht, also seiner Daseinsberechtigung, ob und inwieweit das Phanomen „Recht“ zur Kirche gehort.1 Grund- lage dafur ist die Frage nach dem Wesen des kanonischen Rechts.2 Im ersten Teil werden die Thesen zur Grundlegung des kanonischen Rechts (Kirchenrecht) von der „Munchner Schule" in Ziff. II. 1. und von der „Wiener Schule" in Ziff. II. 2. dargelegt. Im Anschluss wird der Ausloser fur diese Grundlagen- diskussion beleuchtet (II. 3.). Im zweiten Teil werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Fol- gewirkungen auf Rechtserzeugung (III. 1.), den wissenschaftlichen Stellenwert (III. 2.) und auf die Bedeutung und Ausgestaltung des Kirchenrechts aufgezeigt (III. 3. und 4.).

Randnummern in der Schreibweise „1.“ betreffen Thesen der „Munchner Schule", Randnummern in der Schreibweise „1)“ der „Wiener Schule" und in Form von „(1)“ ubereinstimmende Thesen beider Schulen.

II. Begrundung des kirchlichen Rechts

1. Kerygmatisch-sakramentale Begrundung der „Munchner Schule“

Die „Munchner Schule", unter anderem mit Klaus Morsdorf, Winfried Aymans, Ludger Muller und Re- migiusz Sobanski als deren Vertreter, halt eine spezifisch theologische Grundlegung des kanonischen Rechts fur geboten.

1. Kirchenrecht muss sowohl mit theologischen Sachverhalten begrundet als auch in theologischer Perspektive dargestellt werden; Kirchenrecht wird „theologisiert“. „Die Munchner Schule" stutzt damit Lehraussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Kirchenrecht steht nach diesem Verstandnis im Einklang mit der in der Kirche erfahrbaren Liebe, also mit Gott selbst (Art. 40, Art. 42 Abs. 1 u. 2 Vatll LG).3

2. Rechts- und Verwaltungshoheit mussen sich unmittelbar am Seelenheil der Menschen (salus animarum) orientieren (vgl. c 1752 CIC 1983). Denn Kirchenrecht schopft seine Legitimation fur Existenz und Natur gerade aus seiner fundamentalen Beziehung zum Glauben der Kirche und zur Offenbarung.

Diesen unmittelbaren Zusammenhang von Glaube und Kirchenrecht begrundet die ,,Munchner Schule" mit folgenden weiteren Thesen.4

a) ius divinum (positivum) bestimmt die Kirche als communio hierarchies

3. Kanonisches Recht ist im Kernbestand gottliches Recht und erfahrt seine innere Legitimation aus der Konkretisierung und Umsetzung des ius divinum.5

(1) communio-Theologie als Ausgangsbasis der Argumentationskette

4. Ausgangspunkt dieser Grundung ist die Wahrheit, dass Kirche Gottesvolk durch das Heilshandeln Jesu Christi im Heiligen Geist ist, also ein Volk aus gottlicher Berufung (ewiger neuer Bund, Mt 26,26­29; Lk 22,19-20; Art.4, 16 Vatll DV, Art. 9 Abs. 1 Vatll LG; vgl. c 840 CIC 1983).6 Diese Kirche (communio) ist zum einen die nach au&en hin sichtbare soziale Gemeinschaft der Glaubigen, das Gottesvolk (communio fidelium) mit Rechten und Pflichten durch Inkorporation mit Taufe (c 96 CIC 1983). Das ist ihr menschliches Element. Mit ihr zu einem einheitlichen Komplex verschmolzen ist die geistliche Gemeinschaft in Jesus Christus, der mystische Leib Christi (communio cum deo), dem unsichtbaren Gott (Kol 1,15; 1 Kor 10,17.27; Art. 7 Abs. 2 Vatll LG), dem gottlichen Element (Art. 8 Abs. 1 Vatll LG).7 Diese Kirche ist der Ort, in dem der Geist Christi prasent ist (Art. 8 Abs. 1 Vatll LG), unter anderem bei der Feier von Sakramenten.8

5. Weil die Aufteilung in eine menschliche und eine gottliche Ebene fur eine religiose Lebensgemeinschaft keinen Sinn ergibt, ist Recht eine Dimension des religiosen Lebens. Insofern besteht bereits strukturelle Identitat des kanonischen Rechts zum Mysterium.9

(2) Gottliches Gehorsamsgebot

6. Somit bestimmt Gottes Herrschaft die Kirche als das in hierarchischer Ordnung lebende Gottesvolk (communio hierarchies). Gott selbst gebietet durch seinen Gottessohn Jesus Christus Gehorsam (Mt6,16; Art. 42 Abs. 4 Vatll LG). Das Gottesvolk lebt somit in einer „heiligen Herrschaft" von Jesus Christus (Art. 7 Abs. 5, Art. 8 Abs. 1 Vatll LG), wahrend die kirchlichen Amtstrager nur den unsichtba­ren Herrn sichtbar reprasentieren (Art. 7 Vatll SC; Art. 28 Abs. 1 Vatll LG).10 Die Glaubigen sind Jesus Christus zu Gehorsam verpflichtet, weil sie Jesus Christus als Gottesmensch anerkennen.11

(3) Verwirklichung der Heilsordnung durch ius mere ecclesiae

7. AuGerdem wird die Heilsordnung durch Verkundigung im Rahmen einer Rechtskultur verwirklicht, welche durch die Gesetzgebung erzeugt wurde. Gesetzgeberische Tatigkeit wird so zu einer Form der Glaubensuberlieferung.12 Fur die Verpflichtungskraft des ius humanum muss damit das gleiche Prinzip gelten wie fur andere Formen der Uberlieferung.

8. Kanonisches Recht ist daher im Kernbestand gottliches Recht und erfahrt seine innere Legitimation aus der Konkretisierung und Umsetzung des ius divinum.

b) Funktionelle Ahnlichkeit von Wurzelsakrament der Kirche und Rechtssymbolen

9. Kirchenrecht muss sich weiterhin aus dem Wurzelsakrament der Kirche mit ihren Wesensvollzugen von Verkundigung und Heiligung (durch Feier der Sakramente) legitimisieren.13 14

10. Zum einen haben Sakramente Rechtscharakter. Sie sind sichtbare wirkungsmachtige Zeichen fur die unsichtbare Heilswirkung am Gottesvolk (Art. 21 Abs. 1 Vatll LG) und deshalb mit Rechtssymbolen verwandt. Ein Rechtssymbol weist namlich ebenfalls als sichtbares Zeichen auf eine unsichtbare Rechtswirklichkeit hin. Handauflegen kann bspw. Rechtssymbol zur Bekraftigung einer Vereinbarung sein. Gleichzeitig wurde Handauflegen von Gott als sakramentales Heilszeichen auserkoren (Apg 8,17; 19,6. Mk 10,16; Mt 19,13.15; Lk 24,50; 1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6). Die Kirche ist kraft ihrer Sendung selbst Wurzelsakrament (als Zeichen und Werkzeug, Art. 1 Vatll LG) und weist daher funktionale Ahnlichkeiten zu Rechtssymbolen auf.15 16

11. Zum anderen entfalten viele Sakramente unmittelbar Rechtswirkungen (Ehe gem. cc1134ff. CIC 1983, Weihe gem. c150 CIC 1983, Taufe gem. c 96 CIC 1983). Auch insoweit besteht ein enger Zusammenhang zwischen Sakramente und Kirchenrecht.

c) DerGlaubige als Rechtssubjekt

12. Die Kirche ist eine Gemeinschaft eigener Art (societas sui generis). Der Mensch wird durch Wiedergeburt kraft dem Sakrament der Taufe in die Kirche inkorporiert (c 849 CIC 1983). Allein dieser sakramentaler Akt macht einen Menschen zum Subjekt des kanonischen Rechts (c 96 CIC 1983). Der Mensch erscheint also kraft Taufe in zwei Ordnungen, einer naturlichen und einer ubernaturlichen. Er wird befahigt, fur den Aufbau der Kirche Werke und Dienste zu ubernehmen (Art. 12 Abs. 2 Vatll LG). Es ware sachwidrig, wenn kanonische Theorie und Praxis diese Dimensionen nicht berucksichtigen wurde.17

d) Wechselwirkungen zwischen kanonischem Recht und dem Glauben

13. Letztlich steht das menschliche Kirchenrecht (ius mere ecclesiae et ius humanum) selbst in enger Verbindung zum absoluten Glauben. Einerseits muss sich ius mere an seiner absoluten Dimension, dem Glauben der Kirche messen lassen. Anderseits wird gottliches Recht (ius divinum) im Lichte des zeitgema&en Glaubensverstandnisses erkannt und ausgedruckt. Drittens verwirklicht konsekutives ius mere als einfachgesetzliche Konkretisierung sowohl ius divinum als auch den Glauben selbst.18

e) Kanonische Folgerung aus theologischen Fakten

14. Als konsekutives Recht zieht Kirchenrecht schlie&lich die kanonischen Folgerungen aus seinen dahinterstehenden theologischen Fakten. Dieser Prozess wird anhand der theologisch gepragten Fundamentalcanones (z. B. cc 747, 840 CIC 1983) vergegenwartigt.19 Die Leitcanones enthalten theologische Leitsatze und Lehraussagen, die den religiosen Sinn der damit im Zusammenhang stehenden Regelungen beleuchten. In ihrer Praambelfunktion legen Fundamentalnormen mit ihren theologischen Leitsatzen und Lehraussagen gesetzgeberische Motive dar, dienen als Interpretationshilfe, fungieren als Rechtfertigung fur die Gesetzesreform und werben in der sakramental gepragten Glaubensgemeinschaft um Verstandnis und moralische Zustimmung fur die kanonischen Regelungen. Sie tragen so zu hoherer Akzeptanz und mehr Stabilitat des Rechtssystems bei.20 Der juristische Charakter des Kirchenrechts erscheint also nicht isoliert zu seinen theologischen Wurzeln, was ebenfalls fur eine theologische Grundlegung spricht.

f) Ableitung des Kirchenrechtsbegriffs

15. Kanonisches Recht ist damit das Recht, welches sich die Kirche in freier Selbstbestimmung aufgrund der in Jesus Christus geschehenen Offenbarung selbst gibt und damit ihre Lebensordnung verbindlich regelt. Es dient dem geistlichen Ziel des Gottesvolkes und wird determiniert und gleichzeitig begrenzt durch das ius divinum positivum (vgl. zum Gewohnheitsrecht c 24§ 1 CIC 1983).21

2. Theologisch-rechtsphilosophische Begrundung der „Wiener Schule"

1) Die „Wiener Schule", insbesondere mit Eva Maria Maier und Gerhard Luf als deren Vertreter, stellt die These auf, Kirchenrecht bedarf sowohl einer theologischen als auch einer rechtstheoretischen und -theologischen Legitimation und fundamental Grundlegung.22 Recht steht einerseits zwar im Zusammenhang mit gottlichem „Gesetz“ (ius divinum naturale) und dem Evangelium (ius divinum positivum). Doch anders als es die „Munchner Schule" vorsieht, leitet es sich davon aber nicht ab.23

2) Vielmehr bleiben neben theologischen Dimensionen allgemeine Gerechtigkeits- bzw. Rechtsstandards von essentieller Bedeutung. Vor allem die Sicherung von Freiheit und die Gewahrleistung eines effektiven Rechtsschutzes sind hervorzuheben. Kirchenrecht wird dadurch „enttheologisiert“.24

3) Insbesondere Freiheit und ein effektiver Rechtsschutz konnen nur durch das Kirchenrecht und mussen aber auch durch das Kirchenrecht in der communio gesichert werden, wie im Folgenden dar- gestellt wird.25

a) Praktische Notwendigkeit eines erweiterten Kirchenrechtsverstandnisses

Die „Wiener Schule" erkannte die Gefahr, dass das Recht nach kerygmatisch-sakramentalem Ver- standnis zu moralischen Anforderungen mutieren kann. Sie analysierte Missbrauchsanfalligkeiten in der Rechtspraxis und entwickelte zur Vermeidung dieser Risiken einen erweiterten Rechtsbegriff. Ein Rechtsbegriff, der neben einer theologischen Fundierung auch von freiheits- und rechtssichernden Rechtsstandards geleitet wird. Im Einzelnen:

(1) „Moralisierung“ des Kirchenrechts

4) Analysiert man kirchenamtliche Entscheidungen, werden „ein eingeschranktes Rechtsquellenverstandnis" und Tendenzen deutlich, dass das Kirchenrecht immer mehr im Sinne ei­nes „Liebesrechts“ interpretiert und entsprechend ausgeubt wird. Demgegenuber verlieren zentrale Rechtsprinzipien ihre Bedeutung.26

5) Das kanonische Recht erfahrt mit dieser Interpretation eine „Moralisierung“. Subsidiaritatsprinzip und bischofliche Kollegialitat erscheinen z. Bsp. nur noch als moralische Appelle an die hierarchischen Amtstrager.27 Wenn sich aber Glaubige nur noch auf moralische Apelle berufen konnen, treten zwei Gefahren auf.

(a) Gefahr eines innerkirchlichen Machtmissbrauchs

6) Erstens wird das kanonische Rechtssystem missbrauchsanfallig.28 Kirchliche Amtstrager haben ihre Vollmachten in der Vergangenheit fur sich z. T. immer wieder willkurlich zu ihren Gunsten instrumen- talisiert.29 Konnen Teilkirchen Ihre Rechte nicht auf konkrete Rechtssatze stutzen, lauft die Kirche somit Gefahr, dass sich die Jurisdiktionsgewalt zentralisieren und ein Hierarchiesystem auspragen wird. Die papstliche Primatialgewalt (potestas plena et universalis et immediata) wurde an Bedeutung gewinnen. Ein rein theologisch verstandenes Kirchenrecht kann als Legitimierung dienen, ist aber nicht geeignet, diesen Gefahren zu kontrollieren.30

7) Die Kirche bedarf eines zwischenmenschlichen „sozialen Rechts" (ius mere ecclesiae).31 Folglich besteht das Bedurfnis, den Kirchenrechtsbegriff (wieder) zu „enttheologisieren“.

(b) Innerkirchliche Konfliktpotentiale

8) Zweitens werden in der Glaubenswirklichkeit der communio fidelium immer wieder latente Konfliktpotentiale auftreten. Sie sind Realitat und durfen weder verschleiert noch mit moralischen Appellen verharmlost werden. Eine derartige Haltung ware einer Verwirklichung christlicher Liebe im Recht abtraglich; hierfur bedarf es ebenfalls juristisch-institutioneller Konsequenzen.32

(2) Notwendigkeit allgemeiner Gerechtigkeits- und Rechtsstandards

9) Mit einem rein theologisch verstandenen Rechtsbegriff konnten Teilkirchen und die einzelnen Glaubigen ihren Glauben nicht in freier Verantwortung verwirklichen. Es fehlen die ekklesiologischen Prinzipien und die zentralen rechtsethischen Forderungen nach effektivem Rechtsschutz, Ver- fahrensgarantien, nach Gliedschaftsrechten (Grundrechten der Glaubigen) sowie nach Rechten der Ortskirchen.33 Die „Entjuridizierung“ des Kirchenrechts, wie es von der „Munchner Schule" befurwortet wird, schlagt so ins andere Extrem um und fuhrt zur uberma&igen „Theologisierung“ des Kirchenrechts, was ihre Funktion als eine effektive Rechtsordnung beeintrachtigt (weitere Details siehe unten).34

b) Freiheitsfunktionale Konzipierung des Rechtsbegriffs

Eines dieser effektiven und elementaren Gerechtigkeitsstandards ist (erstens) die Freiheitssicherung.

(1) Freiheit zur Verwirklichung einer christlichen Lebensweise

10) Freiheit ist die „endliche Freiheit des Menschen", die fur einen in freier Verantwortung verwirklichten Glauben und dessen Ausubung notwendig ist. Diese menschliche Freiheit ist nicht grenzenlos, sondern endlich. Ihr ist immanent, andere Freiheiten vorbehaltslos anzuerkennen. Dieses Verstandnis wechselseitiger Freiheitswahrung lasst die Freiheitsraume des jeweils anderen bestehen. Sie entfaltet somit freiheitsgewahrende und -sichernde Kraft.35 Daher kann die Freiheit als MaGstab fur die christliche Lebensweise (imitatio dei, imitatio christi) dienen. Aufgabe des Rechts muss es nun sein, die imitatio dei zu verwirklichen. Freiheitssichernde Rechte sind also notwendig.

11) Ein weiteres Spannungsfeld der Glaubensrealitat lasst sich mit der Frage umschreiben, inwieweit ein moralisch handelnder Mensch in seiner Freiheit anerkannt wird Oder er zu einem Handeln gezwungen bleibt, welches mit seinem Gewissen nicht vereinbar ist. Menschen, hier die Glaubigen, mussen also mit dem Recht auf Gewissensfreiheit vor rechtlich instrumentalisiertem Gewissensdruck geschutzt werden, etwa in Form der - noch nicht positivierten - Epikie.36 Diese Freiheit darf auch hier nicht nur theoretisch gesehen, sondern muss als wirkliche Freiheit verstanden werden.37

(2) Sakramentale Grundlegung dieses Freiheitsanspruchs

12) lm so verstandenen Freiheitsprinzip kann zugleich die Selbstmitteilung Gottes in der Offenbarung fur eine endliche Freiheit des Menschen erkannt werden. Freiheit ist daher unverfallbare Wurde des Menschen (Art. 27 Vatll GS), Teil des Glaubensguts (depositum fidei) und Ordnungsfaktor im au&eren Bereich der communio zugleich. Die konkrete reale Freiheit eines Menschen kann im Sinne einer weiten fundamentalen Interpretation der „Sakramentalitat“ als „sakramentales Zeichen der Huld Gottes" verstanden werden.38

(3) Sicherung von Freiheit durch die Kirche

13) Folglich muss es das Ziel fur die Kirche sein, sich die Freiheit zu sichern, um den Glauben in der Kirche zu ermoglichen. Der Glaube ist also der Ausgangspunkt fur Begrundung, Ermachtigung, Vollmacht und Auftrag zur Gewahrleistung der Freiheit. Das Recht auf Freiheit findet also in der gottlichen Gerechtigkeit seine Legitimierung.39

c) Allgemeine Sakramentalitat der Kirche und Humanitat in der Welt

Zweitens muss die „allgemeine Sakramentalitat der Mitmenschlichkeit" Berucksichtigung finden.

[...]


1 Aymans, Kanonisches Kirchenrecht, Bd. 1, 1991, §5B.I. 2), Seite 66.

2 Sobanski, Die Methodologische Lage des Kirchenrechts, in: AkKR 146 (1982) 345-376, 353, 355.

3 Aymans, s. Fn. 1, Kanon. Kirchenrecht, § 5 B., Seite 62; Muller, § 2 Recht und Kirchenrecht, in: Haering/Rees/Schmitz, Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Auflage 2015, 12-31,22 f. u. 30 f.; Muller, „Theologisierung“ des Kirchenrechts?, AkKR 160 (1991) 441-463, 449; vgl. Maier, Was ist Rechtstheologie, in: OARR 2004, 211-220, 215; vgl. Maier, Communio versus Gerechtigkeit, in: OARR 2005, 63-87, 65.

4 Luf, § 4 Rechtsphilosphische Grundlagen des Kirchenrechts, in: Haering/Rees/Schmitz, Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Auflage 2015, 44-56, 47 f.; Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 27; Schmitz, § 6 Codex luris Canonici, in: Haering/Rees/Schmitz, Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Auflage 2015, 70-100, 76; Sobanski, s. Fn. 2, Methodologische Lage, 357; vgl. Dantine, Skizze einer Theologie des Rechts, in: Recht und Rechtfertigung, 1982, 290-298, 293.

5 Aymans, § 3 Die Kirche - Das Recht im Mysterium Kirche, in: Haering/Rees/Schmitz, Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Auflage 2015, 32-41, 33 f.; Aymans, s. Fn. 1, Kanon. Kirchenrecht, § 5B.I. 2), Seite 67.

6 Aymans, s. Fn. 5,§3 Die Kirche, 32 -41, 33.

7 Sobahski, s. Fn. 2, Methodologische Lage, 364, 366, 369; de Wall/Muckel, Kirchenrecht, 2009, § 16Rn. 6, 8.

8 Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 28.

9 Aymans, in: Haering/Schmitz, Lexikon des Kirchenrechts, 3. Auflage 2015, Stichwort„Kirchenrecht“ Anm. 3; Aymans, s. Fn. 1, Kanon. Kirchenrecht, §5B. II., Seite 29; Aymans, s. Fn. 5, §3 Die Kirche, 32-41, 37, 40; Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 28 f.; Sobahski, s. Fn. 2, Methodologische Lage, 371.

10 Aymans, s. Fn. 1, Kanon. Kirchenrecht, § 5 B. II. 1., Seite 30 f.; Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 24.

11 Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 24.

12 Sobahski, s. Fn. 2, Methodologische Lage, 374.

13 Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 25.

14 Aymans, s. Fn. 1, Kanon. Kirchenrecht, § 5 B. II. 2., Seite 31 f.; Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 25.

15 Aymans, s. Fn. 1, Kanon. Kirchenrecht, § 5 B. II., Seite 29; Aymans, s. Fn. 5, §3 Die Kirche, 32 - 41, 37; Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 28; Sobahski, s. Fn. 2, Methodologische Lage, 353.

16 Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 25: Das Sakrament der BuUe befreitvon alien Einschrankungen der kirchlichen Gliedschaftsrechte.

17 Sobanski, s. Fn. 2, Methodologische Lage, 366 f., 369.

18 Muller, s. Fn. 3, §2 Recht..., 27, 30; vgl. Muller, Theologische Aussagen im kirchlichen Gesetzbuch, Sinn - Funktion - Problematik: MThZ 37 (1986) 32-41, 38.

19 Muller, s. Fn. 3, §2 Recht 30; Muller, s. Fn. 18, Theologische Aussagen 39; Sobanski, s. Fn. 2, Methodologische Lage, 351, 360.

20 Aymans, s. Fn. 1, Kanon. Kirchenrecht, § 5 B. II., Seite 29; Luf, s. Fn. 4, §4 Rechtsphilosphische Grundlagen ..., 49; Muller, s. Fn. 3,§ 2 Recht 30 f.; Muller, s. Fn. 18, Theologische Aussagen 31 f., 34 u. 38 ff.; krit.: Potz, 1st die Sprache des Codex-Entwurfes verstandlich und zeitgemalJ?, in: Concilium 17 (1981) 601-605, 603, zitiert in: Muller, s. Fn. 18, Theologische Aussagen 37: Leitcanones konnen als Abschluss der nachkonziliaren Erneuerung erscheinen und die Gefahr in sich bergen, eher Grenze als Impuls zu sein.

21 Aymans, s. Fn. 1, Kanon. Kirchenrecht, § 5 A. I., Seite 26; Aymans, s. Fn. 9, Lexikon Anm. 1; vgl. Dantine, s. Fn. 4, Skizze 293.

22 Pree, § 5 Theorie des kanonischen Rechts, in: Haering/Rees/Schmitz, Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Auflage 2015, 57-69, 57.

23 Dantine, s. Fn. 4, Skizze ..., 295.

24 Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 218; Maier, s. Fn. 3, Communio ..., 77; vgl. Muller, s. Fn. 3, „Theologisierung“ ..., 446.

25 Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 219.

26 Luf, s. Fn. 4, § 4 Rechtsphilosphische Grundlagen ..., 53; Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 220; Maier, s. Fn. 3,

Communio 81 f.; vgl. Sobanski, s. Fn. 2, Methodologische Lage, 360.

27 Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 220; Maier, s. Fn. 3, Communio 82.

28 Maier, s. Fn. 3, Communio 77..

29 Maier, s. Fn. 3, Communio 82.

30 Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 220.

31 Dantine, s. Fn. 4, Skizze 294.

32 Maier, Kirchenrecht als christliche Freiheitsordnung, OAKR 35 (1985) 282-311, 310, zitiert in: Luf, s. Fn. 4, § 4 Rechtsphilosphische Grundlagen 50; de Wall/Muckel, s. Fn. 7, Kirchenrecht, Rn. 12.

33 Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 219.

34 Luf, s. Fn. 4, §4 Rechtsphilosphische Grundlagen ..., 54 f.; vgl. krit.: Muller, s. Fn. 3,§2 Recht..., 26 Fn. 50.

35 Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 219; Maier, s. Fn. 3, Communio ..., 73 f..

36 Luf, s. Fn. 4, §4 Rechtsphilosphische Grundlagen ..., 49.

37 Maier, s. Fn. 3, Communio ..., 77; Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 218, mit Verweis auf Pree, Zum Stellenwert und zum Verbindlichkeitsanspruch des Rechts in Staat und Kirche, OAKR 34 (199) 1-23, 3 ff.

38 Luf, s. Fn. 4, §4 Rechtsphilosphische Grundlagen 54 f.; Schillebeeckx, Gott, Kirche, Welt, 1970, 259 f., zitiert in: Maier, s. Fn. 3, Communio 75 f.

39 Maier, s. Fn. 1, Rechtstheologie, 218, in Fn. 28 und Fn. 29 mitweiteren Nachweisen auf Rahner, Grundkurs des Glaubens, Eine Einfuhrung in den Begriff des Christentums, 1976, 143 ff., und Schillebeecks, Gott, Kirche, Welt, 1970, 259 f.

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Details

Titel
Vergleich der zentralen Thesen der "Münchner Schule" und der "Wiener Schule" zum Stellenwert und zur Begründung des kirchlichen Rechts
Untertitel
Rechtstheologie
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät)
Veranstaltung
Kanonisches Kirchenrecht für Juristen
Note
2
Autor
Jahr
2017
Seiten
13
Katalognummer
V432970
ISBN (eBook)
9783668751101
ISBN (Buch)
9783668751118
Dateigröße
593 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Autor ist Professor für Wirtschaftsrecht an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management gGmbH. Noten wurden ohne Kommastellen vergeben.
Schlagworte
Rechtstheologie, Münchener Schule, Wiener Schule, Kirchenrecht, Kanonistik, Kerygmatisch-sakramental, ius divinum positivum, communio, ius mere, Moralisierung, Machtmissbrauch, Gerechtigkeitsstandards, Rechtsstandards, Freiheitsanspruch, effektiver Rechtsschutz, ius publicum ecclesiasticum, IPE, Sohm´sche Thesen, konziliare Ekklesiologie
Arbeit zitieren
Harald Kollrus (Autor:in), 2017, Vergleich der zentralen Thesen der "Münchner Schule" und der "Wiener Schule" zum Stellenwert und zur Begründung des kirchlichen Rechts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/432970

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