Spherical Joint Mechanism und biologische Wölbphänomene

Emergence of biological and artificial vaulting phenomena


Redacción Científica, 2018

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Spherical Joint Mechanism und biologische Wolbphanomene

Emergence of biological and artificial vaulting phenomena

Je mehr ich uber die Kinematik biologischer Wolbstrukturen rede, umso weniger werde ich verstanden. Ich muss mich also um einfache Bilder bemuhen ohne die immer komplexer werdende Physik aus den Augen zu verlieren.

Michel Felgenhauer, Berlin im Sommer 2018

Uber Spherical Joint Mechanism (SJM)

Das Mittelhandknochensystem der Wirbeltiere, insbesondere die menschliche Handwurzel ist anatomisch eines der komplexesten Gelenke aller biologischen Bewegungsapparate. Die Menschenhand stellt als Tast- und Greiforgan den mit Abstand differenziertesten Abschnitt der oberen Extremitat dar. Hande sind auch fur den medizinischen Laien ein Wunderwerk. Sich der Menschenhand, der Wirbeltierhand, der Delfinhand letztendlich wissenschaftlich zu nahern, ja nahern zu durfen, geschieht voller Respekt gegenuber den betrachteten Lebewesen und auch gegenuber den Fachleuten auf diesem Gebiet, den Naturwissenschaftlern. Ich werde nachfolgend von Systemen und von Getrieben, von Polygonen und Gelenken sprechen wohlwissend, dass die beschriebenen Biosysteme „Wesen" sind. Meine Forschung an Mittelhand- knochen von Wirbeltieren begann vor etwa 12 Jahren; damals wie heute ist diese Forschung nicht einmal ein sekundares noBudged-Projekt. Was mich aber nicht davon abhalt, es als wichtig zu betrachten. Am Anfang dachte ich, dass das Handgelenk der Wirbeltiere eine ratselhafte Artikulation mit lustig geform- ten Gelenkflachen sei, doch in den Jahren lernte ich, dass ich mich vor einem kinematischen Problem niemals bislang erlebter Komplexitat befand und befinde. Das Vorankommen ist langsam und zah. Falls es denn ein Voran- kommen ist. Die Sicht des Ingenieures, des Designerns, meine technische Sicht ist verstellt von dem Anspruch etwa sehen zu wollen, das als Mechanismus taugt. Es ist die passive Kinematik selbst, die gefunden werden will. Es ist das Dilemma des Epimetheus, des vielleicht nicht so Genialen, des Technik- und Wissenschafts-Hedonisten, des ewig Nachdenkenden, im Sinne des erst verspatet gedacht Habenden. Dieser Epimetheus ist es, der den Apfel in der Hand wiegt und spurt, wie selbst willenlose Finger das Objekt umgreifen, es kann sich also nur um eine passive Mechanik handeln. Was solle es auch anderes sein. Von seinem Bruder belachelt bestellt er sich eine Knochenhand im Internet, nicht ohne vorher prahlerisch zu wetten, dass diese - nun wirklich und tatsachlich als tot und passiv zu bezeichnende Hand, sich ebenfalls um den Apfel schlieftt. Die Knochenhand tut es nicht, was Epimetheus auf die Praparation derselben schiebt.

Daruber hinaus gibt es auch vernunftige Herangehensweisen. Es sind in der Vergangenheit zahlreiche Forschungsansatze und Ergebnisse uber die Analyse der Vertebratenhand bekannt. Und Ihrer Synthese, etwa von Kurvengetrieben die Kraft- und Bewegungsubertragung zwischen benachbarten Knochenober- flachen zu entschlusseln suchen. Eine valide biomechanische Modellierung und Simulation des Gesamtbewegungsverhaltens des Mittelhandknochensystems steht aber bis heute aus, beziehungsweise es liegen nur Untersuchungser- gebnisse nicht in einer fur die Ubertragung auf artifizielle Systeme geeigneten Form vor. Gehen wir dennoch von einer eher vulgarwissenschaftlichen Sicht auf die Analyseaufgabe zu und befassen uns mit dem, was vor dem Techniker offensichtlich ans Licht tritt. Die Hand als Getriebe. Nun gibt es unterschiedliche Ansatze zur Beschreibung von spharischen Gelenkplat- tengetrieben. Ein Weg fuhrt uber die Betrachtung Platonischer Korper. Die Gemeinsamkeit Platonischer Korper mit Gelenkgetrieben besteht darin, dass sie beide im Wesentlichen aus beweglich miteinander verbundenen Teilsystemen, hier Polyedern, bestehen. Polyeder werden ihrerseits durch ebene Polygone beschrieben. Die Unterschiede bestehen in den Konstruktions- prinzipien und den Forderungen oder Voraussetzungen, die an das jeweilige Modell gestellt werden; diese Forderungen haben jedoch erheblichen Einfluss auf die Eigenschaften einesjeden artifiziellen spharischen Gelenkgetriebes. Beginnen wir mit den Grundbausteinen spharischer Gelenkgetriebe, den beweglichen Gelenkketten und definieren diese als „bewegliche Verbindungen von Korpern, die infolge ihrer dauernden Beruhrungen an bestimmten Stellen in ihren gegenseitigen Bewegungen beschrankt sind." Es gilt nun Bedingungen zu finden dafur, dass eine bestimmte Bewegungs-freiheit - der Zwanglauf - bei einem Modell vorhanden ist. Die hier avisierten raumlichen Mechanismen konnen in Facetten (raumlicher) Polyeder einbeschrieben werden. In diesem Zusammenhang sind die Begrifflichkeiten und fundamentalen Eigenschaften von konvexen Polyedern von Interesse. Ein Polygon[1] entsteht wenn in einer Zeichenebene mindestens drei verschiedene, nicht kollineare Punkte miteinander verbunden werden durch Strecken (Kanten oder Seiten), sodass ein geschlossener Polygonzug mit ebenso vielen Ecken entsteht. Polygone, die einen Polyeder bilden, werden Facetten genannt. Eine Kante ist genau die Strecke an einem Polyeder, an der sich zwei Facetten beruhren. Eine Ecke ist der Punkt, an dem mehrere Kanten zusammenstoften.

Definition: Ein (konvexes) Polyeder ist ein geschlossener raumlicher Fest- korper der von endlich vielen ebenen Facetten begrenzt wird. Ein Polyeder ist dann ein konvexes Polyeder, wenn zwei Punkte auf dem Polyeder verbunden werden und deren Verbindungsstrecke ganz im Polyeder enthalten ist.

Der altgriechische Mathematiker und Philosoph Platon[2] sah regelmaftige Polyeder als symbolische Reprasentation der vier Elemente Feuer (Tetraeder), Wasser (Ikosaeder), Erde (Wurfel), Luft (Oktaeder) und des gesamten Kosmos (Pentagondodekaeder). In den Jahrhunderten danach und in der westlichen Welt gewann die Beschaftigung mit Polyedern mehr und mehr an praktischer Bedeutung. Leider reichen meine Recherchen nicht in das fernostliche Altertum, auch wenn streng davon auszugehen ist, dass sich chinesische Mathematiker mit dem Problem der Raum- und Flachenteilung intensiv beschaftigt haben mussen. Wir sehen uns gerne als die von der ABC-Welt verwohnten Herren uber das Wissen der Dinge und ahnen nichts von den Schatzen der Anderen, nur weil wir nicht mit Ihnen reden. Oder nach ihnen fragen. Epimetheus hat auch seine arrogante Seite. Das Werk Zhao Shuang etwa fasst die Mathematik chinesischer Gelehrter der Zeit 100 v. Chr. bis 100 n. Chr. zusammen und stellt Formeln und Rechenanweisungen zur Astronomie und Vermessungskunde (Zhou Bi Suan Jing Zhou, Gnomon-Schatten-Rechnung) ein. Aus anderen Quellen ist bekannt, dass Jiu das Werk Chiu Chang Suan Shu (CCSS, Jiu Zhang Suan Shu) im vierten Jahr der Jingyuan Herrschaft von Prinz Chenlieu bearbeitete; dieses ist das Jahr 263 n. Chr. in der westlichen Welt. Das Werk Jius enthalt Aufgaben zur zweifachen Regula Falsi (Ying Buzu Shu), wie man sie erst 1202 in einer arabischen Schrift findet[3]. Es ist beschamend.

Egal. Fur konvexe Polyeder gilt der Euler'sche Polyedersatz: e - k + f = 2, wenn ein Polyeder e Ecken, k Kanten und f (ebene) Facetten besitzt.

Definition Polyeder: Ein Platonischer Polyeder[4] bzw. ein regelmaGiger Polyeder ist ein konvexer Polyeder, dessen Facetten aus kongruenten, regelmaGigen Vielecken besteht und an jeder Ecke gleich viele von diesen aufeinanderstoGen.

Mehrere Polygone konnen eine Polygonkette bilden. Ebene Polygonketten konnen unter bestimmten Bedingungen regelmaGige oder unregelmaGige Parkette bilden, die ihrerseits wieder eben oder raumlich sein konnen. Wir werden uns in diesem Zusammenhang zunachst nur mit sehr einfachen ebenen Polygonstrukturen und mit beweglichen Parketten befassen. Bewegliche, zunachst ebene Polygonstrukturen sind fur mich deshalb so interessant, weil - ebenfalls unter bestimmten Bedingungen - materialisierte Parkette aus regel­maGigen und unregelmaGigen Polyedern, unter mechanischer Beaufschlagung Mechanismen entwickeln, die als technische oder biologische Getriebe arbeiten und (in Natur und Technik) zwangslaufige (passive) kinematische Aufgaben erfullen. Die hierbei auftretenden „Mechanismen" konnen einfach oder sehr komplex sein.

Definition Mechanismus: Ein ebener Mechanismus besteht aus einer Anzahl von (starren) Korpern (Systemen) deren freie Beweglichkeit durch Gelenke (Verbindungen) eingeschrankt wird. Besitzt ein Mechanismus n Systeme so spricht man von einer n-gliedrigen kinematischen Kette.

Ein ebener Parkett-Mechanismus besteht aus einer Anzahl von zunachst starren Polygonen, deren Beweglichkeit durch Kantengelenke eingeschrankt wird. Besitzt ein Parkett-Mechanismus n Polygonbausteine, so sprechen wir von nun an von einem n-gliedrigen kinematischen Parkett. Wir werden unten sehen, dass sich die kinematische Wirklichkeit dann verkompliziert, wenn wir auf reale Systeme schauen. So lange die Lagerungen spielfrei und die Polygonbausteine des kinematischen Parkettes starr angenommen werden durfen (kinematische Wirklichkeit), ist auch die passive Zwangslaufigkeit des Getriebes vergleichs-weise leicht zu verstehen und der Mechanismus intuitiv zu erahnen. In der mechanischen Realitat, die sich von unserer theoretischen Wechselwirklichkeit der modellierten Welt auf unseren Schreibtischen, Kreide- tafeln und Computerbildschirmen gerade durch die elastischen und plastischen Eigenschaften realer Stoffe und Fugungen unterscheidet, tauchen „kinema- tische Schmutzeffekte" auf, emergiert ein (in aller Regel) raumliches Verschie- bungs- Verzerrungs- und Verformungsgebaren der betrachteten Polygon- Parkett-Struktur, dessen kinematische Analyse sich meiner formalen metho- dischen und leider wohl auch meiner intellektuellen Moglichkeiten entzieht. Wir werden also in diesem Aufsatz gelegentlich den formalen (geschlossenen) Pfad verlassen und anregen, die kinematische Komplexitat des Gesamtsystems oder seiner Teile durch den Einsatz iterativer Verfahren, wie etwa der Finite Element Methode (FEM) situativ zu vermindern. Dies nur als Ankundigung. Wir werden des Weiteren sehen und erklaren, dass die erwunschten Wolb und Verformungsaufgaben gerade erst durch jene kinematischen Schmutzeffekte „realisiert" werden, die in realen, von der mechanischen Wechselwirklichkeit unterschiedenen, Polygonketten auftauchen. Interessanter Weise werden biologische Kinematiken in erster Linie durch Ubertragungsungenauigkeiten in den „Lagern" ermoglicht, wahrend die Polygone (Knochen und Knochelchen) als starr erscheinen, in artifiziellen Kinematiken werden es in erster Linie die Strukturverformungen sein, die die (ich werde nicht mude zu betonen) erwunschte Wolbphanomenologie auftauchen, emergieren. Klaren wir trotz allem weiter die Begriffe und formalen Instrumente. Ich sprach oben von intelligenter Mechanik i-mech und davon, dass Polygon-Parkett-Strukturen bei mechanischer Beaufschlagung Mechanismen entwickeln, die zwangs-laufige, passiv-kinematische Aufgaben losen.

Definition Zwanglauf: Eine Anordnung ist eine Zwanglaufkette genau dann, wenn jedes Glied eines Mechanismus gegenuber jedem anderen nur eine einpaarige Bewegung durchfuhren kann.

Das klingt zunachst einmal banal. Und ich zumindest war an dieser Stelle der Meinung das Problem - wenn auch noch nicht gelost, so immerhin - verstanden zu haben, obwohl die Zuversicht, den Begriff des Zwanglaufs lokaler Mechanismen auf strukturierte Wolbphanomene wie beispielsweise der Beweglichkeit der Parkette aus regelmaftigen und unregelmaftigen Polyedern transformieren, durchaus einige Risse aufweist. Zwangslaufketten konnen beliebig viele Elemente besitzen; ihre Beweglichkeit nimmt aber keinen Falls auch beliebige Grade an. Vorausbestimmbares kinematisches Gebaren hoher- gradiger Polygon-Parkett-Strukturen kann im Sinne einer Zwangslaufigkeit definiert und kinematisch bestimmt sein; es (das Polygon-Parkett) kann aufterdem kinematisch uberbestimmt sein und es kann kinematisch unterbe- stimmt sein. Wie ist das zu verstehen? Theoretikern hilft hier nur noch die Theorie.

Zum theoretischen Freiheitsgrad eines Parketts aus regelmaftigen und unregelmaftigen Polyedern betrachten wir den Getriebefreiheitsgrad F, der genau die Anzahl der Antriebsparameter bemisst, die bei einem Getriebe einzu- leiten sind, damit alle Getriebeglieder eine eindeutige Bewegung ausfuhren, etwa so: Es seien die Korper A und B in der Ebene. Untersucht man die Bewegung eines Korpers A gegenuber des anderen Korpers B, so ist der Freiheitsgrad die Anzahl der unabhangigen reellen Parameter, die Korper A gegenuber Korper B positionieren. Bei Modellen artifizieller Getriebe und damit kinematisch eindeutigem Wechselwirkungsgeschehen idealstarrer Getriebeglie­der und idealer Lagerungen ist der theoretische Getriebefreiheitsgrad F=l. Daraus resultiert eine passive (Getriebe-) Zwangslaufigkeit: Ein Getriebe sei zwangslaufig genau dann, wenn der Stellung der Antriebsglieder in der kinematischen Kette die Stellungen der ubrigen Glieder eindeutig zugeordnet sind. Die Beweglichkeit eines Korpers wird durch seine Freiheitsgrade quantifiziert. Im kartesischen (X,Y,Z)-Raum[5] besitzt jedes Glied einer kinemati­schen Kette r=6 Freiheitsgrade. Ein frei im Raum beweglicher Korper vermag dem entsprechend drei Translationen entlang der Koordinatenachsen und drei Rotationen um eine Koordinatenachse auszufuhren. In unserem Fall sind die e Glieder der kinematischen Kette Polygone, deren Kanten die verknupfenden Gelenke. Ein Kantengelenk, das nur eine Rotation ermoglicht, hat einen lokalen Freiheitsgrad, ebenso ein reines Schubgelenk. Fur e Polygone der kinema­tischen Kette mussen alle jeweils lokalen Gelenke f betrachtet und uber den e Polygonen im Spiel aufgetragen werden. Der Freiheitsgrad eines Gelenks (lokaler Gelenkfreiheitsgrad) zwischen zwei Korpern A und B ist die Anzahl der unabhangigen reellen Parameter, die von dem Gelenk bei der Positionierung von Korper B gegenuber Korper A noch frei einstellbar sind (z.B.: die Schiebstrecke bei einem Schubgelenk oder der Drehwinkel bei einem Schar- nier). Fur den allgemeinen idealisierten dreidimensionalen Fall soll gelten:

Allgemeine Zwangslaufbedingung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Durch die Verkettung mit anderen Korpern wird ein Korper in seiner Beweglichkeit eingeschrankt und seine Freiheitsgrade reduzieren sich ent­sprechend der Art der Verbindung auch dann, wenn das Getriebe zwanglaufig ist und die Stellung des Antriebgliedes die Stellung der ubrigen Glieder eindeutig bestimmt.

Zwangslaufbedingung im Raum

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zwangslaufbedingung in der Ebene

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

mit: f lokalen Gelenkfreiheitsgraden von n Polygonen und e Gelenken

Gegeben sei ein Mechanismus mit n starren Korpern, die durch g Gelenke mit dem (jeweils lokalen) Freiheitsgrad f gekoppelt sind. Einer dieser Korper sei nun fixiert. Von den n starren Korpern sind nun also nur noch (n-1) restliche Systeme in der Ebene frei beweglich. Weil jedes Teilsystem in der ebene 3 Freiheitsgrade besitzt, kann das aus den restlichen (n-1) Teil-Systemen bestehende Gesamtsystem 3(n-1) Einzelbewegungen durchfuhren. Diese Bewe- gungen werden durch 3(n-1) unabhangige Parameter gegenuber dem fixierten System beschrieben. Baut man nun ein Gelenk mit dem lokalen Freiheitsgrad f ein, wird die Beweglichkeit (weiter und weiter) eingeschrankt und fuhrt dazu, dass die Beweglichkeit eines Korpers pro Gelenk um (3-f) vermindert wird. Das ist die tradierte Argumentation zur Analyse ebener Getriebe nach Grubler[6]. Sind im System alle Gelenke eindeutig und damit die lokalen Gelenkfreiheits- grade f=1 und ist der theoretische Gesamtfreiheitsgrad der kinematischen Kette (gemaft der obigen Definition) eindeutig F=1, so finden wir fur ein beliebig komplexes Getriebe mit e Gelenken eine Bedingung fur passiven Zwanglauf in der Ebene, also fur den Gesamtfreiheitsgrad F=3(n-1)-2e nach P.L. Tschebyschev[7] (mit f lokale Gelenkfreiheitsgrade n Polygone, e Gelenke), beziehungsweise die auf ebene Polygongetriebe ubertragene mechanische Zwangslaufigkeit:

Zwanglaufbedingung ebener Gelenkketten: 2e-3n + 4 = 0

Kommen wir noch einmal auf die gelenkigen Verknupfungen der Polygone zuruck. Wir sehen in der Abbildung 1 links ein Gelenkgetriebe mit zwei Wechselwirkungspartnern. Die Glieder der hier betrachteten sehr einfachen Gelenkkette sind die Polygone A und B die sich gegenseitig an jeweils einer Kante beruhren und somit ein Verbindungsgelenk GAB bilden. An der Drehachse dieses Scharniergelenks konnen die beiden miteinander verbunde- nen Polygone hin- und herklappen. Die Gerade, auf der die Verbindungskante rotiert ist die Drehachse des Gelenks GAB. Uberprufen wir nun dieses einfache Gelenkplattengetriebe mit der Formel von Tschebyschev und wenden die oben gefundene Zwanglaufbedingung ebener Gelenkketten (2e-3n+4=0) an, sehen wir, mit (e=1) Gelenken (vom Typ f=1) und (n=2) Polygonen das Tschebyschev- Kriterium erfullt. Erweitern wir aber die ebene Getriebekette um ein weiteres Glied und fugen das Polygon C an die existierende Form, sehen wir mit (e=3) Gelenken (vom Typ f=l) und (n=3) Polygonen die Zwanglaufbedingung das Tschebyschev-Kriterium ( 2e-3n+4=l) plotzlich nicht! mehr erfullt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.:1 Zweigliedriges Gelenkplattengetriebe (links im Bild) und ein erweitertes Getriebesystem.

Was ist passiert? Das Tschebyschev-Kriterium fur ebene Polygongetriebe wollen wir an dieser Stelle mal nicht anzweifeln; aber vielleicht ist es fur unsere Fragestellung einfach nicht geeignet. Gleichzeitig fallt bei einem zweiten Blick (Abb.l) zu unserem Getriebe auf, dass sich das Polygonsystem trotz dreier Gelenke wie eine starre Scheibe verhalten wird und in dieser Gelenkkette keinerlei Bewegung ubertragen werden, weil sich die Gelenke gegenseitig „sperren". Intuitiv stimmen wir dieser Kinematik zu; vielleicht, weil sie uns gelegentlich als Konstruktionslosung begegnet, vielleicht weil unser raumliches Denken sofort die Y-Kante eines Tetra-Pack aufblitzen lasst, der wir ja im Alltag als stabilem System Vertrauen schenken. Die Tragfahigkeit der Y-Fuge kann man mit einem kleinen Pappmodell leicht uberprufen. Ah, sieh da Tschebyschev, wer hatte das gedacht? So eine schlaue Formel!

Aber wie so oft im Leben ist die jahe Enttauschung vorprogrammiert und fest eingebaut. Denken wir uns hierzu ein mogliches Gelenkplattenszenario, das ebenfalls aus drei Wechselwirkungspartnern besteht, aber definitiv eine Klappe ausbildet (kleines Bildchen, rechts), so sehen wir leider unmittelbar, dass das Tschebyschev-Kriterium fur die Betrachtung der passiven Zwangskinematiken unserer Gelenkgetriebe nicht geeignet ist, was sich am nebenstehenden Dreikorpersystem, welches drei Gelenke aber nur zwei Gelenkebenen! besitzt und somit ebenfalls ein Klappengelenk ausbildet, leicht uberprufen lasst. Wie wir spater herausarbeiten, war die Tschebyschev-Argumentation aber nicht umsonst.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Tschebyschev-Kriterium ist fur unsere erweiterungsoffenen Systeme nicht hinreichend. Um das Bewegungsgebaren vielgliedriger ebener Gelenggetriebe - wir sprachen oben uber das komplizierte Mittelhandknochensystem der Vertebratenhand - zu analysieren, mussen wir wesentlich mehr Informationen uber das (Komplex-) System ermitteln und in unser vereinfachendes Modell einspeisen. Offenbar gibt es uber den lokalen Freiheitsgrad, den wir lediglich eine Scharniereigenschaft jedes Gelenks zuordnen hinaus, noch ubergeordnete Kriterien, die der Frage nachgehen ob und wie viele Gelenkebenen der Getriebekette gemeinsame Schnittpunkte besitzen, ob sie sich (in der dreidimensionalen Betrachtung) schneiden und in welchen Winkeln sie das tun. Gleichzeitig werden wir, ahnlich den Nullstaben in Fachwerkstrukturen, Getriebeketten mit (sagen wir vielleicht: ) „NULL-Gelenken", also gelenklosen Fugen ausstatten (mussen), um die komplexen Funktions- und Gestaltungs- verhaltnisse biologischer Gelenkkettenstrukturen und deren Umsetzung in artifizielle Systeme abbildbar zu machen. Derartige Gelenkketten sind weder Stand der Technik, noch fur irgendjemanden von (technischem) Interesse. Ehrlich gesagt wusste ich jetzt auch nicht zu behaupten, in welcher Branche derartige Gelenkgetriebe eine bedeutsame Rolle spielen konnten. Zum Gluck mussen wir uns um Nutzen, Sinn, Kosten und Renditen keinerlei Gedanken machen und durfen nach Herzenslust herumforschen[8].

Fur die Betrachtung ebener Getriebeketten die auch NULL-Gelenke erlauben, lohnt sich ein kurzer Ausflug in die Kunst des Origami, bzw. des Kirigami. Dies kann nutzlich sein, weil die asiatische Faltkunst von einem ebenen Blatt Papier ausgehend, durch Falze und Knicke und in einer Erweiterung des Kirigami durch Schnitte spharische Konstrukte erzeugt. Die ebene Ausgangskonfiguration erinnert in unserem Zusammenhang an die mechanische Ruhelage ebener Gelenkkettengetriebe. Origami und Kirigami waren in den vergangenen Jahren Forschungsgegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen. Dabei ist die alte japanische Kunst des Papierfaltens in unserer modernen Zeit zugleich der Versuch, grundsatzliche Prinzipien der ENTFALTUNGEN in der belebten Natur zu entschlusseln. Gemeint sind die Tragflugel von Wirbeltieren und in einer ganz famosen Weise jene der Insektenwelt, Bluten- und Blattknospen, die Gehirnwendungen und unsere Gene. Letztendlich. Der Energieumsatz und der Materialeinsatz ist beim Origami und Kirigami oftmals ein Minimum schon deshalb, weil die Ausgangslage des Verfaltungsprozesses das ebene Blatt ist. Dieser Umstand ist fur einen technischen Optimierungs- prozess nicht unerheblich immer dann, wenn aus technologischen Zwangen die Zwischenprodukte einer technischen Ausfuhrung aus einem ebenen Halbzeug heraus konfektioniert werden sollen, um dann in einem spharischen Gewolbe Funktionen, etwa Kraft- und/oder Arbeitsprozesse zu ermoglichen. Das Qrigami zwingt daruber hinaus den mit derartigen Konstruktionen Betrauten, Material und Gestalt als eine nicht trennbare Einheit aufzufassen. Deshalb wohl liegt in den Gestaltungswissenschaften der Fokus auf der Voraussage kinematischer Eigenschaften des Gefuges und in einem zweiten Schritt der Programmierung so genannter „rekonfigurierbarer mechanischer Meta-materialien"; insbeson- dere die Rekonfiguration der planaren Ausgangslage. In Erweiterung des klassischen Origami erlauben Kirigamiinspirierte Metamaterialien neben Knicken und Falzen auch gelenklose Fugen, also Gestaltungselemente, die keine (ruckstellenden) Momente ubertragen und damit Einfluss auf den - wie wir gerade gesehen haben komplexen - Gesamt-freiheitsgrad der Konstruktion ausuben. Auch der Begriff der Metamaterialien konnte fur die Analyse biologischer und der Synthese artifizieller Gelenkkettenstrukturen auf eine nutzliche Metapher fuhren. Woruber nachzudenken bleibt. Die Zulassigkeit von Schnitten, zusatzlich oder entlang eines Falzes fuhrt in der Kirigamikunst zu mechanischen Instabilitaten und elastischen Konstrukten, die hier (im Kirigami) den Vorrat an Anfertigungsmethoden derlei raumlicher Gestalt erweitern.

[...]


[1] Polygone werden typischerweise nach der Zahl der Ecken benannt: Dreieck (Trigon), Viereck (Tetragon), Funfeck (Pentagon), Sechseck (Hexagon), Siebeneck (Heptagon), Achteck (Oktogon, aber englisch octagon), Neuneck (Nonagon), Zehneck (Dekagon), Elfeck (Hendekagon), Zwolfeck (Dodekagon),

[2] Platon (altgriechisch nAaiwv Platon, latinisiert Plato; * 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina; + 348/347 v. Chr. in Athen) war ein antiker griechischer Philosoph. Er war Schuler des Sokrates, dessen Denken und Methode er in vielen seiner Werke schilderte. Die Vielseitigkeit seiner Begabungen und die Originalitat seiner wegweisenden Leistungen als Denker und Schriftsteller machten Platon zu einer der bekanntesten und einflussreichsten Personlichkeiten der Geistesgeschichte. https://de.wikipedia.org/wiki/Platon

[3] Herrmann, D. (2016) Mathematik im Mittelalter. Die Geschichte der Mathematik des Abendlandes mit ihre Quellen in China, Indien und im Islam. SpringerVerlag ISBN 978-3-662-50289-1.

[4] Die Platonischen Korper (nach dem griechischen Philosophen Platon) sind die Polyeder mit groGtmoglicher Symmetrie. Jeder von ihnen wird von mehreren deckungsgleichen (kongruenten) ebenen regelmaGigen Vielecken begrenzt. Eine andere Bezeichnung ist regulare Korper (von lat. corpora regularia). Es gibt funf platonische Korper. Ihre Namen enthalten die griechisch ausgedruckte Zahl ihrer begrenzenden Flachen und eder als Abwandlung des griechischen Wortes s6pa (hedra) (s.auch Polyeder), deutsch (Sitz-)Flache. Tetraeder (Vierflachner, Oberflache aus vier Dreiecken), Hexaeder (Sechsflachner, Oberflache aus sechs Quadraten) - der Wurfel, Oktaeder (Achtflachner, Oberflache aus acht Dreiecken), Dodekaeder (Zwolfflachner, Oberflache aus zwolf Funfecken) - auch Pentagondodekaeder genannt, um auf die Oberflache aus Funfecken als seine Besonderheit hinzuweisen Ikosaeder (Zwanzigflachner, Oberflache aus zwanzig Dreiecken). https://de.wikipedia.org/wiki/Platonischer K%C3%B6rper

[5] In der Ebene zwei translatorische und ein rotatorischer Freiheitsgrad (F=3), im Raum drei translatorische und drei rotatorische Bewegungsmoglichkeiten (F=6).

[6] Die Grublerschen Gleichungen wurden 1917 und 1918 fast gleichzeitig und unabhangig voneinander sowohl von Martin Furchtegott Grubler (1851-1935) als auch von Maurice d'Ocagne aufgestellt. Sie werden in der Technik verwendet, um die Beweglichkeit von Getrieben zu beschreiben. Dabei werden die Beweglichkeiten der die Getriebeteile verbindenden Gelenke betrachtet.

[7] Diese Problematik wurde bereits 1869 von P.L. Tschebyschev untersucht und spater von M. Grubler (siehe oben) als Zwanglaufkriterium allgemeiner Getriebe abgleitet und formuliert.

[8] Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland: Art 5 (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html

Final del extracto de 42 páginas

Detalles

Título
Spherical Joint Mechanism und biologische Wölbphänomene
Subtítulo
Emergence of biological and artificial vaulting phenomena
Curso
Bionik
Autor
Año
2018
Páginas
42
No. de catálogo
V434691
ISBN (Ebook)
9783668760967
ISBN (Libro)
9783668760974
Tamaño de fichero
1344 KB
Idioma
Alemán
Notas
Je mehr ich über die Kinematik biologischer Wölbstrukturen rede, umso weniger werde ich verstanden. Ich muss mich also um einfache Bilder bemühen, ohne die immer komplexer werdende Physik aus den Augen zu verlieren.
Palabras clave
spherical, joint, mechanism, wölbphänomene, emergence
Citar trabajo
Michel Felgenhauer (Autor), 2018, Spherical Joint Mechanism und biologische Wölbphänomene, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/434691

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