Die Bedeutung auf dem Prüfstein. Eine Inszenierungsanalyse von Frank Castorfs "Endstation Amerika"

Unter Berücksichtigung der dekonstruktivistischen Theorie von Jacques Derrida bis zur Postmoderne, sowie den ästhetischen Prinzipien des Regisseurs


Trabajo, 2003

25 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Dekonstruktion

III. Endstation Amerika
1. Figuren, Klischees und Diskontinuität
2. Die Kollision der Gegensätze
3. Die Musik als taktangebende Instanz

IV. Pathologie statt Pathos. Frank Castorfs Theater

V. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Frank Castorf ist seit der Spielzeit 1992/1993 Intendant der Volksbühne im Osten Berlins. Als verschmähter Künstler aus der DDR bekam er damit die Gelegenheit, die Bühne als Experimentierfeld zu nutzen und mit jungen avantgardistischen Künstlern vor allem gegen den Konservatismus und die Lethargie in der Kunst anzutreten. Was die Volksbühne insbesondere sucht, ist die Gefolgschaft des neuen Aufbruchs, meist Randgruppen, die sich im Theater nicht an der romantischen Schönheit ergötzen wollen. In diesem Sinne steht der Panzerkreuzer im alten Berliner Scheunenviertel in direkter Relation zu der Realität des Berliner Lebens. Es gibt keine Grenze mehr zwischen dem Stück und dem Diskurs des Lebens im Spannungs-feld zwischen West und Ost. Beide Seiten, Fiktion und Realität, werden zu Gleichberechtigten und bilden dabei ein Theater der Provokation und des Zynismus, das bei der Betrachtung zugleich auch eine Reflexion fordert.

[Ich bin] oft als politischer Regisseur missverstanden worden, obwohl mich eigentlich nur interessiert hat, wie man das Leben auf die Bühne bringen kann. Da ist ein so abgeschlossenes literarisches Gebilde mir oft nicht genug, weil ich über Extensivität eine andere Intensität suche. (...) Ich komme aus einer ganz anderen Zeit, aus dem Fußball, dem Rock `n’ Roll, aus dem herausgebrüllten Unmut, aus der Neurose. Da sind die Kategorien zerbrochen. Ich glaube nicht an einen ästhetischen Rettungsversuch über Werktreue, über das tiefe Hineinhorchen in ein Kunstwerk, an diese Art der Intensität aus dem poetischen Detail.[1]

Castorf interessieren in dieser Hinsicht nicht die seelischen Verwerfungen oder die bloßen pathetischen Gebilde zur Einfühlung des Zuschauers. Er sucht nach dem Darunterliegenden, nach zwischenmenschlichen Konflikt-situationen unserer Realität und reiht sich somit in die ästhetische Tradition der Dekonstruktivisten ein. Auch bei der Inszenierung von Endstation Amerika für die Salzburger Festspiele 2000, die den großen Bühnenerfolg A streetcar named desire von Tennessee Williams aufgreift, handelt es sich folglich um eine dekonstruktivistische Transformation, als deren Ergebnis ein neues Stück entstanden ist. Die zugrunde liegende Analyse möchte daher, beginnend bei Derridas philosophischen Schriften zur Dekonstruktion, die Charakteristik des Umformungsprozesses anhand von verschiedenen Kategorien untersuchen, um letzten Endes die Ergeb-nisse auf das Kunstverständnis von Frank Castorf anzuwenden.

II. Dekonstruktion

Dekonstruktion dient als Schlagwort für eine ganze Reihe von Strömungen in Philosophie, Architektur, Kunst und Literatur seit den sechziger Jahren. Dabei stellt der Begriff vor allem die transzendentale Frage nach der Möglichkeit von fixierter und formalisierter Bedeutung. Dekonstruktivisten lehnen die Vorstellung einer vorangegangenen, sich durch die Zeit bewahrenden Bedeutung ab. Für sie sind Zeichen ausschließlich Spuren, die auf die Differenz zu anderen Zeichen eines Systems verweisen. Die Zeichen gehen somit der Bedeutung voraus, die erst durch die Lektüre hergestellt werden muss. Aber auch die Lektüre konstituiert keinerlei starre Bedeutung, da jede Lesart einmalig ist und durch neue Kontexte revidiert werden kann. Deshalb, so die Schlussfolgerung, sind Interpretationen unentscheidbar, da es keine kohärente Weitergabe vom Autor über den Text zum Leser geben kann. Texte werden demnach so gelesen, dass nicht nur die ‘reine’ Bedeutung unabhängig vom sprachlich-textuellen Ausdruck negiert wird, sondern auch der gewohnte Zusammenhang zwischen Autor und Text, d.h. die Intention aufgegeben werden muss. Ziel ist, eine Schicht des Textes, von der der Autor nichts weiß oder die er zumindest nicht beherrscht und die auf diese Weise eine übergeordnete Auffassung des Textes eindeutig in Frage stellt.

In dieser Hinsicht ist das textliche Substrat für Dekonstruktivisten eine transparente Folie, bei der Bedeutungen hinterfragt und durchkreuzt werden, um letzten Endes Paradoxien offen zu legen. Dieses Nachspüren von im Text angelegten Widersprüchen hat ihren Ursprung in Nordamerika und ist auf den französischen Philosophen Jacques Derrida zurückzuführen. Dessen Sprachkritik beruht in erster Linie auf der vorstrukturalistischen Zeichendefinition, d.h. die klassische Repräsen-tationsfunktion eines Signifikanten, der ein eindeutiges und festgelegtes Signifikat vertritt. Dieser Zeichenbegriff bezieht sich nach Derrida jedoch ausschließlich auf das Gesprochene. Die Sprache steht folglich über der Schrift, das Signifikat über dem Signifikanten, was nach der Terminologie Derridas als „phonozentrisch“ bezeichnet wird und zugleich ermöglicht, dass sich eine Bedeutung ohne einen an ihr mitwirkenden Bedeutungs-träger denken lasse.

Der Begriff des Zeichens impliziert immer schon die Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifikant, selbst wo diese (de Saussure zufolge) letzten Endes nichts anderes ist als die zwei Seiten ein und desselben Blattes. Unangetastet bleibt somit ihre Herkunft aus jenem Logozentrismus, der zugleich ein Phono-zentrismus ist: absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns.[2]

Wenn Derrida folglich von Dekonstruktion[3] spricht, dekonstruiert er also die Präsenz des Sinns, die geschlossenen Strukturen, die Taxonomien, die festen Signifikant-Signifikat-Strukturen und nicht zuletzt die Nutzung von Bedeutung ohne Bedeutungsträger. Statt dessen stellt er ihnen den verallgemeinernden Textbegriff entgegen, der die Gesamtheit der Zeichen als Grundlage nimmt.

Das was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere. (...) Folglich setzt dieser neue Begriff des Textes voraus, daß man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisungen fixieren kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre, etwas, das nicht es selbst wäre. (...) Der Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem neuen Sinne. (...) Der Text ist die Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisungen.[4]

Eine große Rolle spielt dabei der Begriff différance, der ermöglichen soll, die Arbeit für die Vielfalt offenzuhalten, die Derrida in den Texten sieht. Der von Derrida geprägte Neologismus différance kann nur verstanden werden, wenn man beide Möglichkeiten der Bedeutung des französischen Verbs différer, nämlich zum einen ‘aufschieben’ und zum anderen ‘verschieden, unterschiedlich sein’, einbezieht. Dieser Neologismus soll den Unterschied, die Differenz auf drei verschiedene Weisen ausdrücken. Er markiert das Spiel der Differenzen, bezeichnet den Aufschub des letztendlichen Sinns, sowie das Sichentziehen der Bedeutung, da différance von différence akustisch nicht zu unterscheiden und nur das geschriebene Wort zu differenzieren sind. Die Konsequenz ist, dass ein Sinnursprung nicht zu benennen ist und ein eventueller letztendlicher Sinn durch die so entstehende Signifikantenkette ins Unendliche aufgeschoben wird. Letzten Endes ist es Ziel Derridas, mit Dekonstruktionen eine Möglichkeit zu finden, den totalisierenden Reduktionismus, der ausschließlich singuläre Bedeutungen und Interpretationen zulässt, zu vermeiden. Durch die Rücknahme der Begrenzung öffnet sich der Textbegriff einem breiteren Spektrum und damit zusätzlichen Kontexten. Diese différance im Sinne der Verschiedenheit fördert auf diese Weise die Aufmerksamkeit für die Vielschichtigkeit der Realität und treibt aus der Diskrepanz zwischen These und Widerspruch eine neue Dialektik voran. Der Text wird zu einer Struktur ohne sinngebendes Zentrum, in der konträr zu einem auktorialen Textverständnis alle Beziehungen, und zwar ohne jede Hierarchie, möglich sind. Aus dem Speziellen des ursprünglich festgelegten Zeichen-begriffes entsteht so eine Sensibilität für verwandte Kontexte gesell-schaftlicher, geschichtlicher bzw. sozialer Art.

Im Zusammenhang mit der breit angelegten Kritik am Strukturalismus Derridas in den 60er und 70er Jahren gab der Philosoph, obwohl er sich nur peripher mit theatertheoretischen Fragen beschäftigte[5], auch entscheidende Impulse für die poststrukturalistische Theatertheorie, sowie die Theatergeschichte seit den 70er Jahren. Prägend hierfür war ein Kanon diverser Künstler wie Robert Wilson, Richard Foreman, die Wooster Group, Laurie Anderson, Meredith Monk, Reza Abdoh sowie Jan Fabre. Die Arbeiten der genannten Künstler sind derart heterogen, dass sie heute unter dem vage definierten Deckbegriff des Postdramatischen Theaters[6] zusammengefasst werden. Auffallend ist jedoch, dass sie mit der Tradition eines dramenbasierten Theaters europäischer Prägung radikal brechen. Der dramatische Text wird in Anlehnung an die philosophischen Abhandlungen Derridas als das primär relevante Zeichensystem in Frage gestellt und von nun an lediglich als Theatertext bezeichnet. Diese Dehierarchisierung bzw. Re-Theatraliserung des theatralen Zeichenrepertoires ermöglicht in der Konsequenz szenische Vorgänge, deren Sinnhaftigkeit nicht primär durch den Dramentext verbürgt ist.

Das Drama ist in die Zeichensysteme verlegt, die Rollenpersonen, Raum, Zeit und Handlungskontinuum generieren, es wird zum Drama der Dekonstruktion der dramatischen Konstituenten. Damit sprengt das postmoderne Theater den Rahmen eines Text- und Handlungstheaters, d.h. einer konsequent konsekutiven Narration oder eines ebensolchen Diskurses. Die einzelnen Zeichensysteme und ihr Zusammenspiel werden desartikuliert, parallel entwickelt und addiert bzw. montiert. Es entstehen neue Zeiten, Räume und Personen, die auf Modelle „dezentrierter Subjektivität“ verweisen.[7]

Der Destruktion des dramatischen Textes folgt somit die Aufwertung der visuellen und akustischen Zeichen. Das postmoderne Theater nimmt die Materialität des Schauspielers zum Vorbild und setzt eine ganze Reihe von Materialitäten in eine Reihe. Diese Dehierarchisierung hat zur Folge, dass der dramatische Text somit nicht der Ausgangspunkt einer linearen Transformation auf die Bühne ist. Vielmehr wandelt sich die Wort-für-Wort Transformation zu einer subversiven Lesart mit dem Ziel, das konventio-nalisierte Begriffsystem und das Textgefüge aufzubrechen. In Anlehnung an die philosophischen Schriften Derridas geht auch die Dekonstruktion auf der Bühne zwischen Rede und Schrift, zwischen Natur und Kultur, zwischen Materie und Geist. Die nun novelliere Frage, was der Text sonst noch bedeuten kann, bewirkt in der Folge die Zerlegung des ontologischen Gerüstes eines Textes, um eingeschliffene Hierarchien zu entkräften bzw. verborgene Widersprüche aufzudecken. Der Text bleibt bei der dekonstruktivistischen Rezeption folglich bestehen. Allein dessen dramatische Struktur wird in seine materiellen Bestandteile zerlegt, den übrigen Zeichensystemen gegenübergesellt, die in der Summe nun einer programmatischen Lesart und Methode, bzw. einer übergeordneten Isotopie unterworfen sind.

[...]


[1] Castorf, Frank: Für eine andere Vitalität auf der Bühne. In: Süddeutsche Zeitung. 30.12.1992.

[2] Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt a.M. Suhrkamp. 1974.

[3] Synthese aus Konstruktion und Destruktion. Damit gibt der Name bereits Auskunft über die Sache: Indem er die einander widersprechenden Vorgänge des Aufbauens und Abbauens vereinigt, zielt er auf Formen wie Paradox oder Ironie, die das, was der Logik nach sich ausschließt, zusammenbringen und zwar ohne in ein Entweder-oder bzw. ein zeitliches Nacheinander auszuweichen.

[4] Derrida, Jacques: In: Engelmann, Peter (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Stuttgart. Reclam. 1990. S 21

[5] Derrida veröffentlichte in seinem Band Die Schrift und die Differenz Aufsätze zu Antonin Artaud

[6] Vgl. Lehmann, Hans-Thies. Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. Verlag der Autoren. 2001

[7] Finter, Helga: Das Kameraauge des postmodernen Theaters. In: Thomsen, Christian W. (Hrsg.): Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters. Heidelberg. 1985. S. 47

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Detalles

Título
Die Bedeutung auf dem Prüfstein. Eine Inszenierungsanalyse von Frank Castorfs "Endstation Amerika"
Subtítulo
Unter Berücksichtigung der dekonstruktivistischen Theorie von Jacques Derrida bis zur Postmoderne, sowie den ästhetischen Prinzipien des Regisseurs
Universidad
LMU Munich  (Institut für Theaterwissenschaft)
Curso
Regietheater: Grüber und Castorf
Calificación
1,0
Autor
Año
2003
Páginas
25
No. de catálogo
V43462
ISBN (Ebook)
9783638412438
ISBN (Libro)
9783656619888
Tamaño de fichero
619 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Regietheater, Bedeutung, Prüfstein, Grüber, Castorf, Eine, Inszenierungsanalyse, Frank, Castorfs, Endstation, Amerika, Berücksichtigung, Theorie, Jacques, Derrida, Postmoderne, Regietheater, Grüber, Castorf
Citar trabajo
Bogdan Büchner (Autor), 2003, Die Bedeutung auf dem Prüfstein. Eine Inszenierungsanalyse von Frank Castorfs "Endstation Amerika", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43462

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