Aggressive Mädchen - Eine Herausforderung für die Heil- und Sonderpädagogik?


Examensarbeit, 2003

101 Seiten, Note: 1,25


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen aggressiven Verhaltens
2.1 Definition von Aggression und Gewalt
2.1.1 Aggression
2.1.2 Gewalt
2.2 Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens
2.3 Ursachen von Aggressionen
2.3.1 Psychoanalytische Triebtheorie
2.3.2 Aggressions-Frustrations-Hypothese
2.3.3 Ethologische Triebtheorie
2.3.4 Lerntheorien und aggressives Verhalten
2.3.4.1 Klassische Konditionierung
2.3.4.2 Operante Konditionierung
2.3.4.3 Lernen am Modell
2.3.5 Der pädagogische Aspekt
2.3.6 Der soziologische Aspekt

3. Geschlechtsspezifische Unterschiede im aggressiven Verhalten
3.1 Mädchen und aggressives Verhalten – Was sagt die Forschung?
3.1.1 Bundeskriminalamt- Polizeiliche Kriminalstatistik
3.1.2 Untersuchungen an Schulen
3.2 Interpretationen für die Unterrepräsentanz von Mädchen mit aggressivem Verhalten
3.2.1 Rollen- und sozialisationstheoretischer Ansatz
3.2.2 Feministisch- sozialstruktureller Ansatz
3.2.3 Die relationale Aggression
3.3 Erklärungsansatz für die Zunahme
der Delinquenz von Mädchen
3.3.1 Emanzipationsthese

4. Empirischer Teil
4.1 Zielsetzung der empirischen Arbeit
4.1.1 Die Methode
4.1.1.1 Die Befragung
4.1.1.2 Die Gruppendiskussion
4.1.2 Die Fragen
4.1.3 Die Gruppe der Befragten
4.1.4 Durchführung und Vorgehen der Befragung
4.2 Durchführung der qualitativen Inhaltsanalyse
4.2.1 Was ist eine qualitative Inhaltsanalyse?
4.2.2 Durchführung der qualitativen Inhaltsanalyse am Material der Interviews
4.2.2.1 Die Transkription
4.2.2.2 Die angepasste qualitative Inhaltsanalyse

5. Darstellung der Ergebnisse

6. Interpretation der Ergebnisse
6.1 Der 1. Schritt der Interpretation
6.2 Der 2. Schritt der Interpretation

7. Schlussfolgerungen
7.1 Beantwortung der Fragestellung
7.2 Zukunftsperspektiven

8. Literaturverzeichnis

Anhang
1. Transkription der Gruppendiskussion
2. Qualitative Inhaltsanalyse Schritt
3. Qualitative Inhaltsanalyse Schritt

1. Einleitung

In der Öffentlichkeit kursieren Zeitungsmeldungen, die nicht nur das Ansteigen des aggressiven Verhaltens männlicher Jugendlicher als ernstzunehmende Problematik darstellen. Auch Mädchen nehmen eine zunehmend wichtige Rolle im Vollzug aggressiver Verhaltensweisen ein. Im Hamburger Abendblatt vom 25. Juni 2003 befindet sich ein Artikel mit dem Titel „Die Mädchenbande von Billstedt“. Demnach hat diese „Mädchenbande“ den Stadtteil mit mehr als hundert Straftaten terrorisiert. Für die zehnköpfige Bande seien Diebstahl, Straßenraub, Körperverletzung, Hehlerei, Nötigung und Bedrohung alltäglich. Dabei seien die Mädchen unter anderem „brutal“ gegen eine 98jährige Frau vorgegangen, die sie ausrauben wollten. Die Frau wurde von einem Mitglied der Bande einfach niedergeschlagen, als sie versuchte, den Raub zu verhindern. Gleichzeitig ginge die Polizei davon aus, dass es sich offiziell noch um Einzelfälle handelt und sehe keine gestiegene Gewaltbereitschaft von Mädchen. Andere Experten aus Großstädten sehen allerdings das Problem der gestiegenen Gewaltbereitschaft von Mädchen als statistisch schwer zu erfassen.

Genau dies ist das eigentliche Problem: Wenn aggressives Verhalten von Mädchen statistisch schwer zu erfassen ist, muss nicht gleichzeitig davon ausgegangen werden, dass Mädchen ihr Aggressionspotenzial unterdrücken. Aus dieser Problematik resultiert auch der Titel der vorliegenden Arbeit. Ist vielleicht das aggressive Verhalten von Mädchen eine Herausforderung für die Heil- und Sonderpädagogik? Aggressive Verhaltensstörungen gehören auch in den Fachbereich der Heil- und Sonderpädagogik, da in ihren Institutionen wie Schule, Heim oder Jugendzentren Pädagogen mit solchen spezifischen Verhaltensweisen konfrontiert werden. Aufgrund dieses Sachverhaltes und aus Platzgründen wird nicht näher auf die Definition von Heil- und Sonderpädagogik eingegangen.

Mit dieser Arbeit möchte ich zunächst einen Abriss über verschiedene Definitionen von Aggression und Gewalt geben, um dann auf die Theorien der Entstehung ebendieser einzugehen. Anschließend stelle ich die verschiedenen Formen aggressiven Verhaltens dar.

Der zweite Teil dieser Arbeit besteht darin, einen Überblick über den Forschungsstand des aggressiven Verhaltens von Mädchen darzustellen. Des Weiteren gehe ich auf die geschlechtsspezifischen aggressiven Verhaltensweisen von Mädchen und einigen Erklärungsversuchen ein. Die anschließende Untersuchung in Form von einer Gruppendiskussion versucht herauszufinden, wie Mädchen aggressive Verhaltensweisen von anderen Mädchen oder ihr eigenes aggressives Verhalten wahrnehmen, welche Erfahrungen sie gemacht haben und wie sie damit umgehen.

2. Theoretische Grundlagen aggressiven Verhaltens

Das folgende Kapitel soll nicht nur ein Überblick über die verschiedenen Definitionsmöglichkeiten von Aggression geben, sondern auch den Begriff Gewalt, der in einem engen Verhältnis zur Aggression steht, näher erläutern.

2.1 Definitionen von Aggression und Gewalt

Die Definition von Aggression und Gewalt gestaltet sich als schwierig, wenn man bedenkt in wie vielen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen man versucht hat, diese beiden Phänomene zu erklären. Zu Aggression und Gewalt finden sich Definitionen vor allem in der in der Psychologie, in der Soziologie, in der Pädagogik oder in der Biologie.

Außerdem ist die Festlegung auf eine Definition schwierig, da es die Grenzen eines Phänomens meist sehr starr absteckt. Selg rät deshalb bei der Definition von solchen wissenschaftlichen Begriffen auf Umschreibungen derselben zurückzugreifen (vgl. Selg 1988, S.13). Er setzt den Versuch gleich, mit dem Bemühen Begriffen wie Angst, Gesundheit, Sexualität, Spiel, Sport oder Stress eine eindeutige Definition zu geben. Dies hält er für unmöglich, weil jeder Mensch mit diesen Begriffen etwas anderes verbindet. Dennoch glaubt er nicht, dass man auf diese Definitionsversuche bzw. Umschreibungen verzichten sollte. Sie sollten als vorangestellte Orientierungs- und Verständigungshilfe angeboten werden, ohne den Charakter eines endgültigen Festlegens zu besitzen. Definitionen müssen offen bleiben und Entwicklungen zulassen (ebd. 1988, S.13).

2.1.1 Aggression

Eine solche „Umschreibung“ des Aggressionsbegriffes bietet Selg an:

„Eine Aggression besteht in einem gegen einen Organismus oder einen Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize („schädigen“ meint beschädigen, verletzen, zerstören und vernichten; es impliziert aber auch wie „iniuriam facere“ oder „to injure“ schmerzzufügende, störende, Ärger erregende und beleidigende Verhaltensweisen, welche der direkten Verhaltensbeobachtung schwerer zugänglich sind); eine Aggression kann offen (körperlich, verbal) oder verdeckt (phantasiert), sie kann positiv (von der Kultur gebilligt) oder negativ (missbilligt) sein.“ (Selg 1988, S.14)

Für Selg ist es wichtig hervorzuheben, dass Aggression ein Verhalten beschreibt und nicht die Ursache von aggressivem Verhalten ist. Es gibt jedoch kritische Interpretationen negativer Art für die Definition von Selg. So meint Borg-Laufs, dass seine Definition „den Kern des Verhaltens nicht recht trifft“. Es fehlt ihm der Hinweis auf die Intention des Akteurs oder der Akteurin. Borg-Laufs gibt außerdem an, dass der Aggressionsbegriff im Alltagsgebrauch stets wertend gemeint ist und als „böses“ Verhalten interpretiert wird. Viele Aggressionsdefinitionen erheben seiner Meinung nach den Anspruch wertfrei zu bleiben. Das hält er für unangemessen, da das Konstrukt „Aggression“ kontextabhängig benutzt wird. Das gleiche Verhalten würde in verschiedenen Situationen höchst unterschiedlich bewertet werden (vgl. Borg-Laufs 1997, S.18).

Aggression kann des Weiteren in einen „weiten“ Definitionsbegriff und in einen „engen“ Begriff eingeteilt werden:

Der „weite“ Begriff der Aggression stellt eine dem Menschen innewohnende Disposition und Energie dar. Von der Etymologie her ist der Begriff Aggression doppeldeutig: Aggression kommt von ad gredi oder aggredi (lat.), was soviel bedeutet wie herangehen, sich an jemanden wenden, jemanden zu gewinnen versuchen. Damit ist jedes Verhalten gemeint, das im Wesentlichen das Gegenteil von Passivität und Zurückhaltung darstellt (vgl. Korn/Mücke 2000, S.16). Somit könnte sich Aggression also auch in der Fähigkeit zur Selbstbehauptung oder bei der Durchsetzung eigener Ziele bemerkbar machen. Hier wird zudem deutlich, dass Aggression auch eine positive Auslegung besitzen kann. So besitzt die positive Form der Aggression, die angemessene Selbstbehauptung Eigenschaften wie selbstsicher, tatkräftig, bestimmt und willensstark sein (vgl. Petermann/Waschburger 1995, S.127).

Petermann und Waschburger definieren Aggression wie folgt: „Im weiteren wird unter Aggression ein Verhalten verstanden, mit dem entweder einer bzw. mehreren Personen oder einem Gegenstand Schaden zugefügt wird. Zentrales Merkmal ist die Schädigungsabsicht.“ (Ebd., S.127)

Beim „engen“ Begriff der Aggression kann man außerdem zwischen der Verhaltens- und der Gefühlsebene unterscheiden: „Wenn jemand von sich sagt, er habe ‚Aggressionen in sich’ oder jemand ‚lasse seine Aggressionen raus’ [...] so sind damit aggressive Gefühle, Bedürfnisse und Impulse gemeint. Aggressive Gefühle müssen sich nicht unbedingt in aggressivem Verhalten äußern [...]“ (Nolting 1993, S.92) Wird unter Aggression also ein Gefühl bzw. eine Emotion verstanden, dann gibt es mehrere Möglichkeiten, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Gewalt ist eine der Möglichkeiten, sie stellt allerdings die destruktivste Form dar (vgl. Korn/Mücke 2000, S.17).

Selg dagegen meint wiederum, dass Aggression keinen Affekt wie Ärger, Wut, oder Hass meint, sondern eben nur aggressives Verhalten (vgl. Selg 1988, S.14).

Aufgrund der Tatsache, dass sich die frühere Forschung auf physische und verbale Formen von Aggression beschränkt hat, womit für Crick und Grotpeter zum Beispiel die Aggressivität von Mädchen fast unbeachtet blieb, haben sie eine neue Definition von Aggression aufgestellt. Crick und Grotpeter definierten den Begriff der relationalen Aggression: „Relationale Aggression wird als Verhalten definiert, das die Beziehungen einer Person zu Gleichaltrigen oder die Gefühle der sozialen Zugehörigkeit und Akzeptanz beschädigt.“ (Crick & Grotpeter 1995 zit. nach Werner 1999)

Für Crick und Grotpeter definiert sich die relationale Aggression in folgendem Verhalten: Missachtung, absichtliches Ignorieren, Aufhetzen und Gerüchte verbreiten. Dabei werden immer die sozialen Beziehungen benutzt, um einem gleichaltrigen Kind zu schaden. Im Gegensatz dazu erfahren Empfänger von Aggressionen eine relationale Viktimisierung.

Um es mit Selgs Worten abzuschließen: „Eine endgültige (wahre, richtige) Definition von ‚Aggression’ kann es nicht geben. Es gibt nur nützliche, vorläufige Umschreibungen bzw. Akzentuierungen, die den Weg für verschiedene operationale Definitionen offen halten.“ (Selg 1974, S.18)

Zum Abschluss möchte auch die Verfasserin sich nicht auf eine allgemeingültige Definition festlegen, jedoch wird hervorgehoben, dass in der vorliegenden Arbeit der negative Aspekt von Aggression gemeint ist. Wenn also im weiteren Verlauf der Arbeit von Aggressionen oder aggressivem Verhalten die Rede ist, so lehnt die Verfasserin damit an die Definition von Selg an, auch wenn diese durchaus kritisch betrachtet werden kann.

2.1.2 Gewalt

Der Begriff Aggression steht in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff Gewalt.

Fest steht bei beiden Begriffen, dass es keinen einheitlichen Wortgebrauch gibt.

Nolting (1987) schlägt vor, „Gewalt“ als engeren Begriff zu sehen, der schwerere Formen von Aggression bezeichnet. Zieht man eine Verbindung zum Alltagsgebrauch des Wortes, erscheint dies sinnvoll, wird Gewalt doch oft mit physischer Gewalt synonym benutzt.

Dennoch schränkt diese Definition den Gewaltbegriff stark ein. So stellte Galtung den Begriff „Gewalt“ zu einem Gegenbegriff für „Frieden“ auf: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ (Galtung 1971, zit. nach Selg 1988, S.17) Aus dieser Sicht ist es zwar möglich, den Staat oder die Gesellschaft in die soziologische Gewaltanalyse einzubinden (vgl. Borg-Laufs 1997, S.19), andererseits bezweifelt Selg, dass Galtungs Begriff nützlich ist. Für Selg ist dieser Begriff, der auch strukturelle Gewalt genannt wird, ein Ausdruck „gesellschaftlicher Verhältnisse“, die das Auftreten von Gewalt nach sich ziehen, beispielsweise die Benachteiligung der Frau in streng patriarchalischen Gesellschaften. Für Selg sind Galtungs Worte nicht praktizierte Gewalt, sondern allenfalls deren Voraussetzungen (vgl. Selg 1988, S.17).

Heitmeyer geht neben den äußeren und situativen Bedingungen auf die beiden möglichen Perspektiven ein. Für ihn ist sowohl das Täter- als auch das Opferverhalten zu analysieren: „Gewalt ist der Ausdruck sozialer Prozesse, in denen strukturelle Bedingungen und individuelles Handeln zusammenwirken. Gewalt ist ein interaktives Produkt, d.h. das Verhalten beider Seiten ist zu beachten und es ist beeinflusst durch die jeweils situative Bedeutung.“ (Heitmeyer 1992)

Dagegen definieren Korn und Mücke Gewalt als ein Verhalten, welches darauf ausgerichtet ist, die individuellen Grenzen einer Person zu überschreiten. Mit einem Menschen wird also etwas getan, was dieser nicht will. Sein Wille wird durch Machtausübung gebrochen und die persönliche Grenze ist dabei individuell. Gewalt ist also das, was eine Person als Gewalt empfindet. (Korn/Mücke 2000, S.15) Hierbei rückt deutlich die Opferperspektive in den Vordergrund.

Bei der Definition von Bründel und Hurrelmann gibt es eine kombinierte Form von Gewalt. Für sie ist nicht nur die physische Form von Gewalt entscheidend, sondern auch die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in hierarchischen Strukturen:

„Unter Gewalt versteht man sowohl körperliche als auch psychische Gewalt, also Treten, Prügeln, Schlagen, Drohen, Erpressen, aber auch Entziehen von Liebe und Zuwendung, Nichtbeachten, Ausgrenzen sowie ironische, sarkastische und zynische Bemerkungen. Gewalt kann gegen Personen und gegen Sachen angewendet werden. Gewalt zeigt sich in Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, in hierarchischen Strukturen und in schulischen Maßnahmen wie Notengebung, Versetzung und Ordnungsmaßnahmen. Sie wird als strukturelle Gewalt bezeichnet.“ (Bründel/Hurrelmann 1994, S.232)

Auch in diesem Fall der Definitionsfestlegung kann nicht davon ausgegangen werden, dass einer der Definitionsbegriffe der in sich schlüssigste ist. Gerade die Abgrenzung von Aggression zu Gewalt wird kontrovers diskutiert und es gibt keine Lösung dieses Problems. Die Autorin möchte sich für die Arbeit jedoch im weitesten Sinne der Definition von Nolting anschließen, der Gewalt als „Unterform“ von Aggression sieht, bzw. eine Möglichkeit Aggressionen in Form von physischer Gewalt auszuüben. Auch im Kontext der anschließenden Gruppendiskussion ist Gewalt, da im Wortgebrauch für die Befragten so geläufig, eine Form der Aggression, die auf körperlicher Ebene ausgetragen wird.

2.2 Ausdrucksformen von Aggressionen

Es gibt verschiedene Ausdruck- bzw. Erscheinungsformen von aggressivem Verhalten. Goetze nennt zum Beispiel drei Erscheinungsformen der Aggressivität:

„- Untersozialisierte, offen ausgetragene Aggressivität, die durch Merkmale gekennzeichnet ist wie Hyperaktivität, necken, streiten, Impulsivität, angreifen, drohen, grausam sein, fluchen, ungehorsam sein,
- sozialisierte, verdeckt ausgetragene Aggressivität wie lügen, stehlen, Brandstiftung, Teilnahme an Banden, Schulschwänzen, Mißbrauch von Drogen oder Alkohol,
- kombinierte offene und verdeckte Formen.“(Goetze 1993, S.51f)
Diese Unterteilung legt die große Bandbreite aggressiven Verhaltens dar. Sie wird noch erweitert durch die fünf Dimensionen von Petermann und Petermann, die auch nicht ausagierende Verhaltensweisen in ihrer Aufstellung mit einbeziehen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Verschiedene Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens

(erweitert nach Vitiello & Stoff, 1997; Petermann, 2000)

2.3 Ursachen der Aggression

Aggression ist, wie schon die Definitionsversuche zeigen, ein komplexes Phänomen. Trotz der permanenten Präsenz von Aggression und Gewalt bestehen keine gesicherten, allgemeingültigen Kenntnisse über deren Ursachen. Bisher gibt es keine Theorie, die für sich beanspruchen könnte, das Entstehen von Aggressionen, ihre Entwicklung und ihre Erscheinungsformen vollständig geklärt zu haben.

Im Anschluss folgt ein kleiner Überblick über die wichtigsten Theorien von Aggression. Dabei werden zunächst die Modelle vorgestellt, die davon ausgehen, dass es sich bei Aggressionen um einen im Menschen innewohnenden Trieb handelt, also dass das Aggressionspotential angeboren ist. Die nachfolgenden Lerntheorien dagegen gehen davon aus, dass aggressives Verhalten gelernt wird. Der pädagogische Aspekt zum Vorhandensein von Aggressionen berücksichtigt die Erziehung und das Umfeld der Kinder und Jugendlichen, wie zum Beispiel die Schule als Institution. Der soziologische Aspekt schließlich deckt die gesellschaftlichen Hintergründe für Aggressionen ab.

2.3.1 Psychoanalytische Triebtheorie

Betrachtet man die menschliche Aggressivität aus psychologischer Sicht, so kommt man an Siegmund Freud und Alfred Adler nicht vorbei.

Siegmund Freud (1856–1939), der Urvater der Psychoanalyse hat seine Ideen für die Theorien der Aggressivität in zwei großen Perioden entwickelt, zum einen alles, was vor 1920 und dann in modifizierter Form danach veröffentlicht wurde.

Freud entwarf aus den Erzählungen Erwachsener und in seiner Selbstanalyse ein Modell der psychischen Entwicklung. Dabei stützt sich seine gesamte psychoanalytische Theorie auf einen zentralen Begriff, auf den Ödipuskomplex. Freud bezeichnet damit die Lebensphase eines Kindes, in der die Aggressivität beträchtlich ist. Beim Erwachsenen können aggressive Situationen über diese kindliche Erfahrung interpretiert werden. Der Ödipuskomplex bringt den Jungen dazu seine Mutter zu begehren und den Vater als seinen Rivalen zu hassen. Das Verlangen nach der Mutter löst bei dem Jungen die Furcht vor Strafe aus, welche verbunden ist mit einer Kastrationsangst. Die Angst wiederum ruft eine Loslösung von dem Ödipuskomplex hervor, der Junge verzichtet auf seine Mutter. Die Angst hingegen bringt das Mädchen dazu, sich von der Mutter zu entfernen und sich dem Vater zu nähern.

Der Trieb ist für Freud in einer lokalisierten körperlichen Erregung zu suchen, ist also inneren Ursprungs. Die Erregung soll dabei so gering wie möglich gehalten werden und der Trieb zielt auf Entladung und Befriedigung ab. Vor 1920 unterschied Freud zwischen Sexualtrieb und dem Selbsterhaltungstrieb. Nach den Erlebnissen des 1. Weltkrieges postulierte Freud den Lebenstrieb (Eros) und auf der anderen Seite den Todestrieb (Thanatos). Freud nimmt an, dass ein im Menschen angelegter Todestrieb existiert, der sich in seiner Ableitung über das Muskelsystem als Aggressions- bzw. Destruktionstrieb bezeichnen lässt. Dieser ist permanent existent und kann zum Beispiel durch Frustrationen verstärkt werden. Lebenstrieb und Todestrieb zielen dabei auf einen Zustand der Spannungslosigkeit ab, auf die Lösung sexueller Spannung einerseits und auf die Lösung aller Spannungen des Lebens mit dem Ziel des Todes andererseits. Beide Triebe treten nicht in reiner Form auf, sondern in den unterschiedlichsten Vermischungen (vgl. Myschker 1993, S.323).

Alfred Adler (1870–1937), Individualpsychologe und bekannt als Schüler Freuds stellte als Erster die Hypothese des Aggressionstriebes auf. Der Aggressionstrieb basiert für ihn auf einer allgemein biologischen Grundlage und beherrscht alle Bereiche motorischen Verhaltens.

Adler schreibt jedem Organ seinen eigenen primären Trieb zu. Laut Adler können sich die Organe miteinander verbinden. Zum Beispiel resultiert der Ernährungstrieb aus der Verbindung des visuellen Triebs mit dem Geschmackstrieb. Fügt man den beiden Trieben den Aggressionstrieb hinzu, so ergibt sich der Jagdinstinkt.

Wird der Aggressionstrieb durch Einflüsse der Umwelt unterdrückt, entsteht beim Individuum Angst. Beim durchschnittlichen Menschen zeigt sich der Aggressionstrieb meistens in veränderter Form, beispielsweise als Sport, aber auch, nach kultureller Transformation, als Hilfsbereitschaft oder Selbstlosigkeit. In späteren Theorien Adlers kommt der Aggression nur noch eine untergeordnete Stellung zu. Sie wird nicht mehr als rein biologischer Instinkt betrachtet. Adler versteht nun vielmehr eine teilweise bewusste, teilweise unterbewusste Tendenz zur Bewältigung alltäglicher Schwierigkeiten und Konflikte. Dadurch erhält Aggression in Adlers Theorie rein reaktiven und instrumentellen Charakter.

2.3.2 Frustrations-Aggressions-Hypothese

Schon Freud stellte die These auf, Aggression könnte die Folge libidinöser Frustration sein. Daran anknüpfend befassten sich die amerikanischen Forscher Dollard, Dubb, Miller, Mowrer und Sears der Yale University seit den vierziger Jahren mit der so genannten Frustrations-Aggressions-Hypothese.

Nach dieser Hypothese ist Aggression immer eine Folge von Frustration bzw. Frustration führt immer zu einer Form von Aggression. Frustration ist hierbei die Unterbrechung einer zielgerichteten Handlung. Ein kausaler Zusammenhang soll demnach auch über die Stärke der Frustration und der daraus resultierenden Aggression vorhanden sein. Aggressionen können beispielsweise aus Angst vor Strafe gehemmt werden, oder aber auch auf andere Objekte, nicht auf das Frustrationsauslösende, verlagert werden. Wird die Aggression ausgeführt, so bringt sie eine Art Erleichterung. Dies Phänomen wird als so genannte Katharsishypothese bezeichnet. Eine weit verbreitete, fatale Meinung herrscht auch heute noch über die Katharsishypothese vor. Viele Lehrer und Erzieher sind der Meinung, dass die Frustrationen bzw. Aggressionen durch Betätigungen wie Sport oder Selbstverteidigung abgebaut werden können. Es gibt jedoch Untersuchungen, die zeigen, dass diese aggressiven Entladungen die Erregung erhöhen und somit in ähnlichen Situationen dazu führen, dass man noch aggressiver reagiert.

Bei der Überprüfung der Frustrations-Aggressions-Hypothese durch verschiedene Studien kam es zu vielfältigen Modifikationen. Diese Studien ergaben viele widersprüchliche Ergebnisse, wonach sich festhalten lässt, dass die Beziehung zwischen Aggression und Frustration doch komplexer ist, als es sich Dollard und seine Mitarbeiter vorgestellt haben. Reduzierend und zusammenfassend kann man sagen, dass über Frustrationen Erregungen stimuliert werden, die in unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten münden können. Eine Möglichkeit davon ist die Aggression.

2.3.3 Ethologische Triebtheorie

Mit dem Buch „Das sogenannte Böse“ wurde Konrad Lorenz 1963 berühmt. In diesem Werk legte er erstmals die ethologische Sichtweise der Aggressivität dar und sorgte dadurch für viel Zündstoff. Zum einen rief es eine große Gegnerschaft auf den Plan, zum anderen befriedigte es aber auch die damalige Forschung. Lorenz vertrat die Ansicht einer so genannten „Dampfkesseltheorie der Aggression“. Diese Theorie besagt sinngemäß, dass Menschen aggressive Triebenergien ansammeln können, welche wiederum nach Abreaktion verlangen und sich, wenn sich diese Möglichkeiten nicht bieten, ohne Auslöser beliebig entladen können. Dies wird als Leerlaufreaktion bezeichnet.

An Lorenz’ Theorien wird kritisiert, dass er den Fehler machte, Ergebnisse aus der ethologischen Forschung an Tieren und deren zwischenartlicher Aggression auf Menschen zu generalisieren. Eine weitere These sorgte für Aufsehen: So sei Aggression ein auf den Artgenossen gerichteter Kampftrieb bei Tier und Mensch. Für Lorenz ist dies besonders fatal, da der Mensch im Gegensatz zum Tier zu wenige Hemmungen abrufen könne. Demnach gäbe es beim Tier kaum einen Kampf mit tödlichem Ausgang, da Tiere durch Demuts- oder Befriedungsgebärden gehemmt werden. Solche Gebärden kann der Mensch im Kampf mit neuzeitlichen Waffen kaum erkennen.

In der heutigen Humanethologie wird dieser Kampftrieb nur noch in modifizierter Form akzeptiert. Beispielsweise versteht Eibl-Eibesfeldt unter menschlichem Verhalten (also auch aggressives Verhalten), das Ergebnis des Zusammenwirkens angeborener Potentiale und Umweltbedingungen. So hat der Mensch angeborene agonale Potentiale mit aggressiven Tendenzen wie auch affiliative Potentiale mit verbindenden Tendenzen, z.B. im Sinne von Friedenssehnsucht (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1988, 34, 203 ff. zit. nach Myschker 1993, S.322).

Lorenz schlägt vor, die Energien des Aggressionstriebes auf Ersatzhandlungen in sportlichem, wissenschaftlichem oder künstlerischem Wettstreit umzuleiten.

2.3.4 Lerntheorien und aggressives Verhalten

Die Vertreter der Lerntheorien betrachten Aggressivität nicht als Trieb oder Instinkt, sondern glauben, dass bestimmte Verhaltensweisen, also auch aggressive Verhaltensweisen im Laufe der Entwicklung gelernt werden. Aggressivität ist dabei Teil der sozialen Verhaltensweisen, die ein Individuum erwirbt, beibehält und aktualisiert. Aggressives Verhalten kann sich durch die drei folgenden Lerntheorien erklären lassen.

2.3.4.1 Das klassische Konditionieren

Klassisches Konditionieren wurde durch die Hundeversuche Pawlows weltbekannt. Einem Hund wird Futter geboten und er reagiert mit Speichelfluss. Die Speichelabsonderung ist eine unbedingte Reaktion auf den unbedingten Reiz „Futter“. Lässt man der Fütterung einen neutralen Reiz vorausgehen, zum Beispiel ein Glockenton, so zeigt das Tier zunächst keine Reaktion auf den neutralen Reiz. Koppelt man diesen neutralen Reiz aber wiederholt mit dem unbedingten Reiz, kann man den Speichelfluss allein durch den Glockenton hervorrufen. Der neutrale Reiz wird zum bedingten Reiz, ein bedingter Reflex ist entstanden. Folglich setzt klassisches Konditionieren natürliche, unbedingte Reflexe oder reflexartige Reaktionen voraus.

In der Aggressionsforschung wird klassisches Konditionieren meistens in Verbindung mit der Erklärung von Ärger- und Wutreaktionen verwendet.

„Wenn ein Mensch uns mehrmals zu ärgern vermochte, genügt im allgemeinen schon sein Anblick oder die Nennung seines Namens, um wieder Mißstimmung auszulösen. Möglicherweise findet auch eine Generalisierung auf seine Familie, seine Freunde oder Landsleute statt („Vorsicht! Wieder so ein Türke[...]“).“ (Selg 1988, S.37)

Mit klassischem Konditionieren lernt man demnach, gefühlsmäßige Reaktionen auf neutrale Reize zu übertragen. Buss nimmt an, dass auch negative Einstellungen gegen bestimmte Objekte erworben werden, dass aber durch klassisches Konditionieren kein neues Verhalten im engeren Sinne erworben werden kann. Dazu würde es des operanten Konditionierens und des Lernens am Modell bedürfen (vgl. Buss zit. nach Selg 1988, S. 37).

2.3.4.2 Operantes Konditionieren

Operantes Konditionieren ist das Lernen aus den Folgen eines bestimmten Verhaltens.

Der Lernende sortiert dabei zwischen wirksamen Verhaltensformen, die er sich merkt, und unwirksamen, die er wiederum verwirft. Um die Wirkungen von Verhaltensweisen einzuschätzen, macht der Lernende zuerst den Effekt ausfindig, der durch sein Handeln ausgelöst wurde. Spätere Handlungen werden durch diese gesammelten Informationen geleitet. Hat ein Verhalten eine Strafe zur Folge, wird man in Zukunft vermutlich anders reagieren. Wird man in einem bestimmten Verhalten jedoch ermutigt, wird man auch weiterhin so reagieren. Dies nennt man auch Verstärkung.

Die Antizipation, also die gedankliche Vorwegnahme ermöglicht dem Lernenden, die Folgen seines Verhaltens vorauszusehen.

Für eine Person, die sich aggressiv verhält, beispielsweise jemanden verprügelt und dafür Lob erfährt in Form von Beifallsbekundungen durch Freunde, bedeutet das zum Beispiel auch weiterhin die Anwendung von aggressivem Verhalten zur Durchsetzung seiner Ziele zu nutzen.

2.3.4.3 Lernen am Modell

Da nicht alle Verhaltensweisen selbst erfahren werden können, spielt das Lernen am Modell eine weitere wichtige Rolle. Um Zeit und Energie zu sparen, beobachtet der Lernende andere Menschen, wie diese eine Situation meistern und nimmt sich daran ein Beispiel. So werden die meisten menschlichen Verhaltensweisen durch Beobachtung gelernt.

Das Lernen am Modell geht in verschiedenen Schritten vor sich. Der erste Schritt ist das aufmerksame Beobachten des Modellverhaltens. Worauf sich diese Aufmerksamkeit richtet, hängt vom sozialen Umfeld ab, in der sich die Person entwickelt. Aber auch das Verhältnis der Person zu anderen und persönlichen Faktoren sowie seine intellektuellen Fähigkeiten und seine Wachheit spielen dabei eine Rolle.

Auch die Auswahl der Modelle hängt stark davon ab, welches Verhältnis der Lernende zu ihm hat. Dabei werden Verhaltensweisen von Personen, die bewundert werden stärker nachgeahmt, als von solchen, die eher eine gleichgültige Rolle spielen.

Das soziale Umfeld spielt insofern eine Rolle, als das es den Lernenden mit bestimmten Verhaltenstypen konfrontiert. Menschen, die in sozialen Brennpunkten leben haben vermutlich mehr Gelegenheiten aggressives Verhalten zu erwerben, als Menschen in gut situierten Wohngegenden.

Damit nun das beobachtete Verhalten gespeichert wird, muss im zweiten Schritt das Gedächtnis angesprochen werden. Die Antwortmodelle werden dort durch eine symbolische Kodierung aufbewahrt, in Form von visuellen und verbalen Vorstellungen. Im entscheidenden und letzten Schritt greift dann eine Art Erinnerungsmechanismus, der die aggressiven Modelle abrufen kann. Ist der Lernende wiederholt aggressiven Modellen ausgesetzt, wird deren Aufnahme natürlich begünstigt. Auch bei diesem Lerntypus wird ständig angepasst, korrigiert und verworfen, wenn der Lernende feststellt, dass bei der Ausführung des aggressiven Verhaltens eine andere als die erwartete Reaktion folgt.

Modellernen gerät besonders durch Diskussionen über Gewaltdarstellung im Fernsehen und in Videospielen immer wieder ins Visier der Forschung. So hat eine Vielzahl von Experimenten gezeigt, dass aggressive Modelle in genau diesen Medien Einfluss auf Kinder und Jugendliche haben. Sie können ihre Aggressionsbereitschaft und auch ihr aggressives Verhalten steigern.

Selg findet es angesichts der vorliegenden empirischen Daten unerträglich, wenn um der Geschäftemacherei willen immer wieder behauptet würde, Darstellungen von Aggressionen in den Medien seien völlig ungefährlich, hätten sogar einen kathartischen Effekt. So haben Beobachtungen aggressiven Verhaltens noch nach einem halben Jahr ihre Nachwirkungen und Vergewaltigungsszenen könnten dazu führen, dass Frauen negativer und die Tat positiver gesehen werden (vgl. Selg 1992, S.3).

Des Weiteren sagt Selg, dass der Einfluss der Massenmedien auf die Aggressivität nicht exakt zu bestimmen ist. Es ist wahrscheinlich, dass Kinder insbesondere von ihren Eltern und anderen wichtigen Personen ihres Alters aggressives Verhalten lernen. Aggressive, körperlich strafende Eltern haben demnach die aggressivsten Kinder, und im Bereich von Krisenherden (z.B. Nordirland) sind Kinder zu allen denkbaren gewalttätigen Aggressionen bereit. Inzwischen würden aber viele Erfahrungen dafür sprechen, die Toleranz gegen die Darstellung aggressiver Szenen in den Medien zu überdenken. So würden Massen-Kommunikationsmittel einerseits Verhaltenstendenzen aufbauen, aber auch gesellschaftliche Zustände widerspiegeln. Seiner Ansicht nach wäre ein Verbot von Gewaltverherrlichung in den Medien zur Aggressivitätsminderung ein erster Schritt in die richtige Richtung. Bliebe es aber ohne tiefer greifende gesellschaftliche Veränderung, so hätte er nur den Charakter eines verlogenen Alibis (vgl. Selg 1988, S.43).

2.3.5 Der pädagogische Aspekt

Die Pädagogik betrachtet die Aggression in einem multikausalen Bedingungsgefüge. Das bedeutet, sie bezieht alle gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse, das familiäre Umfeld, den Kindergarten, das Heim oder die Schule mit ein und betrachtet die aktuellen Ausprägungen in der Umwelt und im kulturellen Bereich.

Mit der Abschaffung der so genannten „Zeigefingerpädagogik“ („Du sollst...!“ „Du sollst nicht...!“) in den 60er Jahren glaubte man zunächst den Kindern ihre Individualität zurückzugeben und ihre schöpferischen Energien zu fördern. Richtig ist, dass diese Form von „Zeigefingerpädagogik“ Kindern und Jugendlichen nichts bringt und sie eher dazu veranlassen aufzubegehren. Dennoch musste man feststellen, dass die völlige Freigabe der moralischen Entwicklung auch keine positiven Ergebnisse erzielten. Der Mangel an Vorschriften durch Erwachsene wurde bald durch eigene Vorschriften in der eigenen Gruppe (Peer-Group, Schulklasse) ersetzt. Primitive Vorschriften wie Faustrecht und Hackordnung haben dadurch die Möglichkeit sich auszubilden. Es gibt viele Beispiele, die diese Tendenz in Familien, auf Straßen, in Einrichtungen der öffentlichen Erziehung und Bildung darstellen.

Juul fand heraus, dass die Opfer von Gewalt eher aus „behüteten Familienverhältnissen“ stammten. Dagegen kamen die Täter aus Familien, in denen negative emotionale Beziehungen und Duldung von aggressiven Verhaltensweisen gegeben waren sowie autoritäre Erziehungsmethoden und körperliche Bestrafung vorherrschten (vgl. Myschker 1993, S.327).

Auch in der Schule gibt es einige aggressionsfördernde Stimuli nach Ortner/Ortner:

„ - Versagenserlebnisse (wie z.B. schlechte Zensuren) beim Schüler
- Das Suchen nach Bestätigung seitens der Mitschüler in einer Außenseiterposition
- Innerhalb der Schulklasse existierendes Konkurrenzdenken oder Leistungsdruck
- Frustrationen, die durch die Übergewichtung kognitiven Lernens, durch Überforderung (besonders bei lernschwachen Schülern), Einschränkung des Bewegungsbedürfnisses oder zu langes Stillsitzenmüssen entstehen
- Fehlende Lernmotivation (z.B. durch Fremdbestimmung)
- Der Wunsch nach Zuwendung und Anerkennung durch den Lehrer (auch Scheinaggression sind aus diesem Grund möglich)
- Eine mangelnde Geborgenheitsatmosphäre in der Schule, die z.B. durch zu hohe Klassenfrequenz, Wanderklasse, ein großes Schulsystem oder häufigen Lehrerwechsel bedingt sein kann
- Aggressive Reaktionen des Kindes mit einer grundsätzlichen Abwehrhaltung aus dem subjektiven Gefühl des Angegriffen-Seins heraus, also aufgrund falscher Wahrnehmung sozialer Geschehnisse in der Schule“ (Ortner/Ortner 1991, S. 114-115)

2.3.6 Der soziologische Aspekt

Auch die Gesellschaft spielt bei der Herausbildung von Aggressionen eine große Rolle. Bei Kindern und Jugendlichen kann zum Beispiel neben den primären Sozialisationsinstanzen die Peer-Group einen entscheidenden Beitrag zur Generierung von aggressiven Verhaltensweisen leisten. Denn innerhalb dieser Peer-Group gibt es gesellschaftliche Unterschiede, die sich aggressivitätsfördernd auswirken können. Außenseiterpositionen und soziale Randständigkeit durch Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit sind nur einige Beispiele. Zum Beispiel können stark ausgeprägte sozioökonomische Ungleichheiten in einer Gesellschaft auch aggressive Potentiale in sich bergen, die sich in sinnlosen Zerstörungen (Vandalismus) äußern können.

Zudem sind viele Väter und Mütter in Betriebsstrukturen eingebunden, in denen sowohl durch den Leistungsanspruch, als auch durch die Hierarchisierung systemimmanent Frustrationen ausgelöst werden, die sich wiederum in familiären Kontexten ausleben können.

Zusammenhänge zwischen Aggressionsbereitschaft und ökonomischen Faktoren sowie übermäßige Bevölkerungsdichte verweisen auf die Zunahme von Aggressions-Delikten in Depressionszeiten und die vergleichsweise hohe Kriminalitätsrate in großen Städten. Dieser Faktor Bevölkerungsdichte wirkt sich dabei nicht nur auf das Makrosystem einer Stadt, sondern auch auf das Mikrosystem Familie, Kindergarten oder Schulklasse aus.

Räumliche Enge kann dazu führen, dass Frustrationen, Erregung und Gereiztheit entstehen, aus denen wiederum Aggressionen resultieren können. In den Gruppen auf der Mikro- und auf der Makroebene spielt im Hinblick auf Aggressionsbereitschaft eine große Rolle, ob Anonymität und emotionale Distanz oder Bekanntheit und Vertrautheit gegeben sind (vgl. Myschker 1993, S.325).

3. Geschlechtsspezifische Unterschiede im aggressiven Verhalten

Betrachtet man sich die Umweltbedingungen, die für die Erklärung und Entstehung von aggressivem Verhalten dienen, so kann man feststellen, dass beide Geschlechter diesen Bedingungen ausgesetzt sind. Trotzdem sind es die Jungen, die häufiger aggressives Verhalten zeigen, zumindest auf die direkte und physische Aggression bezogen. Dies suggerieren uns Studien und Umfragen an Schulen sowie die Bundeskriminalstatistik der Polizei in Deutschland.

Fakt ist aber auch, dass Mädchen nicht frei von aggressivem Verhalten sind, sie haben ebenso ein Aggressionspotenzial wie Männer bzw. Jungen. In einer Untersuchung zu den somatischen Kulturen 12- bis 16jähriger äußern Mädchen sogar signifikant öfter Gefühle des Zorns bzw. Ärgers als Jungen, welche sich aber seltener in direkten Gewalthandlungen ausdrücken. (Mansel/Hurrelmann 1991 zit. nach Bruhns/Wittmann)

Durch die eingeschränkte Definition von Aggression auf die unmittelbare körperliche Schädigung eines Anderen werden Frauen und Mädchen als weniger gewalttätig eingeschätzt. Sie können aber genauso aggressiv-destruktiv sein.

„Frauen (bzw. Mädchen (Anm. der Verfasserin)) üben nicht nur indirekte Formen destruktiv-aggressiven Verhaltens aus, wie z.B. Ausgrenzen, Entwerten, Delegieren von Gewalt oder autoaggressives Verhaltens (psychosomatische Erkrankungen, Essstörungen oder Medikamentenkonsum), sondern haben ebenso direkte gewalttätige Verhaltensmuster, wie z.B. verbale Angriffe (beschimpfen, bloßstellen, hetzen, demütigen, entwerten, hänseln, lächerlich machen und dauernde Vorwürfe). Die schädigende Absicht sowie die Grenzverletzung gegenüber anderen ist hier ebenso enthalten wie in einem körperlichen Angriff.“ (Korn, Mücke 2000, S.27)

Auch Bruhns und Wittmann geben an, dass die These weit verbreitet sei, dass psychische und verbale Gewaltformen - eben Verhaltensweisen wie Hänseleien, Etikettierungen, soziale Ausgrenzung, Demütigungen, Beschimpfungen und Beleidigungen - „typisch weibliche“ Aggressionsäußerungen darstellen. Würz bestätigt diese These durch seine Befragung von Lehrern. So beschreiben Lehrer und Lehrerinnen „Gehässigkeiten“, verbale Attacken und Hinterhältigkeit („Petzen“) als mädchenspezifisches Verhalten. Und auch andere empirische Untersuchungen belegen, dass Mädchen gegen andere Personen vor allem psychische und verbale Formen der Gewalt einsetzen. Unter anderem führt Stenke (1997) dies auf sozialisatorisch erworbene Hemmungen zurück, Mädchen agieren also nicht körperlich aggressiv, da ein solches Verhalten mit Sanktionen verbunden ist (vgl. Bruhns/Wittmann 2002, S.17).

Horstkemper (1989, zit. nach Popp) gibt an, dass aggressive Verhaltensweisen bei Mädchen schärfer sanktioniert werden, da sie mit diesem Verhalten gegen Geschlechterrollenerwartungen verstoßen.

Tillmann erklärt dieses Verhalten mit den geschlechtstypischen Erwartungen: „Daß Konflikte von Mädchen eher subtil und auf der Beziehungsebene ausgetragen werden und daß Auseinandersetzungen zwischen Jungen offen aggressiv und vor Publikum stattfinden, verweist auf soziale Erwartungen an Männlichkeit und Weiblichkeit. Sie werden von den Akteuren in der Realität und als Realität produziert.“ (Tillmann 2000, S.21)

Das Mitführen und auch der Einsatz von Waffen wird sehr viel häufiger bei männlichen als bei weiblichen Jugendlichen beobachtet. Darauf deuten die Daten der PKS, als auch Untersuchungen an Schulen hin (vgl. PKS 2002 und Popp 1997; Fuchs 1995; Stenke u.a. 1998; Lanner/Sturzbecher 1997 zit. nach Bruhns/Wittmann 2002, S.19). Das Mitführen von Waffen (überwiegend Messer) in der Schule wird laut Fuchs größtenteils aus einem Schutzbedürfnis und aus Gründen der Selbstdarstellung heraus legitimiert.

Wenn Mädchen physische Gewalt anwenden, dann vor allem gegen andere Mädchen. Dass sie sich weniger mit Jungen prügeln wird damit begründet, dass sich Mädchen vor der körperlichen Überlegenheit fürchten. Gibt es Kämpfe zwischen Jugendgruppen, dann sind die weiblichen Gruppenmitglieder vor allem für die weiblichen Mitglieder der generischen Gruppen „zuständig“. Es gibt jedoch auch Mädchen, die gleichermaßen gegen weibliche als auch männliche Jugendliche vorgehen. Insbesondere Mädchen, die Vergewaltigungserfahrungen gemacht haben, wenden ihre Gewalt auch massiv gegen junge Männer (vgl. Böttger 1998, zit. nach Bruhns/Wittmann 2002, S.20).

Neid, Konkurrenz und Eifersucht werden überwiegend als Anlässe für körperliche Gewalt genannt (vgl. Tillmann 2000), aber auch die Abwehr körperlicher Attacken, sowie die „Andersartigkeit“ fremder weiblicher Personen können weiterhin ausschlaggebend sein. Uneins ist man sich noch, ob Mädchen sich mit dieser Form aggressiven Verhaltens sozial durchsetzen, wie ihre männlichen Gegenüber, oder ihren eigenen Status erhöhen und Anerkennung erhalten wollen (vgl. ebd.).

Die Gründe für die Gewalttätigkeit und Aggressivität von weiblichen Jugendlichen sieht man, ähnlich wie bei den männlichen Jugendlichen in einem komplexen Bedingungsgefüge, also in familialen, schulischen, milieuspezifischen, sozio-kulturellen und personalen Bedingungen.

3.1 Mädchen und aggressives Verhalten – Was sagt die Forschung?

Um den bisherigen Forschungsstand zum Thema aggressives Verhalten bei Mädchen näher beleuchten zu können, bietet sich zum einen die Polizeiliche Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland an. Hier wird auch zwischen den Geschlechtern, die Kriminaltaten begangen haben differenziert. Da die PKS schon seit Jahren geführt wird, kann sie außerdem einen Überblick über die Veränderungen bezüglich der Zahlen im Vergleich geben.

Zum anderen kann man aber auch allgemeine Untersuchungen zum Thema Aggression zu Rate ziehen. Das können Untersuchungen und Umfragen an Schülern und Lehrern oder an Jugendlichen allgemein sein. In diesem Kapitel sollen nun kurz die Forschungsstände zum aggressiven Verhalten von Mädchen wiedergegeben werden.

3.1.1 Bundeskriminalamt – Polizeiliche Kriminalstatistik

Eine der bekanntesten Möglichkeiten Einblick in das aggressive und gewalttätige Verhalten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu bekommen ist die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) der Bundesrepublik Deutschland. Festgehalten werden muss allerdings, dass es bei diesen Zahlen immer um Straftaten geht, die zur Anzeige gekommen sind. Das Dunkelfeld wird sich in einem größeren Bereich aufhalten.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnete im Berichtsjahr 2000 einen Anstieg bei Körperverletzungsdelikten um fast 7% bei jugendlichen Tatverdächtigen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren und um 9% bei tatverdächtigen Jugendlichen unter 14 Jahren. Geschlechtsspezifische Auswertungen von Kriminalstatistiken zeigen, dass insbesondere männliche Jugendliche aufgrund von Körperverletzungsdelikten tatverdächtig werden (vgl. Bruhns/Wittmann 2002, S.12).

Nach einer weiteren Analyse der Bundeskriminalstatistik durch Pfeiffer und Wetzel haben die Anteile der Mädchen sich seit Mitte der 80er Jahre jedoch insbesondere bei den Gewaltdelikten schwere und gefährliche Körperverletzung erhöht (vgl. Pfeifer/Wetzel 1997; Pfeiffer u.a. 1998; Pfeiffer 1995; Bundeskriminalamt 1996, 1999 zit. nach Bruhns/Wittmann 2002, S.13).

Sieht man sich die neueste Polizeiliche Kriminalstatistik aus dem Jahr 2002 an, so stellt sich heraus, dass bei den jugendlichen Tatverdächtigen im Alter von 14-18 Jahren eine klare Verteilung zugunsten der männlichen Jugendlichen liegt. (Verteilung 10,3% zu 3,8%) In Zahlen ausgedrückt sind im Jahr 2002 180325 Jungen tatverdächtig geworden und im Gegensatz dazu „nur“ 66318 Mädchen. Allerdings war bei dem männlichen Jungendlichen ein Rückgang der Zahlen um -1,3 % zum Vorjahr zu verzeichnen, während es bei den weiblichen Jugendlichen einen Anstieg um +5,2% gab.

Allgemein kann man im Jahr 2002 gegenüber dem Vorjahr einen leichten Anstieg der jugendlichen Tatverdächtigen festhalten. Stärker angestiegen sind dabei Delikte wie „einfacher“ Diebstahl, Körperverletzung, Verkauf und Konsum von Cannabis, sowie Straftaten gegen das Waffengesetz (vgl. PKS Berichtsjahr 2002).

Oswald weist darauf hin, bei der Interpretation der polizeilichen Kriminalstatistik vorsichtig zu sein und gewisse Aspekte bei der Interpretation zu berücksichtigen. So ist zum Beispiel die Zählweise für die polizeiliche Kriminalstatistik 1983 grundlegend geändert worden. Wie, das wird allerdings von Oswald nicht näher erläutert.

Den Anstieg der Kriminalität bei Jugendlichen (und Erwachsenen) mit Hilfe der PKS zu interpretieren hält Oswald für fragwürdig, weil diese Statistik lediglich das Anzeigeverhalten der Bevölkerung widerspiegelt, welches nicht zeitlich und regional konstant zu sehen ist. Außerdem glaubt er auch, dass die Anzeigebereitschaft sich gegenüber bestimmten Deliktarten verändern kann. Als zweiten Punkt bringt Oswald ein, dass die Polizei über einen Ermessensspielraum bei der Entgegennahme von Anzeigen verfügt. Zudem weist Oswald darauf hin, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik nicht die Dunkelziffer erfasst (vgl. Oswald 1999, S.44-46).

Diese Ausführung macht deutlich, wie vorsichtig man diese Werten interpretieren sollte. Jedoch stellt sie auch eine Orientierungsmöglichkeit dar und sollte nicht völlig außer Acht gelassen werden. Es steht außer Frage, dass erhöhte Werte auch in den Medien für einen enormen Aufruhr sorgen, doch ein Sinken von Zahlen wird im Gegenzug nicht genannt.

Pfeiffer behauptet, dass der Anstieg der Jugendkriminalität in der PKS kein bloßes Artefakt sei. Er erklärt dieses Phänomen durch „Prozesse der Verarmung, der zunehmenden Diskrepanz zwischen Gewinnern und Verlierern in der Gesellschaft und der sozialen Desintegration.“ (Pfeiffer 1996 zit. nach Lösel 1999 S.78-79)

3.1.2 Untersuchungen an Schulen

Empirische Untersuchungen an Schulen bestätigen das Bild, dass gewalttätiges Verhalten eine Domäne von Jungen und jungen Männern ist. Mädchen und junge Frauen geben deutlich weniger an, Körperverletzungen begangen zu haben. Quantitativ gesehen sind es etwa halb so viele Mädchen wie Jungen, die von eigenen Gewalthandlungen gegen andere Personen berichten (vgl. Bruhns/Wittmann 2002, S. 13).

Mansel und Hurrelmann wiederholten eine repräsentative Umfrage mit Hilfe eines Fragebogens über selbstberichtetes aggressives Verhalten und Eigentumsdelikten Jugendlicher der Sekundarstufe I in den Jahren 1988 und 1996 in Nordrhein-Westfalen und 1990 und 1996 in Sachsen. Im Bezug auf die Bedeutung des Geschlechts haben sie festgestellt, dass 22,5 % der Mädchen angaben, jemanden absichtlich geschlagen oder verprügelt zu haben. Allerdings bleibt der Anteil 1988 und 1996 annähernd identisch.

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Ende der Leseprobe aus 101 Seiten

Details

Titel
Aggressive Mädchen - Eine Herausforderung für die Heil- und Sonderpädagogik?
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
1,25
Autor
Jahr
2003
Seiten
101
Katalognummer
V43508
ISBN (eBook)
9783638412773
Dateigröße
1113 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aggressive, Mädchen, Eine, Herausforderung, Heil-, Sonderpädagogik
Arbeit zitieren
Claudia Grensemann (Autor:in), 2003, Aggressive Mädchen - Eine Herausforderung für die Heil- und Sonderpädagogik?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43508

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