Vom unorthodoxen Marxisten zum demokratischen Pädagogen: Die Entwicklung der "kritischen Theorie" Max Horkheimers


Dossier / Travail de Séminaire, 2004

37 Pages, Note: 1,0


Extrait


Gliederung

A Einleitung
I Anfänge: Max Horkheimer und das Institut für Sozialforschung in der Weimarer Republik
I.1. „Café Marx“: Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt
I.2. Wo steht die „Frankfurter Schule“?
I.3. Denken lernen: Die intellektuellen Anfänge Max Horkheimers
a) Von Schopenhauer
b) über Heidegger, Hegel und Kant
c) zu Marx
d) Antrittsrede: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung
II Neue Heimat in der Neuen Welt
II.1. Eine „intellektuelle Arche Noah“: Das IfS und der Horkheimer-Kreis im Exil
II.2. Erfahrungen und Einschnitte
a) Sowjetunion: Gescheiterte Revolution
b) Deutschland unter Hitler: Ausgebliebene Revolution
c) Die USA – eine Alternative?
Exkurs: „Traditionelle und kritische Theorie“
II.3. und theoretische Reflexion
a) „Dialektik der Aufklärung“ und „Eclipse of Reason“
b) „Autoritärer Staat“
c) „Autoritärer Charakter“
III. Remigration: Kritische Theorie wird praktisch

B Schluss

Literaturverzeichnis

A Einleitung

Ende der 20er Jahre urteilt Max Horkheimer über die Philosophie eines Kollegen: „Die bloße Tatsache, dass seine Philosophie populärer Verwendbarkeit zugänglich, das heißt ihr pädagogischer Charakter, vernichtet sie als Philosophie.“[1] In den Wirren der Münchner Räterepublik nach der Novemberrevolution 1918 wird der junge Horkheimer verhaftet, er sympathisiert mit dem Sozialismus und glaubt an eine marxistische Revolution.

1948 kehrt Max Horkheimer aus dem US-amerikanischen Exil als amerikanischer Staatsbürger nach Deutschland zurück, um die Deutschen zu Mündigkeit, Toleranz und Demokratie zu erziehen. Im Gepäck hat er eine umfassende Gesellschaftstheorie, auf deren Basis Horkheimer an der Seite der US-amerikanischen Besatzungsmacht auf beispiellos vielfältige Weise an der pädagogischen Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit mitwirkt.

Wie ist diese Wandlung zu erklären? Und wie steht Horkheimers theoretische und politische Weiterentwicklung in Zusammenhang mit seinem Anspruch, eine „kritische Theorie“ zu vertreten, wie er ihn 1937 in einem Aufsatz formulierte?

An der Beantwortung dieser Frage versucht sich die vorliegende Arbeit in drei Teilen.

Das erste Kapitel stellt in zwei ersten Abschnitten mit dem Institut für Sozialforschung und dem unter dem Etikett „Frankfurter Schule“ bekannten Arbeitszusammenhang den institutionellen und sozialen Kontext Horkheimers in der Weimarer Republik dar. Der dritte Abschnitt umfasst die intellektuelle Entwicklung Horkheimers bis zur Emigration.

Die Zeit im US-amerikanischen Exil nimmt das zweite Kapitel in den Blick. Zuerst wird der historische und institutionelle Rahmen der Emigration nachgezeichnet. Der zweite Abschnitt stellt die weltgeschichtlichen Ereignisse dar, die als Erfahrungen und Einschnitte Einfluss nahmen auf das Denken Horkheimers. Bevor im dritten Abschnitt die Reflexionen dieser Erfahrungen in Horkheimers theoretischer und empirischer Arbeit untersucht werden, wird in einem kurzen Exkurs der Begriff der „kritischen Theorie“ eingeführt und geklärt, welche Ansprüche und Zielsetzung Horkheimer mit diesem Begriff verbindet.

Das dritte und letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Remigration Horkheimers und des Instituts und zeigt, welche praktischen Konsequenzen Horkheimer aus den im Exil gewonnen Einsichten zieht.

Bei der verwendeten Sekundärliteratur ist besonders der von Clemens Albrecht und anderen 1999 herausgegebene Sammelband „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule.“ und dessen umfangreiches Literaturverzeichnis zu erwähnen. Starken Wert legt die vorliegende Arbeit aber vor allem auf die Quellenarbeit. Hierbei wurde auf die von Gunzelin Schmid Noerr und Alfred Schmidt herausgegebenen Gesammelten Schriften Max Horkheimers (HGS) zurückgegriffen.

I Anfänge: Max Horkheimer und das Institut für Sozialforschung in Weimarer Republik

I.1. „Café Marx“ : Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt

Das Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ (IfS) stellte – trotz persönlicher und sachlicher Zersplitterungen während der Zeit des Exils - den im Prinzip konstanten institutionellen Rahmen für den Kreis von Wissenschaftlern rund um Max Horkheimer dar. Gegründet wurde es von dem „linken Mäzen und wissenschaftlichen Gelegenheitsarbeiter“[2] Felix Weil, Sohn reicher Eltern, und dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Albert Gerlach, einem linken Sozialdemokraten, der schon 1922 verstarb. Vorbild für das dem wissenschaftlichen Sozialismus gewidmete Institut war das Marx-Engels-Institut in Moskau. Als Zielvorgabe für das 1924 eröffnete Institut formulierte Weil, die marxistische Diskussion „jenseits der Zwänge des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs wie der ideologischen Engstirnigkeit einer kommunistischen Partei“[3] institutionalisieren zu wollen. Die 1922 gegründete „Gesellschaft für Sozialforschung e.V.“, der unter anderem auch Weils Vater, Richard Sorge und Max Horkheimer angehörten, fungierte als Träger der Weilschen Stiftung.

Organisatorisch war das IfS an die Universität Frankfurt angeschlossen. Institutsleiter waren sogleich Ordentliche Professoren an der Universität und fortgeschrittene Studenten konnten im Institut mitarbeiten, doch konnte es unabhängig von der Universität arbeiten und war direkt dem Kultusministerium unterstellt. Der Jurist und Professor für politische Ökonomie Carl Grünberg, überzeugter Marxist, war der erste Institutsleiter. Nach dem 1919 gegründeten Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln war es das zweite sozialwissenschaftliche Institut Deutschlands und bestand quer durch die Zeiten aus einer großen und somit durchaus heterogenen Gruppe von Personen. Unter Grünberg wurde am IfS über die politischen und theoretischen Probleme der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, über Wirtschaftsgeschichte und Fragestellungen im Kontext der Kritik der politischen Ökonomie geforscht.

Als Grünberg einen schweren Schlaganfall erlitt, übernahm Max Horkheimer, inzwischen Inhaber eines Lehrstuhls für Sozialphilosophie, 1931 die Leitung des Instituts. Unter seiner Ägide trat 1932 die „Zeitschrift für Sozialforschung“ (ZfSf) an die Stelle von Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“. Sie erschien bis 1941, als sie aus mehreren Gründen eingestellt werden musste, neun Mal und bildete die Plattform zur Entwicklung und Darstellung des Denkzusammenhangs Max Horkheimers und seines Kreises. Nach der Remigration wiederaufgenommen, war die ZfSf die einzige Institution der intellektuellen Kultur der Weimarer Republik, die das Exil überleben sollte.

Mit Aufnahme seiner Rektoratstätigkeit verlagerte Horkheimer den Schwerpunkt von der Geschichte auf die Theorie und interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Analyse der Gesellschaft. Überhaupt nahm Max Horkheimer vor allem in den 30er Jahren die zentrale ökonomische und organisatorische, aber auch theoretische Position ein und gilt in der Literatur als „das unbestrittene Schaltzentrum und der umsichtige Manager der Frankfurter Schule.“[4] Das inzwischen zur Floskel gewordene Bonmot Horkheimers aufgreifend, formuliert Albrecht zusammenfassend: „Die bekannte ‚Diktatur des Direktors’ erstreckte sich sowohl auf die Verteilung der Stiftungsmittel als auch auf die theoretischen Vorgaben.“[5]

Max Horkheimer also „Manager der Frankfurter Schule“. Was genau soll dieses Etikett „Frankfurter Schule“ aber bezeichnen? Nachdem in einem ersten Abschnitt nun mit dem IfS der institutionelle Rahmen für die wissenschaftlichen Aktivitäten Max Horkheimers und dessen zentrale Stellung innerhalb dieser Institution vorgestellt worden ist, soll nun mit dem Begriff „Frankfurter Schule“ das zweite der drei Etikette näher beleuchtet werden, die sich nicht nur in der Forschung zur Benennung des Gegenstands durchgesetzt haben und oft weitgehend synonym verwendet werden.

I.2. Wo steht die „Frankfurter Schule“?

Dass die Lehre mehrerer Wissenschaftler mit einem gemeinsamen Namen versehen wird, ist eher ungewöhnlich. Dennoch fand sich für den Frankfurter Arbeitszusammenhang, den Horkheimer noch in der Weimarer Republik um das IfS konstituierte, nach der Remigration des Instituts und eines Teils seiner Mitglieder der Name „Frankfurter Schule“. Diese Kennzeichnung suggeriert die Einheit eines Schulzusammenhangs, der – mit Ausnahmen – so nie bestanden hat. Sowohl die Zusammensetzung dieser Gruppe, als auch die von ihr vertretenen Ideen wechselten vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer Kontexte. Neben Max Horkheimer bilden der Philosoph und Literatursoziologe Theodor W. Adorno, der Literaturwissenschaftler Leo Löwenthal, der Nationalökonom Friedrich Pollock, der Kulturphilosoph Walter Benjamin, der Psychoanalytiker Erich Fromm, die Juristen Franz Neumann und Otto Kirchheimer und der Germanist und Sozialphilosoph Herbert Marcuse den festen Kern der Mitglieder des IfS. Die Gruppe jedoch, die sich im engeren Sinn als dauerhafte Arbeits- und während der schwierigen Zeit des Exils wohl auch als eine Art Schicksalsgemeinschaft verstand, im Exil und nach der Rückkehr nach Deutschland mit einheitlichen Plänen und Zielen in Erscheinung trat, kann nach Michael Book auf Horkheimer, Adorno und Pollock eingegrenzt werden[6]. Stets nahm jedoch Max Horkheimer die Rolle des „spiritus rector“ ein.

Nach den Gründung für die Stiftung einer Frankfurter „Schule“ befragt, erklärte Max Horkheimer, „daß eine solche Absicht so wenig bestanden hat wie bei vielen anderen ernsthaften Denkern“, ihm käme es darauf an, „die eigenen Ideen so klar wie möglich zu bestimmen und auszudrücken in der Erwartung, daß sie vielleicht ein Beitrag zum Guten sein könnten“[7].

Dennoch hat die bis heute andauernde Reputation, die der Wissenschaftlerkreis nach der Rückkehr einiger von ihnen aus der Emigration erlangt hat, stark mit der vereinfachenden Etikettierung „Frankfurter Schule“ zu tun. Versuche der Differenzierung und der Verteidigung gegen soziale und theoretische Kanonisierung scheiterten gegenüber den „Interessen von Journalistik und Sekundärliteratur zur übersichtlichen Kennzeichnung von Ideenströmungen und sozialen Gruppen."[8] Auch den Anhängern Horkheimers und Adornos in den politischen Kämpfen der späten 60er Jahre kam es gelegen, sich durch diese einfache Zuschreibung einem geschlossenen Lehrgebäude und Personenkreis zuordnen zu können.

Da das Etikett „Frankfurter Schule“ dem Horkheimer-Kreis erst nachträglich und von außen nach der Remigration in den fünfziger Jahren zugeschrieben wurde, einen real nicht existenten Schulzusammenhang suggeriert und Horkheimer selbst die Bezeichnung als „Professorenphilosophie“[9] ächtete, soll es als Bezeichnung für den in den 20er Jahren in Frankfurt konstituierten Arbeitszusammenhang um die Person Max Horkheimers in der vorliegenden Arbeit keine Verwendung finden. Stattdessen wird in Anlehnung an Clemens Albrecht und Helmut Dubiel auf den Begriff „Horkheimer-Kreis“ zurückgegriffen. Zum einen wird er der historisch wechselnden Zusammensetzung der Gruppe und der von ihr vertretenen Ideen eher gerecht, zum anderen unterstreicht er die oben ausgeführte zentrale Stellung Max Horkheimers innerhalb dieses Arbeitszusammenhangs, dessen Person und wissenschaftliche Aktivität im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen soll.

Nachdem nun auch die Einheit der Lehre und der sozialen Formation hinreichend historisch relativiert sind, wendet sich der dritte Abschnitt dem eigentlichen Thema der Arbeit zu, der Entwicklung der „kritischen Theorie“ Max Horkheimers, und behandelt damit nach dem „Institut für Sozialforschung“ und der „Frankfurter Schule“ das letzte und problematischste der drei Etikette, das als „Kritische Theorie“ die Geschichtsschreibung und öffentlichen Diskurse bis heute bestimmt.

Zunächst soll untersucht werden, wie sich der theoretische Ansatz Horkheimers bis zur Emigration entwickelte, auf welchen philosophischen Strömungen und Einflüssen er aufbaute und wie historische Ereignisse und biographische Erfahrungen sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten und geistigen Entwicklungslinien niederschlugen.

Die folgende Untersuchung kann sich in Hinblick auf Umfang und Fragestellung dieser Arbeit nur überblicksartig vollziehen und erhebt daher keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Stattdessen wird versucht, mit Schopenhauer, Kant, Hegel und Marx wesentliche Schlüsselfiguren für die intellektuellen Anfänge des jungen Horkheimers herauszugreifen und knapp zu skizzieren, inwieweit deren Ansätze in die Theorie Horkheimers miteingeflossen sind, auch in Form einer Weiterentwicklung oder Kritik.

I.3. Denken lernen: Die intellektuellen Anfänge Max Horkheimers

a) Von Schopenhauer…

Max Horkheimer entstammte einem konservativen jüdischen Elternhaus. Sein Vater Moses Horkheimer war Eigentümer mehrerer Textilfabriken. Schon früh machte der junge Horkheimer die Erfahrung väterlicher Macht, dessen Autorität, „durch die Struktur der bürgerlichen Familie, die erfolgreiche Unternehmerrolle und die in der jüdischen Tradition verankerte starke Stellung des Vaters“[10] gleich mehrfach abgesichert war. Als Lehrling im väterlichen Betrieb lernte Horkheimer 1911 Friedrich Pollock kennen, der ihm zum ersten Anreger für eine allmähliche Emanzipation vom konservativen Elternhaus wurde. Gemeinsam lasen sie mit Ibsen, Strindberg und Zola naturalistische Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, ließen sich von den sozialrevolutionären Schriften Tolstois und Kropotkin begeistern und studierten Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“. Inzwischen Juniorchef in einer der Fabriken seines Vaters geworden, erlebte Horkheimer hautnah den Widerspruch zwischen seiner privilegierten Position und dem elenden Leben der unter menschenunwürdiger Bedingungen vegetierenden Arbeiterinnen und Arbeitern. Deren Situation und die Berichte der Soldaten des inzwischen ausgebrochenen Ersten Weltkriegs, an dem er als Juniorchef und später „dauernd Untauglicher“ nicht aktiv teilnehmen musste und dem er von Anfang an ablehnend gegenüberstand, erfüllten ihn mit einem schlechten Gewissen gegenüber gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten. Diesen sozialen und politischen Protest gegen die existierende Gesellschaftsordnung und den Krieg und sein Verlangen nach einer besseren Gesellschaft formulierte er –noch relativ vage und mehr emotional berührt als theoretisch fundiert - in zahlreichen Tagebuchaufzeichnungen und Novellen, die Horkheimer am Ende seines Lebens unter dem Titel „Aus der Pubertät. Novellen und Tagebuchblätter“[11] veröffentlichte. In diesen Novellen und Tagebuchblättern wird deutlich, welche große Rolle die Philosophie Schopenhauers vor allem in den intellektuellen Anfängen Horkheimers spielt. Allein sechzehn Novellen beschäftigen sich mit dem Tod, dem Leiden und dem Problem der Seele. Schopenhauersche Motive finden sich denn auch in seinen späteren Arbeiten, z.B. in der „Dämmerung“, wo er in einer Notiz das Desinteresse der Metaphysiker an den Menschen und deren irdische Qualen beklagt[12]. Ein anderes Beispiel für das Aufgreifen der Lehre Schopenhauers findet sich in der 1930 veröffentlichten Studie „Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie“, in der er schreibt, es sei eine Tatsache, „daß der Weg der Geschichte über das Leiden und Elend der Individuen führt.“[13]

b) … über Heidegger, Hegel und Kant …

Einem „Bedürfnis nach gesellschaftlicher Orientierung folgend“[14] begann er 1919, ein Jahr nach der Novemberrevolution, in München ein Studium der Psychologie, Philosophie und Nationalökonomie und erlebte dort eher distanziert die Münchner Räterepublik. Beide Ereignisse, die Novemberrevolution und die Münchner Räterepublik, haben „zweifellos Horkheimers Auffassung der Gesellschaft und sein Weltbild in hohem Maße geprägt. War er schon wesentlich früher ein entschiedener Kritiker des kapitalistischen Gesellschaftssystems, so neigte er in seinen Münchner Jahren zum revolutionären Sozialismus“.[15]

Nach der Niederschlagung der Räterepublik wechselte Horkheimer mit Pollock nach Frankfurt. Zu seinen wichtigsten Lehrern in Frankfurt gehörten neben dem Gestaltpsychologen Schumann der Philosophie-Ordinarius Hans Cornelius, Neukantianer. Von Cornelius für zwei Semester nach Freiburg geschickt, hörte Horkheimer Vorlesungen Martin Heideggers, der dort als Assistent Husserls arbeitete. Heideggers Lehre beeindruckte den jungen Horkheimer. 1921 schrieb er an seine spätere Frau Rose: „Nicht formale Erkenntnisgesetze […], sondern materielle Aussagen über unser Leben und seinen Sinn haben wir zu suchen.“ Heideggers Motiv zum Philosophieren entspränge keinem „intellektuellem Ehrgeiz und einer vorgefassten Theorie, sondern jeden Tag aus dem eigenen Erlebnis“[16].

1925 habilitierte sich Horkheimer mit einer Arbeit über „Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie“, in der er zu dem Schluss kam, dass das „Reich der Ideen und das Reich der Natur nicht prinzipiell getrennt“[17] sind. Das Fazit seiner Habilitationsschrift zeigt, dass sich der junge Horkheimer für die Verbindung und Vermittlung von theoretischer und praktischer, am Konkreten orientierter Philosophie interessiert. Horkheimers Analyse der „Kritik der Urteilskraft“ demonstriert „seine Überzeugung, dass Praxis die Widersprüche der gesellschaftlichen Ordnung überwinden […] könne.“[18] Erkennbar ist hier der Einfluss Hegels, für den Erfahrung und normative Gebote nicht voneinander getrennt gedacht werden konnten. Auch die dialektische Logik Hegels fand die Zustimmung Horkheimers, wobei er dessen metaphysischen Ansatz grundsätzlich ablehnte, wie bereits das oben angeführte Zitat aus der „Dämmerung“ andeutet. Vielmehr versucht er, die von Hegel entwickelte dialektische Methode um eine materialistische Orientierung zu erweitern und so Philosophie und Gesellschaftsanalyse miteinander zu verbinden[19].

In seiner Antrittsvorlesung als Privatdozent im Mai 1925 über Kant und Hegel bringt Horkheimer dann auch seine „pejorative Einstellung bezüglich Kant und Kantianismus“ zum Ausdruck, was insofern eine Weiterentwicklung seiner Anschauung bedeutet, als er früher „im Grunde genommen die Hauptthesen des Königsberger Philosophen akzeptierte.“[20]

c) … zu Marx

Schon Anfang der 20er Jahre hatte Horkheimer begonnen, sich mit der Marxschen Theorie zu beschäftigen, die ihm die Chance bot, „die selbst erlebten Widersprüche seiner Klasse gesamtgesellschaftlich zu fassen und systematisch zu reflektieren.“[21]

Gunzelin Schmid Noerr betont, dass die marxistische Theorie für Horkheimer seit Mitte der 20er Jahre Voraussetzung und Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie gewesen sei[22]. 1970 befragt nach den Gründen seiner Beschäftigung mit Marx antwortete Max Horkheimer dem Interviewer Helmut Gumnior, die Gefahr des aufsteigenden Nationalsozialismus sei der Anlass gewesen: „Ich glaubte, nur durch eine Revolution könnte der Nationalsozialismus beseitigt werden und zwar durch eine marxistische Revolution.“[23]

[...]


[1] zitiert bei Albrecht, Clemens: Im Schatten des Nationalsozialismus: Die politische Pädagogik der Frankfurter Schule. in: Albrecht, Clemens/u.a. (Hgg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/Main 1999, S. 387.

[2] Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung. München/Wien 1987², S. 23.

[3] ebenda, S. 26.

[4] als ein Beispiel unter vielen, hier: http://www.egs.edu/faculty/schirrmacher/frankfurt.html (29.03.2004).

[5] Albrecht, Clemens: Die Erfindung der „Frankfurter Schule“ aus dem Geist der Eloge. in: Albrecht, Clemens/u.a. (Hgg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/Main 1999, S. 27.

[6] vgl. Book, Michael: Lästige Verwandtschaft: Die kritische Theorie im Kontext der 20er Jahre. in: Albrecht, Clemens/u.a. (Hgg.): Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/Main 1999, S. 37.

[7] Brief an Ghislaine Fischer vom 21. Januar 1972, in: HGS 18, S. 792 f.

[8] Albrecht, Clemens: Die Erfindung der „Frankfurter Schule“ aus dem Geist der Eloge, S. 33.

[9] ebenda, S. 30.

[10] Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, S. 56.

[11] vgl. im Folgenden HGS 1, S. 19 – 362.

[12] vgl. HGS 2, S. 354.

[13] HGS 2, S. 249.

[14] Löffler-Erxleben, Barbara: Max Horkheimer zwischen Sozialphilosophie und empirischer Sozialforschung (Beiträge zur Gesellschaftsforschung, Bd. 18) Frankfurt/Main/u.a. 1999, S. 9f.

[15] Rosen, Zvi: Max Horkheimer (Beck’sche Reihe Denker, Bd. 528) München 1995, S. 19.

[16] Brief an Rose Riehker vom 30. November 1921, in: HGS 15, S. 77.

[17] Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, S. 61.

[18] Jay, Martin: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Soziaforschung. Frankfurt/Main 1981, S. 68.

[19] vgl. Jay, Martin: Dialektische Phantasie, S. 64 f., Löffler-Erxleben, Barbara: Max Horkheimer zwischen Sozialphilosophie und empirischer Sozialforschung, S. 14 f.

[20] Rosen, Zvi: Max Horkheimer, S. 72.

[21] Löffler-Erxleben, Barbara: Max Horkheimer zwischen Sozialphilosophie und empirischer Sozialforschung, S.11.

[22] vgl. Schmid Noerr, Gunzelin: Nachwort des Herausgebers: Die philosophischen Frühschriften. Grundzüge der Entwicklung des Horkheimerschen Denkens von der Dissertation bis zur „Dämmerung“. in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften (Band 2: Philosophische Frühschriften 1922 – 1932), herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/Main 1987, S. 455 – 468.

[23] zitiert bei Löffler-Erxleben, Barbara: Max Horkheimer zwischen Sozialphilosophie und empirischer Sozialforschung, S. 12.

Fin de l'extrait de 37 pages

Résumé des informations

Titre
Vom unorthodoxen Marxisten zum demokratischen Pädagogen: Die Entwicklung der "kritischen Theorie" Max Horkheimers
Université
Humboldt-University of Berlin  (Philosophische Fakultät I)
Cours
HS "Geschichtswissenschaft und Soziologie im 20. Jahrhundert"
Note
1,0
Auteur
Année
2004
Pages
37
N° de catalogue
V43351
ISBN (ebook)
9783638411721
Taille d'un fichier
571 KB
Langue
allemand
Mots clés
Marxisten, Pädagogen, Entwicklung, Theorie, Horkheimers, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Jahrhundert
Citation du texte
Nina Dombrowsky (Auteur), 2004, Vom unorthodoxen Marxisten zum demokratischen Pädagogen: Die Entwicklung der "kritischen Theorie" Max Horkheimers, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43351

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