Inwiefern trägt die chronische Krankheit Multiple Sklerose zur sozialen Ungleichheit im Erwerbsleben bei?

Chronische Krankheit als Ursache sozialer Ungleichheit im Erwerbsleben


Hausarbeit, 2018

43 Seiten


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

1. Einleitung

2. Grundlagen und der Stand der Forschung
2.1 Soziale Ungleichheit - Was ist soziale Ungleichheit?
2.2 Multiple Sklerose
2.2.1 Multiple Sklerose als chronische Krankheit
2.2.2 Beschreibung des Krankheitsbildes
2.2.3 Symptomatologie
2.2.4 Multiple Sklerose und Erwerbsleben
2.3 Theorien zur Problemstellung

3. Hypothesen auf Grundlage der bisherigen Forschung und Erläuterung des Untersuchungsdesigns
3.1 Hypothesen bezüglich der Forschungsfrage
3.2 Auswahl und Begründung der Forschungsmethode
3.2.1 Das problemzentrierte Interview und der Ablauf der Forschung
3.2.2 Begründung und Erläuterung der Auswertungsmethode
3.3 Auswertung und Interpretation der Ergebnisse

4. Fazit, Diskussion und Ausblick

5. Quellenverzeichnis

6. Anhang
6.1 Problemzentriertes Interview: Leitfaden
6.2 Transkript Problemzentriertes Interview mit MS-Patientin
6.3 Analyse durch Kategoriensystem
6.3.1 Kategorie 1 Studien- und Berufswahl
6.3.2 Kategorie 2 Existenz
6.3.3 Kategorie 3 Bewerbung
6.3.4 Kategorie 4 Arbeitsumstände

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit wird im Rahmen des Seminars „Diskurs soziale Ungleichheit - Benachteiligung“ durchgeführt. Hier sollen mit Hilfe eines Interviews zum Themenkom- plex „Soziale Ungleichheit im Alltag“ Benachteiligungen aufgedeckt werden. In der fol- genden Hausarbeit wird sich mit der chronischen Krankheit Multiple Sklerose (MS) und möglichen Ungleichheiten im Erwerbsleben der Betroffenen auseinandergesetzt. Die Multiple Sklerose stellt mit etwa 140000 Betroffenen die häufigste neurologische Er- krankung in Deutschland dar (Kern & Ziemssen, 2013, S. 95). Sie manifestiert sich im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 40 Jahren (Flachenecker & Zettl, 2006, S. 11). Darum ist die Auseinandersetzung mit den Ungleichheiten im Erwerbleben der chronisch Erkrankten evident. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern die Multiple Sklerose zur sozialen Ungleichheit im Erwerbsleben beiträgt.

Dazu wird zunächst definiert, was soziale Ungleichheit nach Berger und Powell bedeu- tet. Hier wird der Themenkomplex „soziale Ungleichheit“ mithilfe von Beispielen zu MS veranschaulicht. Daran schließt sich die Beschreibung des Krankheitsbildes der MS an. Dieser Abschnitt wird so unterteilt, dass der Leser nachvollziehen kann, was eine chro- nische Krankheit ist, welche Charakteristika und Symptome die MS mit sich bringt, die wiederrum Einfluss auf das Erwerbsleben der Betroffenen haben. Nachdem die beiden großen Themenkomplexe beschrieben sind, soll der Stand der Forschung zum Thema der Hausarbeit dargestellt werden, der von empirischen Daten untermauert wird. Diese Grundlagen werden dann genutzt, um Hypothesen zu entwickeln, die der Beantwortung der Forschungsfrage dienen. Damit diese beantwortet werden können, wird ein prob- lemzentriertes Interview mit einer MS-Patientin durchgeführt. Dieses wird dann in Anleh- nung an die strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring analysiert, um so eine Beant- wortung der Forschungsfrage zu ermöglichen. Im letzten Kapitel werden dann die Er- gebnisse der Analyse zusammengefasst und diskutiert. Außerdem soll ein Ausblick ge- geben werden, warum der Abbau von Benachteiligungen chronisch Kranker im Erwerbs- leben wichtig ist.

In der Arbeit wird auch auf eine mögliche Einschränkung der Berufs- und Studienwahl eingegangen, obwohl diese nicht direkt zum Erwerbsleben gehören. Hier wird jedoch der Grundstein für den späteren Beruf gelegt, der wiederum bestimmt wie sich die Lebens- bedingungen für die Betroffenen entwickeln. Die Arbeit wird nur einen Einblick in Be- nachteiligungen MS-Kranker im Erwerbsleben geben und ist nicht repräsentativ.

2. Grundlagen und der Stand der Forschung

2.1 Soziale Ungleichheit - Was ist soziale Ungleichheit?

Die vorliegende Arbeit versucht zu klären, ob die chronische Krankheit MS zur sozialen Ungleichheit im Erwerbsleben der Betroffenen beiträgt. Dazu muss nun geklärt werden, was soziale Ungleichheit überhaupt ist. Solga, Berger und Powell (2009) sehen die so- ziale Ungleichheit als Phänomen der Sozialstruktur. Dabei definieren sie (2009) die So- zialstruktur als ein relativ stabiles und dauerhaftes System sozialer Beziehungen in einer Gesellschaft. Die Grundlage für diese Beziehungen ist die Verteilung gesellschaftlich wichtiger Ressourcen, wie Kapital, Bildung oder Einkommen. Entsteht aus dieser Ver- teilung ein ungleicher Besitz an Ressourcen zwischen sozialen Gruppen, so erwachsen daraus soziale Ungleichheiten (S. 13 f.). In dem Gefüge der sozialen Beziehungen neh- men Menschen als Angehörige sozialer Gruppen soziale Positionen in der Gesellschaft ein, die wiederum mit bestimmten Erwartungen und Ressourcen verbunden sind.

Das bedeutet den Autoren zufolge (2009), dass die Ressourcen und Erwartungen relativ unabhängig von den Personen existieren, die die sozialen Positionen einnehmen. Sie betonen jedoch auch, dass diese Erkenntnis nicht ausschließt, dass die Personen den durch die Position bereitgestellten Handlungsspielraum gemäß ihren Fähigkeiten unter- schiedlich nutzen können (S.14). Haben die Menschen jedoch „einen ungleichen Zugang zu sozialen Positionen […] und [sind] diese Positionen systematisch mit vorteilhaften oder nachteiligen Handlungs- und Lebensbedingungen verbunden“ (S. 15), so spricht man von sozialer Ungleichheit.

Die Autoren (2009) fügen hinzu, dass diese Definition von sozialer Ungleichheit, im Ge- gensatz zu anderen Positionen, nicht darüber urteilt, wie gerecht bzw. ungerecht oder legitim soziale Ungleichheit ist. Außerdem grenzen sie die Verschiedenartigkeit von der sozialen Ungleichheit ab, da nicht alle Unterschiede zwischen Menschen zwangsläufig zu sozialer Ungleichheit führen (S.16). Entscheidend ist jedoch, dass auch die Verschie- denartigkeit zu einem Phänomen sozialer Ungleichheit wird, wenn die Unterschiede ei- ner gesellschaftlichen Determinierung unterliegen und ihnen somit gewisse Eigenschaf- ten und Ressourcen zu geschrieben werden. Dieses Phänomen spielt für chronisch Kranke eine Rolle, da ihnen aufgrund ihrer Krankheit Eigenschaften von der Gesellschaft zugeschrieben werden, die ihre Handlungsbedingungen beeinflussen können. Die Auto- ren unterscheiden daher vier Strukturebenen, die die Prozesse bestimmen und erklären sollen, wie eine solche soziale Konstruktion zur sozialen Ungleichheit führt (S. 16).

Menschen sind Träger sozialer Merkmale, die die Autoren (2009) als Determinanten be- zeichnen. Diese Merkmale (wie Bildungsniveau oder Geschlecht) weisen Menschen so- zialen Gruppen zu, die „die Grundlage für Vor- oder Nachteile in bestimmten Handlungs- und Lebensbedingungen darstellen“ (S.16). Können die Merkmale kaum oder nicht durch die Person verändert werden, so sprechen die Autoren von zugeschriebenen De- terminanten. Sind die Merkmale wiederum von der Person erworben und auf ihr Zutun zurückführbar, nennen die Autoren (2009) sie erworbene Merkmale. Es wird jedoch fest- gehalten, dass diese Determinanten, trotz ihres biologischen Charakters, soziale Kon- strukte sind, die erst durch einen sozialen Prozess zu sozialen Positionen führen.

Eine chronische Krankheit ist nach dieser Theorie eine zugeschriebene Determinante, weil die Betroffenen ohne ihr Zutun dieses Merkmal tragen und sie an der Diagnose nichts ändern können. Trotzdem ist zu beachten, dass die Determinante „chronisch krank“ auch ein soziales Konstrukt ist und vom gesellschaftlichen Kontext geprägt ist. Demnach könnten Attribute die der Krankheit Multiple Sklerose in der Gegenwart zuge- schrieben werden, in der Zukunft entfallen, wenn zum Beispiel die Forschung ein Heil- mittel findet.

Die wichtigsten Arten sozialer Vor- und Nachteile definieren die Autoren (2009) als die Dimensionen sozialer Ungleichheit. Zu ihnen zählen unter anderem die Grunddimensio- nen Einkommen, Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse und andere zentrale Lebens- bedingungen. Dabei kann zwar eine Dimension zu einer erworbenen Determinante wer- den, aber nicht zu einer zugeschriebenen (S. 18). Wenn wir also eine chronische Krank- heit als zugeschriebene Determinante annehmen, so kann aus ihr zwar Ungleichheit (zum Beispiel beim Zugang zu einer Arbeitsstelle) resultieren, aber sie selbst ist keine Ungleichheit.

Die sozialen Prozesse, die die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, durch ihre Vor- und Nachteile, sozial relevant werden lassen, werden als Ursachen sozialer Ungleichheit de- finiert (S. 19). Diese Prozesse sind der Grund für die Entstehung und die Reproduktion sozialer Ungleichheit und sind Voraussetzung für ihre Benennung (S.19). Auf das Thema dieser Arbeit bezogen wird also das Merkmal „chronisch krank“ zur Determinanten, wenn sie über einen sozialen Mechanismus (z.B. durch die statistische Diskriminierung) mit Vor- und Nachteilen behaftet wird. Chronisch kranke Menschen würden dann zum Bei- spiel keine Anstellung finden, da der Arbeitgeber einen höheren Krankheitsausfall auf- grund der Krankheit vermutet und die Person für diese Arbeit als ungeeignet empfindet. Diese Entscheidung wird dann auf der Grundlage von statistischen Annahmen über die soziale Gruppe der chronisch Kranken getroffen, obwohl die Betroffenen verschiedenste Symptome haben können und dadurch unterschiedlich belastbar sein können. Die Kon- sequenzen die sich aus den Vor- und Nachteilen der Determinanten ergeben sind die Auswirkungen sozialer Ungleichheit (S. 20). Diese Auswirkungen können laut den Auto- ren (2009) weitere Ungleichheiten in den Lebensbedingungen hervorrufen, sich aber auch in unterschiedlichen Mentalitäten oder Lebensstilen niederschlagen. Um bei unse- rem Thema zu bleiben könnte das bedeuten, dass der ungleiche Zugang zu einer An- stellung zu einem erhöhten und ungleichen Arbeitslosigkeitsrisiko führt. Mit Hilfe dieser Struktureben wird es also möglich soziale Ungleichheiten zu bestimmen. Damit ist diese Theorie zentral für das Thema dieser Arbeit, da durch sie erkennbar gemacht werden kann, welche Dimensionen mit der Determinanten Multiple Sklerose zusammenhängen und welche Mechanismen zwischen ihnen wirken. Dadurch kann es möglich werden, soziale Ungleichheiten im Verhältnis von Multipler Sklerose und dem Erwerbsleben zu erkennen.

2.2 Multiple Sklerose

2.2.1 Multiple Sklerose als chronische Krankheit

Im vorangegangen Kapitel wurde sich dem Thema soziale Ungleichheit unter Rückbezug auf chronische Krankheiten gewidmet. Der folgende Abschnitt soll klären, was chronische Krankheit allgemein bedeutet und wie die Multiple Sklerose in diesem Feld eingeordnet werden kann.

Illene Morof Lubkin (2002) definiert chronische Krankheit als irreversibles Vorhanden- sein bzw. dauerhafte Latenz von Krankheitszuständen oder Schädigungen, die eine un- terstützende Pflege, Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeiten, die Prävention weiterer Behinderungen sowie die Förderung der Selbstversorgungskompetenz durch das Um- feld der PatientInnen notwendig machen. Dabei können sich laut der Autorin (Lubkin, 2002) viele Einflussfaktoren über Jahre hinweg anhäufen, die erst später Symptome her- vorrufen können. Eine chronische Krankheit bringt körperliche und seelische Belastun- gen hervor, die sich auf alle Lebensbereiche der Betroffenen, aber auch ihrer Angehöri- gen auswirken. Somit betrifft eine chronische Krankheit die gesamte Persönlichkeit und wirkt sich auf diese dauerhaft aus (Corbin & Strauss, 2004, S. 33).

Die Dauerhaftigkeit unterscheidet die chronische Krankheit von einer akuten Erkran- kung, die im Gegensatz zum chronischen Verlauf zeitlich begrenzt ist und damit keinen starken Einfluss auf das Leben und das soziale Umfeld der Betroffenen hat (S. 33). Je- doch bestimmt die Art der chronischen Krankheit ihren Einfluss auf die Erkrankten. So kann es unter anderem akute Phasen geben, die die Betroffenen psychisch und physisch beeinträchtigen und einen Krankenhausaufenthalt nötig machen. Corbin und Strauss (2004) sehen aber auch Phasen der Normalität, in denen sich die Betroffenen erholen können, sowie Phasen der Stabilität in der sich keine Entwicklung zum Negativen oder Positiven zeigt. Also durchleben chronisch kranke Menschen verschiedene Phasen, die ihre Persönlichkeit mehr oder weniger beeinflussen und durch die Unvorhersehbarkeit ihren Lebensalltag destabilisieren können.

Die Unvorhersehbarkeit des Krankheitsverlaufs ist auch ein Merkmal der chronischen Krankheit Multiple Sklerose, mit der sich im Folgenden näher beschäftigt werden soll.

2.2.2 Beschreibung des Krankheitsbildes

Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, kurz DMSG (2018) beschreibt MS als eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn und das Rü- ckenmark umfasst und am häufigsten im frühen Erwachsenenalter beginnt. Dabei ist die MS durch örtlich und zeitlich gestreut auftretende Entmarkungsherde gekennzeichnet, die zur Narbenbildung an den Nervenfasern führen (Frick, 1987, S. 1). Wird die Schutz- schicht (Myelin) der Nervenzellen durch einen Entmarkungsherd angegriffen, können Botschaften nicht mehr wirkungsvoll über die Nervenfasern zum Gehirn geleitet werden. Durch die Hemmung der Signalübertragung entstehen dann die MS typischen Symp- tome, wie Missempfindungen oder Sehstörungen (DMSG, 2018).

Nach Frick (1987) verläuft die MS in Schüben und Phasen der Genesung (Remission). Dabei kann es je nach Verlauf zu einer chronischen Verschlechterung (Progression) der Krankheit kommen kann. Flachenecker und Zettl (2006) unterscheiden drei Verlaufsfor- men der MS. Nach den beiden Autoren (2006) zeichnet sich der schubförmige Verlauf durch klare Schübe mit vollständiger Remission aus, wobei in der Zeit zwischen den Schüben keine Progression erkennbar ist. Der primär chronisch-progrediente Verlauf ist durch eine progrediente Verschlechterung von Krankheitsbeginn an definiert, kann je- doch auch gelegentliche Ruhephasen (Plateaus) und geringfügige Verbesserungen ent- halten (S. 61). Bei der sekundär chronisch-progrienten MS kommt es zu Beginn zu einem schubförmigen Verlauf, der von einer Phase der progressiven Verschlechterung mit oder ohne gelegentlichen Schüben, geringfügigen Remissionen oder Plateaus, begleitet ist (S.61). Da der Verlauf der MS höchst variabel ist, ist dieser jedoch schwer vorhersagbar und gilt daher auch als „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ (S. 59).

Der Krankheitsverlauf der MS ist definiert durch die Häufigkeit, Schwere und die Dauer von Schüben, den Schweregrad der bleibenden Behinderung sowie der Lebenserwar- tung der Betroffenen (S. 61). Nach den beiden Autoren (2006) ist die Häufigkeit der schubartigen Verschlechterung stark altersabhängig und beträgt im Durchschnitt einmal in zwei Jahren. Es wird jedoch herausgestellt (2006), dass vor allem aber die Wahr- scheinlichkeit einer Rückbildung eines Schubes von Bedeutung ist, da sie festlegt ob und wann eine Cortisontherapie eingesetzt wird. So bildet sich ein Schub innerhalb von- ein bis zwei Monaten zurück, kann aber dauerhafte neurologische Schäden verursa- chen, wenn er länger als sechs Monate andauert. Dieser Abschnitt zeigt also, dass die Diagnose MS nicht wie so häufig angenommen zwangsläufig mit dem Verlust der Geh- fähigkeit einhergeht und es die Möglichkeit besteht neurologische Schäden durch eine Therapie abzuwenden.

Diese Tatsache spiegelt sich auch in den Daten des Multiple-Sklerose-Registers (2005/2006) wieder, nach deren Ergebnisse 60% der PatientInnen im Alter von 50 Jah- ren und 40% der 60 Jährigen keine Gehilfe benötigten, um 100 m weit zu gehen. Hier ist jedoch festzuhalten, dass die Symptome die durch die MS hervorgerufen werden kön- nen, sich nicht auf die Gehfähigkeit beschränken, sondern vielfältig sind und eine Behin- derung bedingen können. Auf die Symptomatologie wird jedoch im nächsten Unterkapi- tel eingegangen.

Auch die Lebenserwartung der MS-PatientInnen stellt sich nach neueren Studien als günstiger heraus als bisher angenommen (Flachenecker & Zettl, 2006, S. 64). Es zeigt sich, dass die Lebenserwartung der PatientInnen im Gegensatz zur Allgemeinbevölkerung um sechs bis sieben Jahre reduziert ist. Wobei auffällig ist, dass 30% der Todesfälle auf einen Suizid zurückzuführen sind (S.64). Auf der einen Seite deckt diese Zahl auf, dass die MS trotz günstiger Prognosen eine hohe psychische Belastung für die Betroffenen darstellt und dass auf der anderen Seite psychische Veränderungen durch die MS hervorgerufen werden können (siehe 2.2.3).

Es lässt sich festhalten, dass trotz der Unheilbarkeit der Krankheit ein langes Leben möglich ist. Dies ist auch den möglichen Therapien zu verdanken, die den Verlauf der Krankheit beeinflussen können. Hier unterscheidet Hoffmann (2006) drei therapeutische Therapien: die Therapie des akuten Schubs, die symptomatische Therapie, sowie die verlaufsbeeinflussende Langzeittherapie. Diese werden meist in Kombination und auf die PatientInnen abgestimmt angewendet werden (S. 195). Die Therapieabstimmung gilt als Herausforderung für die Betroffenen und für die ÄrztInnen, da die Krankheitsverläufe so individuell wie die Symptome der MS sind (S. 195).

2.2.3 Symptomatologie

Wie im Vorhinein schon angedeutet, kann die MS über die Verlaufsformen zu unter- schiedlichen Symptomen mit verschiedensten Ausprägungen führen. Da die entzünde- ten Herde an unterschiedlichen Stellen im Zentralennervensystem vorliegen können, ist somit auch die Symptomatik vielseitig (Köhler & Hoffmann, 2006, S. 51). Daher ist nach den beiden Autoren (2006) kein Symptom bekannt, das MS spezifisch wäre, da sie nur in Kombination typisch für dieses Krankheitsbild sind. Die Symptomatik unterliegt auch oft einem Wandel im Verlauf der Erkrankung, so dass beispielsweise oft zu Beginn Ge- fühlsstörungen und im späteren Verlauf auch Spastiken auftreten können (S. 51).

Wird durch einen Entmarkungsherd eine Schädigung des Hirnnervs hervorgerufen, kann es zu einer Beeinträchtigung motorischer Funktionen kommen (S. 51). Mögliche Folgen können dann im Anfangsstadium der Erkrankung rasche Ermüdbarkeit oder eine Schwere in den Beinen sein. Später kann es dann unter anderem zu einer spastischen Paraparese (Lähmung) oder Störung der Feinmotorik kommen, so die Autoren (2006). Sie betonen auch, dass eine Spastik mit einer Einschränkung der Mobilität, Ausdauer und letztlich auch mit Einschränkungen im beruflichen Leben einhergeht (S.53). Neben diesen Symptomen kann es auch zu Sensibilitätsstörungen kommen, die zu schmerz- haften Missempfindungen vor allem an den Beinen und Fingerspitzen führen. Zu den häufigsten MS Symptomen gehören, laut den Autoren (2006) neben Koordinationsstö- rungen und Muskelzittern (Tremor), auch Verschwommensehen bis zum Verlust der Sehkraft.

Auch Blasen- und Darmentleerungstörungen treten bei den meisten PatientInnen auf, die eine Inkontinenz oder eine schmerzhafte Darmentleerung bedingen (S. 57). Außer- dem können Sexualstörungen auftreten, die eine Verminderung der Libido verursachen können, die aber auch auf eine Fatigue zurückgeführt werden kann. Durch die Fatigue fühlen sich die PatientInnen stark erschöpft, was oft zu einem sozialen Rückzug bis zur Erwerbsunfähigkeit führt (S. 57). Daneben können kognitive Störungen die visuell-räum- liche Wahrnehmung oder die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit negativ beein- flussen, wobei Intelligenz und Sprachfunktion gut erhalten bleiben, so die Autoren (2006). Ebenso sind bei MS PatientInnen psychische Veränderungen möglich, die de- pressive Symptome hervorrufen können und die Merkfähigkeit sowie Konzentration her- absetzen (S.58).

Wie dieses Kapitel zeigt, ist die Symptomatik bei Multipler Sklerose sehr vielfältig. Gewisse Symptome deuten darauf hin, ein Risikofaktor für die Erwerbsfähigkeit zu sein. Welchen Einfluss die Multiple Sklerose auf das Erwerbsleben der Betroffenen hat, soll im Folgenden dargestellt werden.

2.2.4 Multiple Sklerose und Erwerbsleben

Die Autoren Kern, Kühn und Ziemssen (2013) stellen Erwerbsarbeit als einen fundamen- talen Bestandteil des Lebens heraus, der dem Menschen Selbstbewusstsein, Identität, finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit gibt. Die Diagnose MS wird vor allem zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr gestellt und trifft somit einen Großteil der Betroffenen in einer produktiven und zukunftsorientierten Lebensphase (Flachenecker, Stuke, Elias, Freide, Pitschnau-Michel, Schimrig, Zettl & Rieckmann, 2008, S. 114). Dabei zeigen Fla- chenecker et al. (2008), dass 27,9% vollberufstätig, 38,4% vorzeitig berentet und 6,0% arbeitslos waren sowie 0,7% MS-bedingt eine Umschulungsmaßnahme durchführten. Die Symptome, die sich negativ auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind depressive Störungen und Angststörungen. Sie gelten als ein wichtiges Merkmal im Hinblick auf den Erwerbsstatus, vor allem wenn die Betroffenen gering motorisch eingeschränkt sind (Glad, Nyland, Aarseth, Riise & Myhr, 2010, S. 79).

Auch die Fatigue führen Simmons, Tribe und McDonald (2010, S. 931) als eine der wich- tigsten Symptome an, die eine Aufgabe der Erwerbsarbeit verursachen. Als Gründe da- für gelten die Fatigue-bedingte Leistungsbeeinträchtigung sowie die nicht ausreichende Erholungsphase während und nach der Arbeit (Flachenecker et al., 2008, S. 97). Neben diesen Symptomen hat auch die Verlaufsform der MS großen Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit der Betroffenen. So zeigen Reese, Wienemann, Wellek, Sommer und Tackenberg (2011), dass die Personen mit der schubförmig remittierenden MS zu 54%, die Personen mit dem sekundär progredienten Verlauf zu 79% und die Betroffenen mit dem primär progredienten Verlauf zu 100% erwerbsunfähig werden. Flachenecker et al. (2008) betonen jedoch auch, dass fast 15% der berenteten Betroffenen gering motorisch beeinträchtigt sind, was darauf hinweist, dass eine Erwerbsunfähigkeit nicht nur von ei- ner motorischen Einschränkung abhängt.

Reese et al. (2011) sehen ein höheres Risiko für eine vorzeitige Erwerbsunfähigkeit durch die MS vor allem bei Berufen, die mit einer höheren körperlichen Belastung (z.B. bei Handwerkern) verbunden sind. Ein höheres Bildungsniveau scheint sich hingegen positiv auf den Erwerbsstatus auszuwirken (Julian, Vella, Vollmer, Hadjimichael & Mohr, 2008, S. 1358). Außerdem belegt eine australische Untersuchung, dass über 30% der Befragten ihren Beruf aufgrund allgemeiner Überforderung und der subjektiven Leis- tungsbeeinträchtigung aufgeben (MSIF, 2010, S. 13). Zusätzlich ging aus dieser Studie (2010) hervor, dass 17% der befragten PatientInnen durch die ArbeitgeberInnen oder KollegInnen zur Beendigung ihrer Arbeit aufgefordert wurden. Mobilitätsbarrieren und schwierige Arbeitsbedingungen geben bei dieser Befragung (2010) 20% der Betroffenen an. Wobei die Unterstützung der Familie, der ArbeitgeberInnen, das Bewusstsein der KollegInnen bezüglich der Krankheit, flexible Arbeitszeiten und mögliche Ruhepausen während der Arbeitszeit als helfende Faktoren bei der Weiterführung der Arbeit ange- führt werden (MSIF, 2010, S. 9).

Wie dieser Abschnitt zeigt, wird das Erwerbsleben chronisch Kranker von vielfältigen Faktoren beeinflusst, die bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen können. Diese Faktoren sind unter anderem symptomatischen Ursprungs, können aber auch auf die gegeben Arbeitsbedingungen oder das Arbeitsklima zurückgeführt werden. Ob diese Daten aber Symptome sozialer Ungleichheit sind, soll der nächste Abschnitt beleuchten.

Dieser soll den aktuellen Forschungsstand darlegen, der die aufgeworfene Fragestellung bisher thematisiert hat.

2.3 Theorien zur Problemstellung

Im Gegensatz zur empirischen Datenlage, stellt sich der aktuelle Forschungsstand zur Frage, ob aus Multipler Sklerose soziale Ungleichheit im Erwerbsleben resultieren kann, als defizitär dar. So konnten bei der Literaturrecherche keine Studien oder Theorien ge- funden werden, die die Beantwortung der Forschungsfrage liefern. Die meisten For- schungsarbeiten beschäftigen sich mit der Problematik, dass die Determinante „niedri- ger sozialer Status“ das Risiko für eine chronische Krankheit erhöht. Siegfried Geyer (2016) schreibt zum Beispiel dazu, dass das Risiko für eine chronische Krankheit un- gleich verteilt ist und dass vor allem die Personen benachteiligt sind, die eine geringe Schulbildung oder einen Beruf mit niedrigem Einkommen haben.

Eine Analyse der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (verfasst von Pärli, Naguib & Kuratli) (2012) thematisiert Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit unter be- sonderer Berücksichtigung juristischer Aspekte. Pärli et al. (2012) zeigen in den Grund- lagen dieser Analyse, dass es Benachteiligungen im Bewerbungsverfahren, beim Ver- tragsschluss (z.B. Festlegung ungleicher Löhne) oder während der Anstellung (z.B. durch Mobbing) gibt. Außerdem führen sie die Benachteiligung im Zusammenhang mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses (Gefährdung der Arbeitsstelle aufgrund chroni- scher Krankheit) an (S.23). Somit verweisen sie auf mögliche Dimensionen und Auswir- kungen sozialer Benachteiligungen, die aufgrund der Determinierung von „chronischer Krankheit“ entstehen.

Wissenschaftliche Literatur, die sich explizit mit Multipler Sklerose als Ursache sozialer Ungleichheit im Erwerbsleben beschäftigt, ließ sich leider nicht finden. Griesehop (2003) führt in ihrem Buch „Leben mit Multipler Sklerose“ Interviews mit Betroffenen durch, um die Auswirkung der chronischen Erkrankung auf ihren Zukunftsentwurf zu beleuchten. Die Autorin hält aufgrund der Interpretation ihrer Interviews fest, dass die Diagnose MS zu einer Begrenzung der beruflichen Pläne führt, die eine Planung des beruflichen Wer- degangs nötig macht, um so eine mögliche körperliche Behinderung und die Berufstä- tigkeit vereinbaren zu können (S. 179 f.). Darum sieht eine der Befragten ein abgeschlos- senes Studium als berufliche Absicherung, da der darauf aufbauende Beruf kompatibel mit einem negativen Krankheitsverlauf sei (S. 181). Der Übertritt von der Schulzeit zur Berufs- bzw. Studienwahl wird hier (2003) als existentielle Bedrohung gesehen, da sich die Befragte den Anforderungen außerhalb von Schule nicht gewachsen fühlt. Aus die- sen Interpretationen wird also deutlich, dass MS-PatientInnen bereits bei der Berufswahl eingeschränkt sind und diese ihrer Krankheit anpassen müssen, um ihre Existenz zu sichern. Außerdem kann man aus dieser Befragung interpretieren, dass die Betroffenen einen höheren Berufsabschluss anstreben müssen, um sich beruflich und existenziell absichern zu können. Hinzukommt, dass das anstehende Erwerbsleben als Unsicher- heitsfaktor gesehen wird, da hier höhere Ansprüche als in der Schule gestellt werden und die Konsequenzen bei Leistungsschwächen bedrohlichere Folgen (z.B. Verlust der Anstellung) für die Existenz haben.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der aktuelle Forschungsstand zwar Benachteiligungen im Erwerbsleben für chronische Kranke identifiziert, es sich jedoch bei der Recherche keine Studie findet, die Multiple Sklerose und die daraus resultierende Ungleichheiten im Erwerbsleben explizit benennt.

[...]

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Details

Titel
Inwiefern trägt die chronische Krankheit Multiple Sklerose zur sozialen Ungleichheit im Erwerbsleben bei?
Untertitel
Chronische Krankheit als Ursache sozialer Ungleichheit im Erwerbsleben
Hochschule
Universität Siegen
Autor
Jahr
2018
Seiten
43
Katalognummer
V434977
ISBN (eBook)
9783668762800
ISBN (Buch)
9783668762817
Dateigröße
883 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
MS, Multiple Sklerose, Soziales, Ungleichheit, Erwerbsleben, Chronische Krankheit, Gesundheit
Arbeit zitieren
Marius Blum (Autor:in), 2018, Inwiefern trägt die chronische Krankheit Multiple Sklerose zur sozialen Ungleichheit im Erwerbsleben bei?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/434977

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