Deutschunterricht in der Sek. I im Zeichen der Inklusion. Eine Fallstudie zum Umgang mit heterogenen Lerngruppen im Arbeitsbereich Lesen

Mit Texten und Medien umgehen


Masterarbeit, 2016

123 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. EINLEITUNG
1.1 Problemstellung
1.2 Vorgehensweise

2. RAHMENBEDINGUNGEN DES HEUTIGEN DEUTSCHUNTERRICHTS - ZWISCHEN BILDUNGSSTANDARDS UND INKLUSIVEM UNTERRICHT
2.1 Kompetenzorientierung
2.2 Inklusion
2.2. 1 Zum Begriff der Inklusion
2.2.2 bildungspolitische und gesetzliche Vorgaben
2.3 Heterogenität
2.3.1 Zum Begriff Heterogenität
2.3.2 Heterogenitätsdimensionen
2.4 Differenzierung
2.4.1 Zum Begriff Differenzierung
2.4.2 Differenzierungsebenen
2.4.3 Formen der inneren Differenzierung
2.4.4 Möglichkeiten der Differenzierung bei der Arbeit mit Texten

3. SCHWERPUNKTSETZUNG IM ARBEITSBEREICH LESEN - MIT TEXTEN UND MEDIEN UMGEHEN

4. PRAKTISCHER TEIL
4.1 Methodik
4.1.1 Das problemzentrierte Interview
4. 1.2 Aufbereitungsverfahren: die wörtliche Transkription
4.1.3 Auswertungsverfahren: die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse
4.2 Entwicklung der Untersuchungsinstrumente
4.2.1 Kurzfragebogen
4.2.2 Interviewleitfaden
4.2.3 Pilotinterview
4.3 Beschreibung der Stichprobe
4.4 Durchführung und Auswertung der Interviews
4.4.1 Heterogenität im Deutschunterricht - Inwieweit wird sie von den Befragten wahrgenommen und wie wird sie berücksichtigt?
4.4.2 Die Differenzierung von literarischen Texten
4.4.3 Differenzierung von Aufgabenstellungen

5. DISKUSSION DER ERGEBNISSE

5.1 Zur Heterogenität in den Lerngruppen
5.2 Die Differenzierung auf der sozialen, didaktischen und methodischen Ebene
5.3 Die Differenzierung literarischer Texten
5.4 Die Differenzierung durch Aufgabenstellungen

6. SCHLUSSBETRACHTUNGEN UND AUSBLICK

7. LITERATURVERZEICHNIS

ANHANG I

ANHANG II (= Transkription der Interviews --> nicht in dieser Veröffentlichung enthalten!)

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Übersicht zu den Sozialklassen nach Eikson, Goldthorpe und Portocarero (vgl. Cramer 2012, S. 161)

Abbildung 2: Ablaufmodell des problemzentrierten Interviews (vgl. Mayring 2016, S. 71)

Abbildung 3: Transkriptionsregeln

Abbildung 4: Transkriptionsregeln

Abbildung 5: Ablaufschema einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse (vgl. Kuckartz 2014, S. 78)

TABELLENVERZEICHNIS

Tabelle 1: Merkmale gut und schlecht strukturierter Problemstellungen (vgl. WInkler 2011, S. 45)

„ Die Verschiedenheit der K ö pfe ist das grosse Hinderniss

aller Schulbildung. Darauf nicht zu achten ist der Grundfehler aller Schulgesetze, die den Despotismus der Schulm ä nner beg ü nstigen, und alles nach Einer Schnur zu hobeln veranlassen. “ (Herbart 1806, S. 453)

1. EINLEITUNG

1.1 Problemstellung

Vor allem seit dem Ü bereinkommen ü ber die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UN-Behindertenrechtskonvention, bei dem 2006 eine gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung beschlossen wurde, ist eine vermehrte Heterogenität in den Klassen der Regelschulen festzustellen. Als Behinderung zählen dabei „langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen“, welche die Menschen „in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen1 Art. 1). Doch bereits vor diesem Beschluss war jede Lerngruppe in unterschiedlich großem Ausmaß als heterogen zu bewerten, wie Johann Friedrich Herbart bereits 1806 konstatierte. Er formulierte schon früh die Notwendigkeit, die Verschiedenheit der Schüler2 anzuerkennen und verwies auf die Verantwortlichkeit der Bildungsinstitutionen.

Der Begriff Heterogenität bezeichnet in der pädagogischen Diskussion das Vorhandensein sowie die unterschiedliche Ausprägung verschiedener Merkmale von Mitgliedern einer Lerngruppe, die im schulischen Kontext als relevant eingeschätzt werden. Jeder Schüler bringt verschiedene Lernvoraussetzungen, unterschiedliches Vorwissen, einen unterschiedlichen religiösen bzw. kulturellen Erfahrungshintergrund oder andere Faktoren mit sich, die ihn von seinen Mitschülern unterscheiden. Mit der Einf ü hrung der inklusiven Schule in Niedersachsen (vgl. NSchG §4) werden Schüler mit und ohne Beeinträchtigungen sowie Behinderungen gemeinsam beschult. Lehrkräfte an Regelschulen sind folglich mit Aspekten von Heterogenität konfrontiert, die dort in der Form bisher nicht vorzufinden waren. Den individuellen Bedürfnissen der Schüler können Lehrkräfte nur mit differenziertem Unterricht begegnen (vgl. Lanig 2013, S. 5).

Unter Differenzierung werden Maßnahmen verstanden, die unternommen werden, um den individuellen Bedürfnissen der Schüler gerecht zu werden. Dazu gehören die äußere und die innere Differenzierung.

Die äußere Differenzierung, bei der Schüler in Abhängigkeit ihrer Leistung und ihres Alters in Schulformen oder Jahrgangsklassen eingeteilt werden, wurde bereits von Comenius (1592 - 1670) vorgenommen (vgl. Eberle et al. 2014, S. 2). Notwendig ist nun aber die innere Differenzierung, auch Binnendifferenzierung genannt, bei der gezielt Maßnahmen innerhalb eines Klassenverbundes oder einer Lerngruppe erfolgen, die die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler berücksichtigen. Die Forderung nach innerer Differenzierung wurde bereits in den 1970er-Jahren laut, fand in der Praxis jedoch keine Anwendung (vgl. Eberle et al. 2014, S. 1).

Das Niedersächsische Kultusministerium reagierte auf die vermehrte Heterogenität in den Klassen. Im weiterentwickelten Kerncurriculum für die Sekundarstufe I des Gymnasiums, in dem die von Schülern erwarteten Kompetenzen festgeschrieben sind, wird die innere Differenzierung zum ersten Mal - im Rahmen des gymnasialen Lehrplanes - explizit beschrieben und als „Grundprinzip in jedem Unterricht“ (Niedersächsisches Kultusministerium3 2015, S. 14) bezeichnet, das „auf die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler“ (NMK 2015, S. 14) abzielt. Gemeint ist damit unter anderem die Förderung fächerübergreifender Kompetenzen wie beispielsweise Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit im Lernprozess sowie Kooperation und Kommunikation innerhalb der Lerngruppe, aber auch das Beherrschen wichtiger Lernund Arbeitstechniken (vgl. NMK 2015, S. 14). Im Kerncurriculum für die Integrierte Gesamtschule wurde bereits im Jahr 2006 der Anspruch dieser Schulform betont, die innere und äußere Leistungsdifferenzierung zu verwirklichen (vgl. NMK 2006a, S. 13).

Die bewusste Wahrnehmung der Individualität von Schülern ist die Voraussetzung für die Gestaltung eines inklusiven und differenzierten Unterrichts, in dem die Bedürfnisse aller Schüler bestmöglich berücksichtigt werden. Zudem hängt ein angemessener Umgang mit Heterogenität oftmals eng mit grundlegenden persönlichen Einstellungen der Lehrkräfte zusammen (vgl. u. a. Graumann 2002). Bereits vor der Inklusion wurde der Umgang mit heterogenen Lerngruppen häufig mehr als Problem denn als Chance begriffen (vgl. u. a. Trautmann/Wischer 2011).

Im Grundschulbereich wurde das Thema Inklusion und differenzierter Unterricht bereits früh aufgegriffen (vgl. Bartnitzky 2014, S. 35; Naujok 2014, S. 25). Für die Planung und Umsetzung eines inklusiven und differenzierten Deutschunterrichts in den Sekundarstufen gibt es bisher jedoch kaum tragfähige Unterrichtskonzepte (vgl. Greiten 2014, S. 109). Dies spiegelt sich auch in der geringen Zahl der bisher veröffentlichten Monographien wider, die sich mit der fachdidaktischen Umsetzung von Differenzierung befassen (vgl. Brand 2014, S. 37). Dabei sollte differenzierter Unterricht besonders im Fach Deutsch eine Rolle spielen, da in keinem anderen Fach die Lernvoraussetzungen der Schüler von so großer Bedeutung für die Teilhabe am Unterricht sind (vgl. Brand 2014, S. 38f.).

Wie im Kerncurriculum deutlich wird, besteht auch an Gymnasien der Bedarf der inneren Differenzierung. Schaut man exemplarisch in konkrete Differenzierungsmodelle verschiedener Gymnasien, so wird allerdings deutlich, dass sich die getroffenen Maßnahmen vor allem auf die Wahl von Schwerpunktfächern oder Kursen beziehen und somit zur äußeren Differenzierung gehören (vgl. u. a. Gymnasium am Turmhof, Gymnasium Jülich, Städtisches Hansa Gymnasium Köln). Weitere Möglichkeiten der Differenzierung werden nicht dargestellt. Auch ein gemeinsames Lehrwerk für alle Schüler einer inklusiven gymnasialen Schulklasse ist bisher nicht erschienen (vgl. Hölzner 2014, S. 50). Eisenmann und Grimm (2014) heben zudem hervor, dass auch Gesamtschulen ihrem Anspruch, individuell bestmöglich zu differenzieren, häufig nicht gerecht werden.

Auf Grundlage der dargestellten Situation stellt sich die Frage, in welcher Form Lehrkräfte an Integrierten Gesamtschulen und Gymnasien die Heterogenität in ihren Lerngruppen wahrnehmen, da dies als Voraussetzung für die Durchführung differenzierten Unterrichts gilt. Zudem ist von Interesse, inwieweit sie dem Anspruch eines binnendifferenzierten Unterrichts gerecht werden. Die vorliegende Arbeit untersucht mittels einer qualitativen Fallstudie subjektive Meinungen ausgewählter Lehrkräfte, die Auskunft darüber geben sollen, inwieweit die befragten Lehrer Heterogenität in ihren Klassen wahrnehmen. Zum einen steht im Fokus, welche Heterogenitätsdimensionen die Lehrkräfte vorrangig beobachten. Zum anderen sollen die Merkmale, die bei der Planung sowie der Durchführung ihres Deutschunterrichts eine besondere Rolle spielen, identifiziert werden. Darüber hinaus soll aufgezeigt werden, welche Differenzierungsmaßnahmen die Befragten in ihren Lerngruppen nutzen, um den individuellen Bedürfnissen der Schüler gerecht zu werden. Auch mit Hinblick darauf, dass in den Klassen oftmals noch keine inklusiven Lehrwerke zur Verfügung stehen, wird untersucht, welche der Interviewpartner dennoch differenziert in ihrem Unterricht lehren. Sollte einer der Befragten nicht in seinem Unterricht differenzieren, wird versucht, mögliche Gründe dafür in Erfahrung zu bringen.

Das Unterrichtsfach Deutsch besteht aus den vier Arbeitsbereichen Zuh ö ren und Sprechen, Schreiben, Sprache und Sprachgebrauch untersuchen sowie Lesen - mit Texten und Medien umgehen (vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 20044, S. 8). Grundsätzlich steht der Bereich Sprache und Sprachgebrauch untersuche n in Beziehung zu den anderen Arbeitsbereichen, da Sprache nicht nur Gegenstand, sondern auch Medium des Unterrichts ist: „Die Verständigung über Texte erfolgt durch sprachliche Akte, die wiederum Gegenstand der Reflexion sein können.“ (NMK 2015, S. 9)

In unserer Gesellschaft gilt vor allem Lesekompetenz als die „Schlüsselqualifikation par excellence“ (Artelt et al. 2007, S. 6), um am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilzuhaben (vgl. Artelt et al. 2010a, S. 23). Wissen und Informationen werden vor allem in Form von Texten festgehalten und weitergegeben. Gut ausgebildete Lesefähigkeiten sind nicht nur im Deutschunterricht von Bedeutung, sondern dienen überdies als Grundlage für den Unterricht in anderen Fächern, um dort Texte und Aufgabenstellungen zu verstehen. Der Ausbildung der Lesekompetenz kommt ferner eine Schlüsselrolle nach der Schulzeit zu. Bussière und Knighton (2006) fanden heraus, dass die im Alter von 15 Jahren gemessene Lesekompetenz signifikant zur Vorhersage des im Alter von 19 Jahren erzielten Bildungserfolges beiträgt. Zudem verfügen gute Leser tendenziell über ein höheres Einkommen und sind seltener von Arbeitslosigkeit betroffen als schwache Leser (vgl. Organisation for the Economic Co-operation and Development 2000). Die kontinuierliche Steigerung der Lesekompetenz der Schüler steht vor allem im Kompetenzbereich Lesen - mit Texten und Medien umgehen im Vordergrund (vgl. NMK 2006, S. 23), sodass der Fokus dieser Arbeit auf dem Umgang mit Heterogenität im Bereich Lesen - mit Texten und Medien umgehen liegt.

1.2 Vorgehensweise

Zunächst werden im zweiten Kapitel die Rahmenbedingungen dargestellt, unter denen der Deutschunterricht geplant und durchgeführt wird. Zum einen gehören dazu die institutionellen Einflüsse des Niedersächsischen Kultusministeriums, das durch die Entwicklung der Kerncurricula einen kompetenzorientierten Unterricht festgeschrieben hat, sowie zahlreiche bildungspolitische und rechtliche Vorgaben zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen. Zum anderen handelt es sich um Faktoren, die sich aus den genannten institutionellen Rahmenbedingungen ergeben. Dies ist die Heterogenität mit ihren unterschiedlichen Dimensionen sowie die Differenzierung, die verschiedene Formen und Maßnahmen beinhaltet. Der Fokus liegt dabei auf der inneren Differenzierung, die Ziel jeden Unterrichts sein sollte.

Neben dem allgemeinen Umgang mit heterogenen Lerngruppen im Arbeitsbereich Lesen - mit Texten und Medien umgehen wird in den Interviews der Schwerpunkt auf die Differenzierung von literarischen Texten sowie von Aufgabenstellungen gesetzt. Dies ist vor allem angesichts fehlender inklusiver Lehrwerke relevant, da Lehrkräfte die individuellen Bedürfnisse ihrer Schüler bei der Arbeit mit literarischen Texten und der Aufgabenbearbeitung trotz fehlender Materialien berücksichtigen sollen. Die Schwerpunktsetzung wird im dritten Kapitel ausführlicher dargestellt und begründet. Im vierten Kapitel folgt der praktische Teil. Zu Beginn werden die Untersuchungsmethode und der Ablauf des problemzentrierten Interviews dargelegt. Des Weiteren werden die wörtliche Transkription sowie die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse erläutert, die zur Aufbereitung und zur Auswertung der Interviews genutzt werden. Darüber hinaus werden die verwendeten Untersuchungsinstrumente des Kurzfragebogens und des Interviewleitfadens beschrieben und die Funktion der darin enthaltenen Fragen erläutert. Anschließend folgen die Beschreibung der Pilotphase sowie der Stichprobe für die Interviews. In Kapitel 4.4 werden sowohl die Durchführung als auch die Ergebnisse der einzelnen Befragungen ausführlich dargestellt. Dies erfolgt mit Hilfe der Einteilung in die Unterpunkte Zum Umgang mit Heterogenit ä t, Zur Differenzierung mit Texten und Zur Differenzierung von Aufgabenstellungen.

Im fünften Kapitel werden die im vorhergehenden Kapitel gesichteten Ergebnisse bezugnehmend auf die eingangs formulierten Problemstellungen diskutiert. Dies umfasst sowohl bedeutsame Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen den Befragten sowie Auffälligkeiten in den einzelnen Aussagen der interviewten Lehrkräfte. Das sechste Kapitel besteht aus der Schlussbetrachtung, in der mögliche auftretende Schwierigkeiten beim differenzierten Unterricht sowie der Inklusion beschrieben werden. Zudem erfolgt ein Ausblick auf weitere Forschungsfragen, die im Verlauf dieser Arbeit aufgetreten sind.

2. RAHMENBEDINGUNGEN DES HEUTIGEN DEUTSCHUNTERRICHTS ZWISCHEN BILDUNGSSTANDARDS UND INKLUSIVEM UNTERRICHT

Der Deutschunterricht wird heutzutage von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren bestimmt, die sowohl Einfluss auf die Unterrichtsplanung als auch auf die Unterrichtsdurchführung nehmen und im Folgenden dargestellt werden sollen.

Dies ist zum einen die Entwicklung der nationalen Bildungsstandards und der Kerncurricula für Niedersachsen, die eine Kompetenzorientierung des Deutschunterrichts zur Folge haben. Zum anderen wurden durch bildungspolitische Vorgaben wie dem Ü bereinkommen ü ber die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) der Vereinten Nationen, dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung, dem Beschluss der Kultusministerkonferenz über die Inklusive Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen und dem §4 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) zur Einf ü hrung der inklusiven Schule Rahmenbedingungen zur gemeinsamen Beschulung behinderter und nicht-behinderter Kinder und Jugendlicher geschaffen. Diese inklusive Beschulung, aber auch weitere Faktoren wie die extrem hohe Anzahl von Zuwanderern nach Deutschland (vgl. Statistisches Bundesamt 2015b), führen zu einer vermehrten Heterogenität und zum Auftreten vielfältiger Heterogenitätsmerkmale in den Lerngruppen, mit denen Lehrkräfte in Klassen konfrontiert werden. Um die individuellen Bedürfnisse möglichst jeden Lerners optimal zu fördern, gibt es die Möglichkeiten der Differenzierung, die bei der Unterrichtsplanung und -vorbereitung berücksichtigt werden müssen.

2.1 Kompetenzorientierung

In den Jahren 2003 und 2004 wurden von der Kultusministerkonferenz die sogenannten Bildungsstandards für den Primarbereich, den Hauptschulabschluss und den Mittleren Schulabschluss festgelegt, die als eine Reaktion auf das unterdurchschnittliche Abschneiden der Jugendlichen bei PISA 20005 gesehen werden können (vgl. KMK 2010, S. 5).

Bildungsstandards sollen „für Transparenz schulischer Anforderungen […] sorgen, die Entwicklung eines kompetenzorientierten Unterrichts […] fördern und eine Grundlage für die Überprüfung der erreichten Ergebnisse […] schaffen“ (KMK 2012, S. 2). Durch die Standards und dem damit verbundenen kompetenzorientierten Unterricht sollen die Qualität von Lernprozessen und die Leistungen der Schüler in Deutschland signifikant verbessert werden (vgl. KMK 2010, S. 9).

Bildungsstandards benennen dabei in Form von Kompetenzen „Ziele für die pädagogische Arbeit“ (John-Ohnesorg/Wernstedt 2009, S. 14). Diese Ziele sind outcome-orientiert, das heißt, sie sind verbindliche Regelstandards, die alle Schüler am Ende einer Jahrgangsstufe erreicht haben sollten (vgl. KMK 2004, S. 6). So soll „ein Mindestmaß an Kompetenzen für alle“ (KMK 2010, S. 7) sichergestellt werden. Die Standards „basieren auf fachspezifisch definierten Kompetenzmodellen, die aus der Erfahrung der Schulpraxis heraus entwickelt wurden“ (KMK 2004, S. 3). Die Planung des Unterrichts sowie dessen Durchführung soll an diesen Kompetenzen orientiert entworfen werden (vgl. KMK 2010, S. 7).

Die niedersächsischen Kerncurricula konkretisieren die Vorgaben der Bildungsstandards, „indem sie fachspezifische Kompetenzen für Doppeljahrgänge aufweisen und Kenntnisse und Fähigkeiten benennen“ (NMK 2006a, S. 5), die zur Erreichung dieser Kompetenzen notwendig sind. Kompetenzen umfassen dabei laut niedersächsischem Kerncurriculum „Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten, aber auch Bereitschaften, Haltungen und Einstellungen, über die Schülerinnen und Schüler verfügen müssen, um Anforderungssituationen gewachsen zu sein“ (NMK 2006a, S. 5). Die Kerncurricula, auf die im Verlauf dieser Arbeit Bezug genommen wird, sind sowohl die Kerncurricula Deutsch für das Gymnasium Schuljahrgänge 5-10 aus dem Jahr 2006 und 20156 als auch das Kerncurriculum Deutsch für die Integrierte Gesamtschule Schuljahrgänge 5-10 aus dem Jahr 2006.

2.2 Inklusion

2.2. 1 Zum Begriff der Inklusion

Inklusion ist in der schulpolitischen Debatte ein mittlerweile häufig genutzter, wenn auch umstrittener Begriff. Die Autorenmeinungen gehen auseinander, ob Inklusion ausschließlich ein neumoderner Terminus ist, der bedeutungsgleich mit dem der Integration ist und daher synonym verwendet werden kann (vgl. u. a. Feyerer/Prammer 2003) oder ob es sich hierbei um Begrifflichkeiten handelt, die in Abgrenzung voneinander stehen und bei denen Inklusion als eine Erweiterung oder Optimierung von Integration aufgefasst werden kann (vgl. u. a. Veber 2010; Lanig 2013). In der vorliegenden Arbeit wird Inklusion in Abgrenzung zu Integration verstanden, da diese Position die in dem Großteil wissenschaftlicher Veröffentlichungen vorherrschende aktuelle Meinung und den Anspruch einer von Gleichberechtigung aller Individuen geprägten Gesellschaft widerspiegelt (vgl. u.a. Nipkow 2005; Schwager 2005; Frühauf 2012; Heimlich 2012; Reich 2012).

In einer inklusiven Gesellschaft werden alle Menschen als gleichberechtigte Individuen angesehen und die Heterogenität und Vielfalt einer Gruppe als selbstverständlich und konstitutiv angenommen. Die Zwei-Gruppen-Theorie der Integration (vgl. Hinz 2002, S. 357), bei der es eine verhältnismäßig homogene Mehrheit und eine kleinere Außengruppe gibt, die integriert werden muss, findet bei der Inklusion keine Anwendung mehr, da alle Individuen als selbstbestimmende Mitglieder einer heterogenen Gesellschaft angesehen werden.

Die UNESCO, deren Hauptaufgabengebiet unter anderem die Förderung von Erziehung und Bildung ist, definiert Inklusion in ihrer Publikation Guidelines for Inclusion: Ensuring Access to Education for All im Jahr 2005 wie folgt:

Inclusion is seen as a process of addressing and responding to the diversity of needs of all learners through increasing participation in learning, cultures and communities, and reducing exclusion within and from education. It involves changes and modifications in content, approaches, structures and strategies, with a common vision which covers all children of the appropriate age range and a conviction that it is the responsibility of the regular system to educate all children. (S. 13)

Inklusion wird als Prozess beschrieben, der darauf abzielt, die Vielfalt einer heterogenen Gesellschaft und die inter- und intraindividuellen Unterschiede als natürlich anzunehmen, um von diesen Unterschieden zu profitieren (vgl. UNESCO 2005, S. 15). Dieser Heterogenität sollte man unter anderem mit Modifikationen beim Unterrichtsaufbau, beim -inhalt, aber auch bei der Methodik begegnen. Wichtig ist in dieser Definition zudem die herausgestellte Position der Regelschule, die die Aufgabe und Verantwortung innehat, alle Kinder zu unterrichten und auszubilden. Dies schließt nicht nur Kinder mit Förderbedarf oder Behinderungen ein, sondern beispielsweise auch Kinder mit Hochbegabung o. ä. Dabei soll sowohl das Schulsystem als auch die Lernumgebung an die Bedürfnisse seiner Lerner angepasst werden und nicht wie bei der Integration die Lerner in das bestehende System integriert werden (vgl. UNESCO 2005, S. 15).

2.2.2 bildungspolitische und gesetzliche Vorgaben

Die erste Grundsteinlegung zur gemeinsamen Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen erfolgte bereits 1994 mit der Salamanca Erkl ä rung der UNESCO, die auf der Weltkonferenz P ä dagogik f ü r besondere Bed ü rfnisse: Zugang und Qualit ä t von Vertretern von 92 Regierungen und 25 internationalen Organisationen verabschiedet wurde (vgl. UNESCO 1994). Auch wenn der Schwerpunkt dieser Konferenz auf der sonderpädagogischen Förderung lag, wurde dennoch festgestellt, dass inklusive Settings, die die individuellen Lernbedürfnisse der Schüler berücksichtigen, auch in Regelschulen, die dann als inklusive Schulen fungieren, Einzug halten müssen:

Experience in many countries demonstrates that the integration of children and youth with special educational needs is best achieved within inclusive7 schools that serve all children within a community (UNESCO 1994, S. 11)

Die Salamanca Erkl ä rung hebt das grundsätzliche Recht eines jeden Kindes auf Bildung und auf das Erreichen eines akzeptablen Lernniveaus, „unabhängig von [seinen] individuellen Schwierigkeiten“ oder von „physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten“ (UNESCO 1994) hervor. Regelschulen und Lehrpläne müssen dahingehend angepasst werden, dass sie dieser Anforderung gerecht werden (vgl. UNESCO 1994). Die Salamanca Erkl ä rung war der erste Anstoß, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen in Regelschulen zu unterrichten. Allerdings ist dieses Anliegen - trotz der Ratifizierung durch Deutschland - erst im Jahr 2009 mit dem Ü bereinkommen ü ber die Rechte von Menschen mit Behinderungen - auch Behindertenrechtskonvention - zum deutschen Schulsystem durchgedrungen.

Das Ü bereinkommen der Vereinten Nationen ü ber die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) aus dem Jahr 2006, welches am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist, legt Rahmenbedingungen für die Herstellung von Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen fest, die die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller sichern soll (vgl. UN-BRK Art. 3c). Die

Behindertenrechtskonvention bekräftigt, dass „jeder Mensch ohne Unterschied Anspruch auf alle darin [in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den Internationalen Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen; Anm. der Verfasserin] aufgeführten Rechte und Freiheiten hat“ (UN-BRK Präambel) und dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten auch für Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung garantiert werden müssen (vgl. UN-BRK Präambel Abs. c).

Der Artikel 24 bezieht sich dabei speziell auf die Gewährleistung eines inklusiven Bildungssystems, in dem „Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen“ (UN-BRK Art. 24 Abs. 1b) können. Menschen mit Behinderungen dürfen daher nicht vom allgemeinbildenden Schulsystem ausgeschlossen werden, sondern müssen Zugang zum inklusiven Schulsystem, sowohl in den Grundschulen als auch an weiterführenden Schulen, haben (vgl. UN-BRK Art. 24 Abs.2). Ihnen soll eine genauso erfolgreiche Bildung ermöglicht werden wie Menschen ohne Behinderungen. Dazu sollen Unterstützungsmaßnahmen und ein Umfeld angeboten werden, das es ihnen möglich macht, sich optimal sozial und schulisch zu entwickeln (vgl. UN-BRK Art. 24 Abs. 2). Im schulischen Bereich sind sowohl Kinder mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, die keinen sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen als auch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf eingeschlossen.

Im Schuljahr 2009/2010 wurden in Deutschland 80% aller Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Förderschulen und nicht an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales8 2011, S. 48). Um die Behindertenrechtskonvention auch in den Schulen in Deutschland umzusetzen und die Inklusion systematisch voranzutreiben, wurde der Nationale Aktionsplan am 15. Juni 2011 von der Bundesregierung verabschiedet (vgl. BMAS 2011, S. 109). Dieser Nationale Aktionsplan ist im Dialog mit Bürgern - im Besonderen mit Menschen mit Behinderungen - entstanden und auf zehn Jahre angelegt (vgl. BMAS 2011, S. 12). Das Handlungsfeld Bildung bezieht sich auf den Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention und umfasst die Bereiche Schule, Hochschule und Bildungsforschung.

Der Plan beinhaltet sowohl bildungs- und behindertenpolitische als auch rechtliche Maßnahmen und Ziele, die zur Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft verfolgt und umgesetzt werden müssen (vgl. BMAS 2011). Welche Maßnahmen konkret vorgenommen werden, wird allerdings nicht näher ausgeführt.

Ziel einer inklusiven Bildung und Gesellschaft ist laut BMAS unter anderem der Ausbau von Angeboten für gemeinsames schulisches Lernen und die Möglichkeit aller zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am lebenslangen Lernen (vgl. BMAS 2011, S. 48).

Nach dem Beschluss der Vereinten Nationen und der Verabschiedung des Nationalen Aktionsplanes durch das Bundeskabinett erfolgte ein Beschluss der Kultusministerkonferenz am 20.10.2011 über die Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen, der sich an den Vorgaben der Kinderrechtskonvention und der Behindertenrechtskonvention orientiert (vgl. Kultusministerkonferenz 2011) und die Quote inklusiv beschulter Schüler erhöhen soll. Dieser Beschluss stellt laut Herbert Goetze, Herausgeber der Zeitschrift Heilpädagogische Forschung, „einen gewissen Schritt nach vorn dar“ (Goetze 2012, S. 32), da sich die Kultusministerkonferenz in dieser Form bisher noch nicht zum Thema der inklusiven Bildung geäußert hat. Dennoch kritisiert er einige Schwachstellen, die sich in diesem Beschluss wiederfinden wie dessen unverbindlichen Charakter, da es sich bei den genannten Maßnahmen und Zielen nur um Empfehlungen handelt (vgl. Kultusministerkonferenz 2011, S. 3ff; vgl. Goetze 2012). Diese Schwachstellen entstehen vor allem durch die bildungspolitische Kleinstaaterei: Da in Deutschland Bildung Ländersache ist, hat der Bund keine Kompetenz, in die Schulpolitik der einzelnen Bundesländer einzugreifen (vgl. Goetze 2012, S. 32). Der Beschluss der Kultusministerkonferenz weist also „Kompromisscharakter“ auf, der mit vielen „Inkonsistenzen und Konturlosigkeiten“ (Goetze 2012, S. 32) einhergeht. Auch eine klare Stellungnahme, wie das Schulwesen umstrukturiert werden muss, wenn Inklusion gelingen soll, findet sich nicht in dem Beschluss der Kultusministerkonferenz (vgl. Goetze 2012, S. 32f.).

Inklusion wird von der Kultusministerkonferenz als ein „umfassendes Konzept des menschlichen Zusammenlebens“ (Kultusministerkonferenz 2011, S. 3) verstanden, das einen gleichberechtigten Zugang zu gemeinsamer Bildung in verschiedenen Bildungsgängen, zu gemeinsamer Erziehung und zum gemeinsamen Lernen ohne Barrieren bedeutet und „der Vielfalt von unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen Rechnung“ (Kultusministerkonferenz 2011, S. 9) trägt. Barrierefreiheit bezeichnet dabei sowohl die Zugänglichkeit verschiedener Lernorte als auch die Anpassung von Lehr- und Lernmedien an die jeweiligen Bedürfnisse der Lerner (vgl. Kultusministerkonferenz 2011, S. 8). Die Anpassung von Medien kann dabei sowohl über optische, akustische und sensorische Prinzipien erfolgen als auch über technische Hilfsmittel oder die Anpassung sprachlicher Inhalte (vgl. Kultusministerkonferenz 2011, S. 10). Grundlage der Bildung ist die Verknüpfung der in den allgemeinen Bildungsstandards und Lehrplänen der jeweiligen Länder aufgeführten Ziele und Kompetenzen mit individuellen Bildungs- und Entwicklungszielen (vgl. Kultusministerkonferenz 2011, S. 8).

Am 23. März 2012 verabschiedete der Niedersächsische Landtag das Gesetz zur Einf ü hrung der inklusiven Schule, das in Artikel 1 die Veränderungen des Nieders ä chsischen Schulgesetzes bekanntgibt. Dieses Gesetz soll sicherstellen, dass sowohl Menschen mit als auch ohne Behinderung Zugang zu allen Lernorten haben und dass die Unterstützung und Förderung jedes Kindes durch „die Zusammenarbeit aller an der Förderung eines Kindes bzw. Jugendlichen beteiligten Personen und Institutionen gewährleistet ist“ (NMK 2012, S. 1). Das Niedersächsische Kultusministerium definiert Inklusion als „umfassende und uneingeschränkte Teilhabe jedes Einzelnen am gesellschaftlichen Leben“ (NMK 2012, S. 3), wobei hervorzuheben ist, dass von Menschen mit Behinderungen keine Anpassungsleistung abverlangt werden kann. Vielmehr sind sie, auch ohne sichtbares Bemühen um Integration, in die Gemeinschaft einzugliedern (vgl. NMK 2012, S. 3). Schüler, die auf sonderpädagogische Unterstützung angewiesen sind, sollen die Unterstützung individuell geeigneter Maßnahmen und - je nach Grad der jeweiligen Behinderung - zielgleichen oder zieldifferenten Unterricht erfahren (vgl. NMK 2012, S. 3f).

Im Nieders ä chsischen Schulgesetz (NSchG) wird zudem der § 4 Inklusive Schule aufgeführt, der Schülern mit und ohne Behinderung den „barrierefreien und gleichberechtigten Zugang“ (NSchG 2012, §4) zu den öffentlichen Schulen ermöglicht.

Ab dem 01. August 2013 sollen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allen Schwerpunkten auch an weiterführenden Schulen im Sekundarbereich I unterrichtet und durch individuell angepasste Maßnahmen unterstützt werden. Öffentliche Schulen sind damit inklusive Schulen (vgl. NSchG 2012, §4). Förderschulen bleiben dennoch erhalten und stellen sonderpädagogische Förderzentren dar, die „die gemeinsame Erziehung und den gemeinsamen Unterricht an allen Schulen mit dem Ziel, den Schülerinnen und Schülern, die auf sonderpädagogische Unterstützung angewiesen sind, eine bestmögliche schulische und soziale Entwicklung zu gewährleisten“ (NSchG 2012, §14).

2.3 Heterogenität

2.3.1 Zum Begriff Heterogenität

Der Begriff Heterogenität ist in der Schulpädagogik nicht unbekannt; dennoch ist er mit Einführung der Inklusion und damit entstandener Öffnung des deutschen Schulsystems wieder in den Fokus gerückt. Zudem steigt die Zahl der Zuwanderungen in Deutschland kontinuierlich (vgl. Statistisches Bundesamt 2015b), sodass nun auch andere Herausforderungen wie beispielsweise unterschiedliche Muttersprachen und Sprachkenntnisse der Schüler sowie kulturelle oder religiöse Unterschiede Einzug in den Klassenraum halten. Homogenität war bereits vor diesen Veränderungen in den Schulen vielmehr eine Fiktion als die Realität; nun aber sind vermeintlich homogene Lerngruppen endgültig aus den deutschen Klassenräumen verschwunden. Im Vergleich zur früheren pädagogischen Sicht, bei der interindividuelle Unterschiede und die Vielfalt der Schülerschaft als Hindernis oder als Schwierigkeit aufgefasst wurde, soll Heterogenität nunmehr als ein positiver Wert aufgefasst werden, der als Chance und nicht mehr als Problem für die pädagogische Arbeit begriffen wird (vgl. Trautmann/Wischer 2011, S. 17).

Der Begriff Heterogenität stammt ursprünglich von den griechischen Wörtern heteros und genos ab, welche mit anders und abweichend bzw. Geschlecht, Art oder Gattung zu übersetzen sind (Duden 2015, S. 431). Die allgemeine Bedeutung des Begriffes kann laut Duden mit Ungleichartigkeit, Verschiedenartigkeit, Uneinheitlichkeit übersetzt werden (Duden 2015, S. 431). Im Zuge der schulpädagogischen Diskussion wird der Begriff häufig als Synonym zu Verschiedenheit, Vielfalt oder Differenz gebraucht (vgl. Trautmann/Wischer 2011, S. 38), das dazu genutzt wird, die Zusammensetzung von Lerngruppen zu beschreiben.

Heterogenität hat einen situationsbezogenen, zeitlich begrenzten und relativen Charakter, d. h. dieser Begriff kennzeichnet keine beständige und objektive Beschreibung einer Person oder einer Gruppe, sondern entsteht erst durch den Vergleich der für diese Person oder Gruppe in einer bestimmten Situation relevanten Aspekte (vgl. Wenning 2007, S. 147; Grittner et al. 2010, S. 315f.). Die verschiedenen möglichen Aspekte werden in der vorliegenden Arbeit Heterogenitätsdimensionen oder Heterogenitätsmerkmale genannt.

Grittner et al. (2010, S. 316) heben darüber hinaus die Wertneutralität des Begriffes hervor. Die Feststellung von Heterogenität kann nicht von vornherein als gut oder schlecht bezeichnet werden, da sie „immer in bestimmten Zusammenhängen und vor dem Hintergrund bestimmter Interessen“ (Grittner et al. 2010, S. 316) erfolgt.

Weder die Kerncurricula für das Gymnasium aus den Jahren 2006 und 2015 noch das Kerncurriculum für die Gesamtschule aus dem Jahr 2006 greifen den Begriff der Heterogenität explizit auf. Genannt werden im Kerncurriculum 2015 aber die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, die individuellen Begabungen, das unterschiedliche Lernverhalten der Schüler, „motivationale Orientierungen, Geschlecht, Alter, sozialer, ökonomischer und kultureller Hintergrund, Leistungsfähigkeit und Sprachkompetenz“ (NMK 2015, S. 14), die als Heterogenitätsmerkmale verstanden werden können. Diese scheinen besonders wichtige Aspekte für die innere Differenzierung im Deutschunterricht darzustellen. Zudem wird auch die „Vielfalt sexueller Identitäten“ (NMK 2015, S. 5) hervorgehoben.

Im Vergleich zum Kerncurriculum 2015 werden im Kerncurriculum für das Gymnasium aus dem Jahr 2006 noch keine Heterogenitätsdimensionen beschrieben. Auch die Vielfalt sexueller Identitäten wird nicht formuliert. Das Kerncurriculum für die Gesamtschule (2006) führt ebenfalls keine beispielhaften Heterogenitätsdimensionen auf. Dies kann mit dem Anspruch an eine Integrierte Gesamtschule zusammenhängen, der im Kerncurriculum als Verwirklichung der inneren und äußeren Leistungsdifferenzierung beschrieben wird (vgl. NMK 2006a). Es wird hier generell von einer heterogenen Schülerschaft ausgegangen.

Das Problem, das bei der Nutzung des Begriffes Heterogenität im schulischen Kontext auftritt, ist die unendliche Menge an Merkmalen, nach der eine Lerngruppe beschrieben und daher als mehr oder weniger heterogen bezeichnet werden kann (vgl. Trautmann/Wischer 2011, S. 37). Nicht alle diese Heterogenitätsmerkmale sind jedoch für die Unterrichtsplanung im Allgemeinen und für die Planung des Deutschunterrichts im Speziellen von Bedeutung. Daher werden im folgenden Kapitel zunächst die Dimensionen von Heterogenität aufgeführt, die für allgemeine Unterrichtsplanung von Bedeutung sein können. Anschließend werden die Heterogenitätsdimensionen, die für die Planung des Deutschunterrichts im Arbeitsbereich Lesen - mit Texten und Medien umgehen von Bedeutung sind, ausführlicher beschrieben.

2.3.2 Heterogenitätsdimensionen

Bei der Eingrenzung der für den Deutschunterricht wichtigen Merkmalen von Heterogenität herrscht unter den aktuellen Veröffentlichungen keine Einigkeit: Einige Merkmale überschneiden sich in verschiedenen Publikationen, andere sind keineswegs miteinander identisch. Mögliche Heterogenitätsdimensionen, die man bei der Unterrichtsplanung für eine Lerngruppe berücksichtigen kann, sind beispielsweise die Motivation bzw. die Einstellung der Schüler bestimmten Unterrichtsinhalten gegenüber, verschiedene Arbeitstechniken, die die Schüler in unterschiedlichem Grad beherrschen, die Arbeitshaltungen der Schüler wie Durchhaltevermögen oder Schnelligkeit, aber auch die Lernvoraussetzungen und -kenntnisse, die Schüler in einem Thema mitbringen sowie die verschiedenen Lerntypen auditiv, optisch-visuell, haptisch und verbal-abstrakt (vgl. u. a. Altrichter/Hauser 2007, S. 6; Vester 1998, S. 121). Matthias von Saldern (2013) benennt elf Merkmale, die seines Erachtens im schulischen Kontext besonders berücksichtigt werden müssen. Dies sind Hochbegabung, ADHS/ADS, Sehen, Sprache, Hören, Lernschwierigkeiten, geistige, körperliche sowie emotionale und soziale Entwicklung, Armut und Mehrsprachigkeit. Zudem muss, auch wenn es sich bei einer Lerngruppe um etwa gleichaltrige Schüler handelt, immer der unterschiedliche Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt werden (vgl. Risse 2007, S. 118).

Für den inklusiven Deutschunterricht im Arbeitsbereich Lesen - mit Texten und Medien umgehen werden in der deutschdidaktischen Fachliteratur (vgl. u. a. Bonfadelli et al. 1993; Harmgarth 1997; Artelt et al. 2004b; Pieper 2010; Trautmann/Wischer 2011) vor allem die Heterogenitätsdimensionen Leistung, Geschlecht, soziale Schicht und der Migrationshintergrund hervorgehoben. Durch die Einführung des inklusiven Unterrichts können zudem die diagnostizierten Förderschwerpunkte der Schüler in den Klassen als weiteres, für die Unterrichtsplanung bedeutendes Heterogenitätsmerkmal betrachtet werden. Diese fünf Aspekte werden im Folgenden näher dargestellt.

2.3.2.1 Leistung

Die nachstehenden Ausführungen zur Leistung beziehen sich auf den Begriff der Lesekompetenz bei PISA. Bei der detaillierten Darstellung der Leistung wird auf die Ergebnisse von PISA 2009 zurückgegriffen, da hier der Fokus der Textkonzeption - nach 2000 - erneut auf der Messung der Lesekompetenz der Schüler lag.

Lesekompetenz wird bei PISA als „Basiskompetenz verstanden, [die] für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig ist“ (Artelt et al. 2010a, S. 24). Es steht nicht die Fähigkeit im Vordergrund, Texte zu decodieren, sondern „geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potential weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (Baumert et al. o. J., S. 2). Da bei PISA nicht die schulspezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern „Life Skills“ (Artelt et al. 2010a, S. 24) im Fokus stehen, wird authentisches Lese- und Testmaterial eingesetzt, das die Inhalte abdeckt, die für die Jugendlichen kurz vor Übertritt in das Berufsleben relevant sind (vgl. Artelt et al. 2010a, S. 24).

Die unterschiedlich gute Ausbildung der Lesekompetenz der Schüler ist eine der wichtigsten Dimensionen von Heterogenität in den Klassenräumen. Bereits zum Ende der vierten Jahrgangsstufe bestehen bedeutsame Leistungsunterschiede zwischen den Schülern hinsichtlich ihrer Lesekompetenz (vgl. u. a. Dotzler et al. 1997; S. 117; Ditton 2010, S. 88), die auch in der Sekundarstufe I fortbestehen.

Im Jahr 2009 befanden sich 5,2% der Jugendlichen in Deutschland unter der Kompetenzstufe Ia (vgl. Artelt et al. 2010a, S. 45). Diese Schüler sind nicht in der Lage, die Anforderungen, die mit der Kompetenzstufe Ia einhergehen, zu erfüllen wie beispielsweise „eine oder mehrere unabhängige, explizit ausgedrückte Informationen zu lokalisieren“, den Hauptgedanken des Textes oder die Intention des Autors zu erkennen oder „einen einfachen Zusammenhang zwischen den im Text enthaltenen Informationen und allgemeinem Alltagswissen herzustellen“ (Artelt et al. 2010a, S. 28). 13,3% der Schüler erreichen die Kompetenzstufe Ia und erfüllen die oben beschriebenen Anforderungen. Dennoch ist festzustellen, dass etwa ein Fünftel der 15-Jährigen in Deutschland nur auf einem elementaren Niveau lesen kann.

Der Anteil der Schüler, die sich auf Kompetenzstufe Ia und darunter befinden, beträgt an Integrierten Gesamtschulen 17,8% und an Gymnasien 0,5% (vgl. Artelt et al. 2010a, S. 50). Die Anforderungen, die in den Lehrplänen formuliert sind, entsprechen etwa der Kompetenzstufe II (vgl. Artelt et al. 2001, S. 103). Diese Schüler können die Mindeststandards der Kerncurricula und anderer Lehrpläne demzufolge nicht bewältigen und gelten als potentielle Risikoschüler.

Demgegenüber stehen die besonders leistungsstarken Schüler, die die Kompetenzstufe V und VI erreichen (7,6%). Diese Schüler sind in der Lage, mehrere tief eingebettete Informationen zu lokalisieren und zu ordnen, einen in Format und Thema unbekannten Text vollständig und detailliert zu verstehen und Hypothesen unter Zuhilfenahme von speziellem Wissen kritisch zu bewerten oder zu bilden (vgl. Artelt et al. 2010a, S. 28). An Gymnasien gehören etwa 20% der Schüler zu den „Expertenlesern“ (Artelt et al. 2010a, S. 58). An den Integrierten Gesamtschulen sind dies 1,4%, wobei diese sich ausschließlich auf die Kompetenzstufe V verteilen, während die Kompetenzstufe VI gar nicht vertreten ist (vgl. Artelt et al. 2010a, S. 57). Die übrigen Schüler verteilen sich auf die Kompetenzstufe II (IGS 31,2%/Gymnasium 6,2%), die Kompetenzstufe III (IGS 34,3%/Gymnasium 28,5%) und die Stufe IV (IGS 15,3%/Gymnasium 45%). Die Schüler eines Gymnasiums befinden sich demzufolge vornehmlich auf den Kompetenzstufen III, IV und V, wohingegen der Großteil der Schüler an einer Integrierten Gesamtschule auf die Kompetenzbereiche Ia, II, III und IV einzustufen ist. Bei beiden Schulformen lässt sich folglich eine große Heterogenität hinsichtlich der Lesekompetenz ableiten.

Ferner lassen sich zwischen den Bildungsgängen große Überlappungen feststellen. Bei den Werten der Gymnasiasten wird deutlich, dass etwa ein Viertel der Schüler eines Gymnasiums im Bereich der Lesekompetenz schlechtere Ergebnisse erzielt als ein Viertel der Schüler einer Realschule (vgl. Artelt et al. 2010a, S. 56). Diese Überlappungen finden sich auch bei Gymnasiasten und Hauptschülern wieder: Etwa 10% der schwächsten Leser eines Gymnasiums befinden sich auf dem Niveau, das die 10% stärksten Leser an einer Hauptschule erreichen. Man kann also auch an Gymnasien von heterogenen Lerngruppen hinsichtlich der Lesekompetenz sprechen, wobei die Heterogenität nicht so ausgeprägt ist wie an Integrierten Gesamtschulen.

2.3.2.2 Geschlecht

Eine weitere Heterogenitätsdimension, die bei der Planung des Deutschunterrichts berücksichtigt werden muss, ist das Geschlecht9 der Schüler.

Laut Garbe (2002, S. 215) gibt es drei Dimensionen, in denen sich Jungen und Mädchen im Leseverhalten besonders voneinander unterscheiden: in der Lesehäufigkeit, in der Leseweise und in ihrer Lesefreude oder -neigung. Mädchen und Jungen unterscheiden sich in „ihren Lesepräferenzen, Lesestilen, Leseerfahrungen, Lesehemmungen überhaupt in allen Dimensionen ihrer Lesetätigkeit“ (Hurrelmann 1994, S. 25), sodass dies im Deutschunterricht als Heterogenitätsmerkmal wahrgenommen werden kann.

Die nachfolgend aufgeführten Ergebnisse beziehen sich - im Vergleich zu den Darstellungen der Dimension Leistung - auf die Resultate bei PISA 2000. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass in der Auswertung der PISA-Studie 2009 keine so detaillierte Analyse des Leseverhaltens der Jungen und Mädchen vorzufinden ist, wie es 2000 der Fall war. Die Ergebnisse seit PISA 2000 können jedoch als tendenziell gleichbleibend beschrieben werden (vgl. Artelt 2010a, S. 87ff.; Garbe 2014), sodass zur Verdeutlichung des geschlechterspezifischen Leseverhaltens die Zahlen des ersten Erhebungszyklus aus dem Jahr 2000 verwendet werden, bei dem der Schwerpunkt ebenfalls auf der Lesekompetenzmessung lag.

Vor allem die Lesehäufigkeit zwischen Jungen und Mädchen unterscheidet sich erheblich.

In Deutschland lesen 54,5% der Jungen nicht zum Vergnügen. 23,7% der Jungen lesen bis zu 30 Minuten täglich; 12,7% lesen zwischen einer halben und einer Stunde pro Tag. Auffällig ist der nur geringe Anteil der Jungen, die ein bis zwei Stunden täglich (5,8%) oder mehr als zwei Stunden (3,3%) lesen. Bei den Mädchen unterscheiden sich diese Werte. Hier ist der Anteil derjenigen, die nicht zum Vergnügen lesen, mit 29,1% weitaus geringer als bei den Jungen. Der größte Anteil der Mädchen liest bis zu 30 Minuten täglich (30,4%). 23% der Mädchen lesen zwischen 30 und 60 Minuten pro Tag. Der Anteil der Mädchen, die täglich ein bis zwei Stunden zum Vergnügen lesen, ist mit 11,6% doppelt so hoch wie bei den Jungen. Ein höherer Anteil ist auch bei den Mädchen zu finden, die täglich mehr als zwei Stunden lesen: Hier sind es noch immer 5,9% der Befragten. Diese Resultate verdeutlichen, dass Mädchen viel mehr Zeit für das private Lesen aufwenden als Jungen.

Weiterhin kann man feststellen, dass Lesen nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen der Jungen gehört: Nur 17,1% würden der Aussage zustimmen, dass Lesen eines ihrer liebsten Hobbies sei. Bei den Mädchen liegt dieser Anteil mit 41% weitaus höher. Somit scheinen Jungen und Mädchen dem Lesen mit unterschiedlicher Freude zu begegnen. Da vor allem in Deutschland ein positiver Zusammenhang zwischen Leseinteresse der Schüler und deren Leseleistung nachgewiesen werden konnte (vgl. Artelt et al. 2002, S. 10; Artelt et al. 2010b, S. 104), scheint diese Freude ausschlaggebend für die Leseleistung zu sein, sodass „bei vergleichbarer Freude am Lesen […] keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu erwarten“ (Kunter/Stanat 2001, S. 265) sind. Wichtig scheint bei der Planung des Unterrichts die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lesegewohnheiten der Schüler und Schülerinnen zu sein, die auch mit motivationalen Unterschieden einhergehen.

2.3.2.3 Soziale Schicht

Die soziale Schicht ist ein Heterogenitätsmerkmal, das für sich alleinstehend kaum eine Bedeutung im Deutschunterricht hat. Ob ein Schüler einer unteren oder einer oberen Schicht angehört, ist für die Unterrichtsplanung erst einmal unbedeutend. Wichtig wird dieses Merkmal erst, wenn man den Zusammenhang von sozialer Schicht und Lese- bzw. literarischer Sozialisation10 auf der einen Seite sowie sozialer Schicht und Lesekompetenz bzw. allgemeinen Sprachfertigkeiten auf der anderen Seite betrachtet.

Die Einordnung in soziale Schichten und die soziale Ordnung kann mit Hilfe des Kapitalbegriffs von Pierre Bourdieu (1983) erläutert werden, bei dem die Akkumulation von Kapital als Ziel des sozialen Handelns eines Individuums verstanden werden kann. Bourdieu erläutert mit der Konzeption des Kapitalbegriffs und den verschiedenen Kapitalsorten den Umstand, dass die soziale Position eines Individuums und seine Opportunitäten und Restriktionen in der Gesellschaft nicht durch zufällige Gegebenheiten zu erklären sind (vgl. Bourdieu 1983, S. 183f.).

Um Kapital in all seinen Erscheinungsformen bestimmbar zu machen, definiert Bourdieu drei grundlegende Kapitalarten: Das ökonomische Kapital, das in Form von Geld oder anderweitigem materiellen Besitz auftritt, das soziale Kapital, das durch institutionalisierte soziale Beziehungen gekennzeichnet ist und das kulturelle Kapital. Letzteres kann nach Bourdieu (1983, S. 185) wiederum in drei Formen auftreten: als verinnerlichter, inkorporierter Zustand, als objektivierter Zustand in Form von kulturellen Gütern, Büchern, Instrumenten etc. und als institutionalisierter Zustand, einer Form von Objektivation, die beispielsweise in schulischen Titeln deutlich wird. Das inkorporierte kulturelle Kapital ist körpergebunden und scheint für die Ausbildung des Habitus und dessen familiale Weitergabe von besonderer Bedeutung zu sein (vgl. Bourdieu 1983, S. 188). Der Habitus bestimmt unter anderem unser Lernverhalten (vgl. Pieper 2010, S. 115).

In Bezug auf die Lese- und literarische Sozialisation hat vor allem das kulturelle Kapital eine große Bedeutung: „Wer in einer bildungsfreundlichen Familie (hoher Sozialstatus aufgrund der hohen Menge kulturellen Kapitals) aufwächst, besitzt weitaus bessere Chancen, quasi beiläufig kulturelles Kapital zu erwerben und LeserIn zu werden“ (Philipp 2008, S. 24). Inwieweit Sprache sowie Lern- und Bildungsmotivation vermittelt werden, hängt also davon ab, welcher Schicht die Familie angehört (vgl. Becker 2013, S. 169).

Durch die primäre literarische Sozialisation sind gut sozialisierte Kinder häufig motivierter, selbst lesen zu lernen. Diese vorschulischen Leseerfahrungen sind also für die weitere Lesekarriere von großer Bedeutung. Literarisch sozialisierte Kinder verfügen zudem schon früh über literaturbezogene Fähigkeiten, die sie sich unter anderem durch das Vorlesen der Eltern aneignen konnten (vgl. Pieper 2010, S. 108). Sie gehen häufig mit einer positiveren Erwartungshaltung in die Schule und begegnen Literatur mit der Einstellung, dass diese Genuss und Anregungen unterschiedlichster Form ermöglichen kann (vgl. Pieper 2010, S. 109). Darüber hinaus lesen Kinder und Jugendliche aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status weitaus mehr als Kinder und Jugendliche aus den niedrigeren Sozialschichten (vgl. Rosebrock 2008, S. 155). Die Lese- bzw. literarische Sozialisation hat also einen erheblichen Einfluss auf die Ausbildung von literarischem Vorwissen, das wiederum Auswirkungen auf die Lesekompetenz der Schüler hat.

Auch bei PISA 2009 wurde ein Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Lage der Familien und der Lesekompetenz der Jugendlichen festgestellt (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 246ff.). Zusätzlich zu der Berücksichtigung des kulturellen und des sozialen Kapitals der Familie kommt bei PISA die Einteilung in soziale Klassen nach Erikson, Goldthorpe und Portocarero (1979) hinzu, die sowohl die Klassifikation von Berufen des Internationalen Arbeitsamtes berücksichtigt als auch die Stellung im Beruf und das Ausmaß der Weisungsbefugnis (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 233).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Ü bersicht zu den Sozialklassen nach Eikson, Goldthorpe und Portocarero (vgl. Cramer 2012, S. 161)

Die Ergebnisse von PISA 2009, die die familiären Lebensverhältnisse, die Bildungsbeteiligung und den Kompetenzerwerb vertiefend analysieren, verdeutlichen, dass Schüler aus Familien der oberen sowie der unteren Dienstklasse mit etwa 55% bzw. 43% häufig das Gymnasium besuchen (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 248). Mit niedriger werdender Sozialschicht sinkt auch die Beteiligung dieser Schüler an den Gymnasien. Kinder aus Familien, in denen die Bezugsperson der Sozialschicht der Routinedienstleistungen und der Selbstständigen zuzuordnen ist, besuchen mit ca. 30% weitaus seltener das Gymnasium als Kinder aus den ersten beiden Schichten (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 248). In den beiden untersten Schichten sinkt der Anteil der 15Jährigen noch einmal deutlich. Bei den Facharbeitern sind es noch ca. 20% der Schüler, die das Gymnasium besuchen, bei den un- und angelernten Arbeitern lediglich 15% (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 248).

Im Gegensatz hierzu steht die nachfolgende Verteilung der 15-Jährigen an den Integrierten Gesamtschulen: Aus der oberen Dienstklasse besuchen nur 7% der Kinder und Jugendlichen eine Integrierte Gesamtschule (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 248). Bei den übrigen Sozialschichten zeigt sich, bezogen auf den Besuch einer Integrierten Gesamtschule, eine annähernde Gleichverteilung: In der unteren Dienstklasse sind es 11% der Jugendlichen, die eine Integrierte Gesamtschule besuchen, in der Klasse der Routinedienstleistungen sowie der Selbstständigen 8% und in der Klasse der Facharbeiter sowie der un- und angelernten Arbeiter findet sich eine Beteiligung von 9% (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 248). Auf Grundlage der vorher dargestellten Zusammenhänge zwischen Lesesozialisation, Lesekompetenz und sozialer Schichtzugehörigkeit kann davon ausgegangen werden, dass sich vor allem an Integrierten Gesamtschulen, aber auch an Gymnasien eine große Heterogenität bezüglich dieser genannten Aspekte feststellen lässt.

2.3.2.4 Migrationshintergrund

Ein weiteres Heterogenitätsmerkmal, das man in Lerngruppen vorfinden kann, ist der Migrationshintergrund der Schüler.

Deutschland gilt als Einwanderungsland (vgl. Lanphen 2011, S. 13). Im Jahr 2014 hatten laut Mikrozensus in Deutschland 20,3% der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund11 (vgl. Statistisches Bundesamt 2015b). Bei den 5- bis 10-Jährigen betrug der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund 35,3%, bei den 10- bis 15Jährigen 31,4% und bei den 15- bis 20-Jährigen noch 27,7% (vgl. Statistisches Bundesamt 2015a). Diese drei Gruppen schließen altersmäßig die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen mit ein. Bei den 15-Jährigen Jugendlichen, die an der PISA-Studie 2009 teilnahmen, hatten 25,6% der Teilnehmer einen Migrationshintergrund12 (vgl. Rauch et al. 2010, S. 214). Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass auch in den Schulformen der Integrierten Gesamtschule und des Gymnasiums Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund beschult werden.

Der Migrationshintergrund kann Einfluss auf die Lesekompetenz und auf die Sprachfertigkeiten der Schüler haben und daher zu vermehrter Leistungsheterogenität in den Lerngruppen führen. Die Lesekompetenz der Jugendlichen in Deutschland, die einen Migrationshintergrund aufweisen, ist signifikant niedriger als der 15-Jährigen ohne Migrationshintergrund (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 211). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Jugendlichen der ersten oder zweiten Generation angehören: Ihre Lesekompetenznachteile sind im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund sehr groß (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 211f.).

2.3.2.5 Behinderungen/Förderschwerpunkte

Zusätzlich zu den oben genannten Heterogenitätsdimensionen gibt es seit der Inklusion auch Schüler in den Lerngruppen, die verschiedene diagnostizierte Förderschwerpunkte oder andere Beeinträchtigungen aufweisen. In Deutschland wurde im Schuljahr 2012/2013 bei 493.000 Schülern ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 163). Dies entspricht einem Anteil von 6,6% an der Gesamtschülerzahl (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 163).

Förderschwerpunkte sind laut dem Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ) Lernen und Lernschwierigkeiten, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung, Autismus-Spektrum-Störungen, Sehen, Hören und Sprache. Autismus-SpektrumStörungen sind in der ursprünglichen Handreichung Empfehlungen zur sonderp ä dagogischen F ö rderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland der Kultusministerkonferenz nicht enthalten (vgl. KMK 1994, S. 6f.).

Schüler mit Förderbedarf im Bereich des Lernens und mit Lernschwierigkeiten werden im inklusiven Unterricht zieldifferent unterrichtet; ihre Beschulung erfolgt angelehnt an das Kerncurriculum der Hauptschule (vgl. Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung13 2016). Auch Kinder und Jugendliche mit dem Förderbedarf der geistigen Entwicklung werden zieldifferent nach ihrem eigenen Kerncurriculum unterrichtet (vgl. NLQ 2016). Unterstützung erhalten die Lehrkräfte hier durch Förderschullehrer oder, je nach Schweregrad der Behinderung, durch pädagogische Mitarbeiter.

Kinder mit dem Förderschwerpunkt der körperlichen und motorischen Entwicklung bilden eine ausgesprochen heterogene Gruppe, da es die unterschiedlichsten Beeinträchtigungen gibt, die sich auf verschiedene wesentliche Bereiche eines Schülers auswirken können. Zu den körperlichen Beeinträchtigungen zählen erhebliche Funktionsstörungen des Stütz- und Bewegungssystems, Schädigungen von Gehirn, Rückenmark, Muskulatur und Knochengerüst, Fehlfunktion von Organen, erhebliche Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung oder schwerwiegende psychische Belastungen infolge andersartigen Aussehens (vgl. NLQ 2016).

Schüler, die Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung aufweisen, sind des Öfteren mit familiären oder sozialen Problemen überfordert und haben daher Schwierigkeiten, ihre Umwelt angemessen wahrzunehmen (vgl. NLQ 2016). Häufig zeigen diese Schüler ein auffälliges und unangemessenes Verhalten im Sinne von Aggressionen oder Clownereien im Unterricht gegenüber der Lehrkraft oder den Mitschülern (vgl. NLQ 2016).

Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung weisen oftmals eine Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Kommunikation und Interaktion auf und zeigen ein eher einseitiges Repertoire an Interessen und Fähigkeiten (vgl. NLQ 2016). Die intellektuelle Begabung dieser Schüler kann dabei von geistiger Behinderung bis zur Hochbegabung reichen (vgl. NLQ 2016).

Schüler, bei denen der Förderschwerpunkt Sehen diagnostiziert wurde, leiden unter einer Sehschädigung oder Sehbehinderung. Bei ihnen beträgt die Sehschärfe zwischen 30% und unter 2% der Norm (vgl. NLQ 2016).

Kinder und Jugendliche, die unter einer Hörschädigung leiden, fallen unter den Förderschwerpunkt Hören. Hier gibt es die Unterscheidung zwischen geringgradig schwerhörig, mittelgradig schwerhörig, hochgradige an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit und die Taubheit (vgl. NLQ 2016). Eine Hörschädigung führt häufig auch zu einer Beeinträchtigung der sprachlichen Kompetenz und zur Einschränkung der Kommunikation in einer hörenden Gesellschaft (vgl. NLQ 2016).

Schüler mit dem Förderbedarf Sprechen zeigen häufig Auffälligkeiten in der Aussprache, im Wortschatz oder in der Grammatik (vgl. NLQ 2016). Diese Schüler wurden vorwiegend in Sprachförderklassen beschult.

[...]


1 Im Folgenden wird die Bezeichnung UN-BRK verwendet.

2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet, das sowohl männliche als auch weibliche Personen einschließt.

3 Im Folgenden wird die Bezeichnung NMK verwendet.

4 Im Folgenden wird die Bezeichnung KMK verwendet.

5 Im Bereich Lesen lagen die durchschnittlichen Leistungen der Jugendlichen in Deutschland unter dem Mittelwert der OECD-Mitgliedsstaaten. Vgl. Artelt et al. 2001.

6 Das Kerncurriculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5-10 aus dem Jahr 2015 ist verbindlich ab dem 01.08.2015 für die Jahrgänge 5-8 , ab dem 01.08.2016 für den Schuljahrgang 9 und ab dem 01.08.2017 für den Schuljahrgang 10.

7 Das in der englischen Originalversion genutzte inclusive bzw. inclusion wurde in der deutschen Übersetzung noch mit integrativ bzw. Integration gleichgesetzt, was im deutschen Sprachraum zu dem lange andauernden Missverständnis geführt hat, dass beide Begriffe synonym verwendet werden können. (Vgl. Heimlich 2012, S. 11).

8 Im Folgenden wird die Bezeichnung BMAS verwendet.

9 Eingeschlossen ist hier das biologische Geschlecht, nicht aber das Konstrukt von Gender, das die gesellschaftlich-soziale Ausprägung von Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle meint.

10 In Anlehnung an Rosebrock (2008) und Pieper (2010) werden die Begriffe literarische Sozialisation und Lesesozialisation auf Grund ihrer erheblichen Schnittmenge synonym verwendet.

11 „Mit Migrationshintergrund“ schließt in diesem Fall alle Personen ein, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der BRD immigriert sind sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland geborenen Kinder von zumindest einem immigrierten oder als nichtdeutscher Staatsbürger geborenen Elternteil (vgl. Statistisches Bundesamt 2015a).

12 Bei PISA 2009 wurde zwischen drei verschiedenen Migrationsstatus unterschieden: Jugendliche aus Familien, in denen ein Elternteil im Ausland geboren ist sowie Jugendliche der ersten und der zweiten Generation (vgl. Rauch et al. 2010, S. 204).

13 Im Folgenden wird die Bezeichnung NLQ verwendet.

Ende der Leseprobe aus 123 Seiten

Details

Titel
Deutschunterricht in der Sek. I im Zeichen der Inklusion. Eine Fallstudie zum Umgang mit heterogenen Lerngruppen im Arbeitsbereich Lesen
Untertitel
Mit Texten und Medien umgehen
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
123
Katalognummer
V435282
ISBN (eBook)
9783668780507
ISBN (Buch)
9783668780514
Sprache
Deutsch
Schlagworte
deutschunterricht, zeichen, inklusion, eine, fallstudie, umgang, lerngruppen, arbeitsbereich, lesen, texten, medien
Arbeit zitieren
Laura Marie Ehlert (Autor:in), 2016, Deutschunterricht in der Sek. I im Zeichen der Inklusion. Eine Fallstudie zum Umgang mit heterogenen Lerngruppen im Arbeitsbereich Lesen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/435282

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