Der Lazarillo de Tormes als Spiegel sozialer Missstände


Bachelorarbeit, 2018

45 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2. Das ,,Siglo de Oro“ und seine (sozialen) Schattenseiten

3. Armut und Hunger im Lazarillo de Tormes als sozialer Missstand

4. Sozialstrukturen im ,,Lazarillo de Tormes“

5. Die Begriffe ,,Asozialität“, ,,Missstand“ und ,,Spiegel“
5.1 Der asoziale Escudero
5.2 Der asoziale Kleriker
5.3 Der asoziale ,,Barmherzige Bruder“
5.4 Der asoziale Ablassverkäufer
5.5 Der asoziale Erzpriester von Sankt Salvador
5.6 Die Asozialität Lázaros, seiner Familie und weiterer Figuren

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1.Einleitung

Der Vater des Schelmenromans bezieht sich nicht nur auf die Satire der Sitten und Bräuche verschiedener sozialer Klassen oder Stände, z.B. der Plebs, als ungebildetes, niedrig und gemein denkendes Volk, der Bourgeoisie, als wohlhabendem Bürgertum, der Aristokratie, als vermeintlicher Herrschaft der Besten oder des Klerus, im Sinne einer bloßen pikaresken Romantradition, die spezifische literarische Parameter für diese Gattung bereits hinreichend definiert hat, beispielsweise den Pícaro als Antiheld, der, aus der Unterschicht stammend, in Form einer fiktiven Autobiographie, seine Lebensbeichte, als Ausgegrenzter, darlegt und sich, unter Rückgriff auf halbkriminelle Bildungsinhalte, im Sinne der Arte del furtar[1], an die Schlechtigkeit seiner Welt (reaktionär) anpasst.

Vielmehr erfordert der ,,Lazarillo de Tormes“ eine stärker sozial geprägte Lesart, die soziale und moralische Reflexionen und Wertungen des Protagonisten einschliesst, ab dem Moment, wo Lazaro in der ersten Person einem vermeintlichen Honoratior (Vuestra Merced) detailliert über seinen sozialen Werdegang, d.h seine Dienstverhätnisse bei diversen weltlichen und kirchlichen Herren und seine persönlichen Erfahrungen über die Schlechtigkeit der Welt, berichtet und nebenbei ausführlich Auskunft über eine gewisse moralische Verwerfung, den ,,caso“, geben soll.

Die vom Autor explizit oder implizit dargestellten und mittels der Stimme des nichtigen Pícaros transportierten und angeprangerten sozialen, moralischen und ideologischen Missstände Spaniens, die durch den vorliegenden Schelmenroman, als ein herausragendes Zeitzeugnis für das Siglo Oro, das Licht der Welt erblicken, machen vor nichts und niemandem halt und hinterfragen die Legitimation selbsternannter oder tradierter Eliten dieser Zeit.

Das im Spanien des 16.Jh. überall grassierende, asoziale, da die Gesellschaft nachhaltig schädigende, skrupel- und verantwortungslose, scheinheilige und selbstsüchtige Verhalten von Seiten weltlicher und kirchlicher Personen(gruppen) und Institutionen ist auch auf ein moralisches Vakuum zurückzuführen, welches von den Eliten dieser Zeit bewusst gelebt und zementiert worden ist, um den eigenen Status quo und tradierte Machtstrukturen zu erhalten und langfristig zu sichern, was dem spanischen Sittenverfall, auch als Erblast künftiger Generationen, Vorschub leistet.

Die vorliegende Bachelorarbeit soll aufzeigen, weshalb die oben genannte Lesart, die über eine bloße Satire als eine ironische, übertriebene oder spöttische literarische Kunstgattung weit hinausgeht, sinnvoll und berechtigt erscheint und analysiert hierzu einerseits den Begriff des ,,Asozialen“, als menschliches Versagen der Romanfiguren in Bezug auf ihr Verhalten, Handeln und Denken, andererseits das sozialverantwortliche Scheitern gesellschaftstragender und moralisch wegweisender Personen(gruppen) und Institutionen wie Kirche und Staat.

Die im Werk benannten sozialen Misstände wie z.B. Hunger, Armut, Ungerechtigkeit oder Ungleichverteilung im Spanien des 16. Jh. sind unbedingt vor dem Hintergrund eines allgegenwärtigen Sittenverfalls, einer Kultur des Wegsehens und einer rücksichtslosen (materiellen) Erhöhung der eigenen Person, stets zu Lasten Unschuldiger, zu sehen. Mit diesem Postulat eng verbunden wird auch die Frage sein, inwiefern anachronistisch anmutende, alte Adelsstrukturen und Privilegien, sowie sozial ordnende Konzepte, z.B. jenes der Honra, das Denken und Handeln der spanischen Aristokratie dieser Zeit geprägt haben und was für ein verheerender gesamtgesellschaftlicher Schaden aus diesem dünkelhaften Streben nach sozialem Glanz und Integrität der eigenen Person erwächst.

Die Idee der ,,sozialen Missstände“ wird in der vorliegenden Arbeit auch auf eine sozial- und gesellschaftskritische Ebene gehoben, die sich oftmals zwangsläufig aus althergebrachten Hierarchien, bzw. Standes- und Denkstrukturen ergeben. Das asoziale Verhältnis zwischen Diener und Herr, der gescheiterte Fürsorge- und Bildungsauftrag von Seiten Erziehungsberechtigter und Lehrer (Dienstherren), die Scheinheiligkeit des Klerus, die Pervertierung christlicher Werte und Normen, sowie der scheinbar überall herrschende Fatalismus der Mittellosen und Entmündigten der spanischen Unterschicht sollen in der vorliegenden Arbeit ebenso thematisiert und in einen übergeordneten (asozialen) Zusammenhang gestellt werden.

2. Das ,,Siglo de Oro“ und seine (sozialen) Schattenseiten

Das Spanien im 16. Jh., genannt das ,,Goldene Jahrhundert“, war bereits um 1500 herum eine Weltmacht, die unter der Herrschaft der Habsburger ihren Höhepunkt erreichte und als kulturelle Blütezeit zwischen 1550 und 1660 gilt. Seit dem historischen Schlüsseljahr 1492, der Reconquista von Granada, bzw. der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus, stieg Spanien auch zur führenden wirtschaftlichen und politischen Macht Europas und der Welt auf. Ab dem Tod Philipps des II., im Jahre 1598, umfasste dieses Imperium Südamerika, Teile Südostasiens, Indiens und Afrikas. Spanien akkumulierte durch seine siegreichen Conquistadoren, v.a. durch Francisco Pizarro González, der im Jahre 1533, mit weniger als 200 Mann, die Inkahauptstadt Cuzco einnahm und ausplünderte, enormen Reichtum.

Über 16.000 kg Gold und 180.000 kg Silber gelangten in die königliche Schatzkammer.

Doch Spaniens Macht in Europa begann bereits zu bröckeln. Neben diversen politischen

und militärischen Konflikten, wie z.B. der Aufstand in den Niederlanden 1566 oder der Untergang der Armada vor England 1588, plagten häufige Missernten und Hungersnöte das Land.

Teure Kriege und Besatzungen höhlten die Wirtschaftskraft aus, zudem wurde Spanien im Handels- und Finanzsektor zunehmend von Italien und Holland konkurrenziert. Fehlende Investitionen und steigende Schulden im Aussland schränkten Spaniens Handlungsspielraum noch weiter ein.

Die Nahrungsmittelknappheit wuchs und der Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft konnte kaum noch kompensiert werden.[2] Durch die massive Expansionspolitik Spaniens vergrösserte sich zudem das amerikanische Kolonialreich, für dessen Verwaltung und Aufrechterhaltung seiner Infrastruktur immer mehr Einwohner von der iberischen Halbinsel in die Pflicht genommen werden mussten.

Der damit einhergehende Bevölkerungsschwund brachte die spanische Agrarwirtschaft immer mehr in akute Not. Zunehmend in globale Handels- , Waren- und Finanzströme involviert, drohte Spanien unter der enormen Last der frühen Globalisierung zu zerbrechen, ein Befund, der z.B. auch von Prof. Dr. Henrik Karge, Kunsthistoriker an der Technischen Universität Dresden, mit folgenden Worten attestiert worden ist:

,, [...] die frühe Globalisierung führte zu einer Überspannung der Kräfte.“[3]

Auch führten fünf Jahre andauernde Pestepidemien aus den Jahren 1597 und 1647 zu einem weiteren dramatischen Bevölkerungsrückgang, was die prekäre Situation noch verschlimmerte.

Durch die religiös und politisch motivierte Zwangsausweisung der Morisken, d.h. zwangskonvertierte Muslime oder Mauren, unter Philipp dem III., im Jahre 1609, wurden zudem ganze Landstriche entvölkert und lagen wirtschaftlich brach. (Landflucht und Landverödung).

Dieses Ereignis muss auch vor dem Hintergrund des Konzils von Trient im Jahre 1563 gesehen werden, das den wachsenden Protestantismus anprangerte und in der Folge diversen zeitgenössischen Künstlern regelrecht den Auftrag erteilte, vor allem Heilge oder die Jungfrau Maria darzustellen. So machte z.B. Velázquez, als Hofmaler unter Philipp dem IV., Auftragsarbeiten für Kirchen und Klöster, Rubens schuf vollständige Apostelserien für den Herzog von Lerma und Domenikos Theotókopoulos, genannt ,,El Greco“, schuf zwischen 1541 und 1614 ein Bild der ,,Unbefleckten Empfängnis Mariens“ (spanisch: Inmaculada).[4]

Der Vater des Schelmenromans bettet sich also, als aussagekräftiges Zeitdokument, in prekäre soziale, wirtschaftliche, politische, aber auch religiös-ideologische Kontexte der Gegenreformation ein, die ja zum Ziel hatte, den Status quo der katholischen Eliten und die sich daraus ergebende moralisch-sittliche Deutungshoheit für das katholische Volk Spaniens im 16. Jh zu erhalten und auch langfristig zu zementieren, ein (sozialhistorischer) Befund, der durch die vorliegende Arbeit nicht nur einmal attestiert werden soll.

3. Armut und Hunger im Lazarillo de Tormes als sozialer Missstand

Armut, besonders physisch sichtbare, wie sie uns im Lazarillo de Tormes auf Schritt und Tritt begegnet, war eine im Spanien des 16. Jh. stark verpönte, jedoch soziale Realität, die dem internationalen, humanistischen Ideal der Menschenwürde diametral entgegenstand. Was auf dem Papier als theoretisches Konstrukt funktionierte, erwies sich in der alltäglichen Praxis als nahezu unlösbare Aufgabe. Was sollte man mit all den bis auf die Knochen abgemagerten, armen Seelen denn anfangen? Selbst der große Humanist, Erasmus von Rotterdam, ließ sich angesichts einer solchen Misere zu dem laut ausgesprochenen Gedanken verleiten, ob nicht die Natur selbst diese Menschen als Bettler geschaffen habe:

,,Peut-être, la nature a créé ces gens-là pour être gueux.“[5]

Dieser fatalistisch anmutende Glaube an eine von der Natur gewollte, soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung der Schwächsten käme einer Bankrotterklärung an die spanische Gesellschaft gleich, weshalb der Anonymus die Hungerthematik im ersten, zweiten und dritten Traktat nicht nur teilweise physisch sichtbar, man denke an die Episode mit der Schlackwurst im ersten Traktat, sondern im dritten Traktat auch zeitlich für den Leser nachfühlbar macht, um anhand dieses im pikaresken Gewand gekleideten Romans seine (erudierten und einflussreichen) Leser und Landsleute zu schockieren und zum Umdenken zu zwingen, hin zu einer gerechteren Gesellschaft.

Die Deckungsgleichheit zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit in der von Lázaros von Hunger geprägten Kennenlernphase mit dem Escudero ist ein wichtiges Indiz hierfür.[6]

Die das zweite und dritte Traktat durchziehende quälende Hungerthematik, als zeittypisches und asoziales Phänomen einer überall grassierenden Armut in Spanien, ist eine existentielle Bedrohung, die alle Schichten erfassen kann. Apelliert der erudierte Autor hier also an die sozial bessergestellten, gebildeten und humanistisch geprägten Leser seiner Zeit, ihrer sozialen Verantwortung endlich nachzukommen, die Hungermisere als einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag zu betrachten und sie aktiv, im Sinne der christlichen Karitas, zu bekämpfen?

Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und finanzieller Probleme zu dieser Zeit kam die Kirche ihrem Wohlfahrtsauftrag jedenfalls nicht mehr nach und legte die damit verbundenen administrativen und praktisch-karitativen Aufgaben zunehmend in die Hände des aufstrebenden Besitzbürgertums.

Die Zivilgesellschaft wurde also ein wichtiger Machtfaktor und es entbrannte ein ideologischer Wettstreit, man denke hier natürlich auch an den ,,Wettstreit der Künste“ zwischen Lázaro und dem Kleriker, die sich abwechselnd mit Bohrer bzw. Flickzeug an der Brotlade vergehen, wie am Gewand der Penelope, um die Wohlfahrtpflege zwischen Kirche, Städten und Gemeinden, ein Prozess, der auch vom damaligen Machthaber, Carlos I., politisch abgesegnet wurde.[7]

Die königliche Ordenanz aus dem Jahre 1540, die in Medina del Campo erst im Jahre 1544 veröffentlicht wurde, hatte zum Ziel, in zahlreichen Städten wie Salamanca, Valladolid, Madrid oder Toledo die Kontrolle über das gesamte Bettlerwesen, zu Lasten der Kirche, an sich reißen und, langfristig gesehen, systematisch auszulöschen.[8] In diesem Kontext forderte Fray Juan de Robles, die Almosengabe solle neu organisiert werden, um die wahrhaft Bedürftigen von den asozialen Parasiten der Gesellschaft zu trennen.

Sein großer ideologischer Widersacher, Fray Domingo de Soto, beharrte auf dem Recht auf Almosen und zweifelte an Robles These, ein neu organisiertes Bettlerwesen unter ziviler Federführung habe positive Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung und das Gesundheitswesen.[9]

Darüberhinaus gab es gerade in der katholischen Kirche zu dieser Zeit einen theologischen Diskurs, der sich mit dem Begriff der Armut bzw. dem Zustand des arm seins intensiv befasste und in dessen Folge der Arme seinen Status als ,,sanctus pauper“, also als eine Art heiliger Armer, der stellvertretend für Gott den Herrn für uns auf Erden leiden muss, unwiderruflich verlor.

Das alte christliche Prinzip, das auf dem Lob der Armut beruhte (elogio de la pobreza), wurde fatalerweise durch ein fast schon frühkapitalisitsches Konzept des Lobs auf die Prosperität verdrängt.[10]

Nicht ohne Grund durchläuft der Pícaro auf seinem ,,cursus honorum“ der Schlechtigkeit verschiedene Dienstverhältnisse, immer auf der Suche nach einer möglichst stabilen, ertrag- und aussichtsreichen sozialen Position, auch wenn dieses Streben durch die Funktionslosigkeit, Asozialität und Grausamkeit seiner Herren oftmals konterkariert wird. Die relativ hohe soziale Position Lázaros als Pregonero, eine Art öffentlicher Ausrufer, wird durch die unmoralische ,,menage à trois“ stark relativiert, hier zeigt sich die Gegenläufigkeit von Materialismus und Moralismus. Mit steigendem Wohlstand sinkt die Moral. Vor dieser gefährlichen Entwicklung, die den materiellen Reichtum als neue Tugend definierte, warnten christliche Würdenträger, u.a. Juan de Ávila, der während seiner Predigten in Andalusien den Gläubigen mit Nachdruck zu verstehen gab, dass Reiche nicht in den Himmel kämen.

,,[...] durante el curso de sus predicaciones andaluzas [Juan de Ávila] daba a entender que los ricos no entrarían en el reino de los cielos.“[11]

Duch die soziale Brandmarkung und Degradierung des Armen, bzw. der Armut, geriet die Almosengabe bzw. das Bettlerwesen zunehmend in Verruf. Man betrachtete Arme, Bettler, Vagabunden, durchziehende Händler, etc. zunehmend als diffuse Bedrohung für die öffentliche Ordnung und das öffentliche Gesundheitswesen. Der Lázarillo de Tormes spiegelt hier auch zwei verschiedene Ebenen von Armut, die von der spanischen Gesellschaft im 16. Jh. unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert worden ist.

Zum einen die Armut des Individuums, zum anderen Armut als kollektives, bedrohliches Massenphänomen. Lázaros erster Herr, der Blinde, der ,,in einem Monat mehr verdient als hundert [ordentliche] Bettler in einem ganzen Jahr“[12], handelt nicht nur als (halb)kriminelles Individuum, sondern ist Repräsentant des in Spanien zu dieser Zeit grassierenden, organisierten Bettlerwesens.

Der verlogene Ablassverkäufer verkauft im fünften Traktat seine Ablassbriefe zum Schaden Anderer nicht nur als Einzeltäter, sondern ist in ein von der Kirche offiziell abgesegnetes Ablasssystem eingebettet, an dem sie erheblicht mitverdient hat. Augenscheinlich wird dieses System in der Episode mit dem Ablassverkäufer und den sogennanten ,,Reverendi“ (Würdenträger), die sich bewusst von ihm bestechen oder betrügen lassen, um den Ablasshandel anzukurbeln.[13]

Durch die einseitige Überhöhung der Prosperität wurde das ursprünglich humanistisch geprägte Konzept der Tugendhaftigkeit ad absurdum geführt. Für Humanisten ist der Mensch ein freies, moralisches Wesen, das über einen freien Willen verfügt, Einfluss auf das eigene irdische und himmlische Schicksal hat und Freiheit auf der Grundlage von Wissen, Können und Wollen erlangt.[14]

Der Pícaro ist aber unfrei, sein erster Herr wird ihm, aus der Not der Eltern heraus, aufgezwungen, er hat schlichtweg keine andere Wahl. Er bildet keinen freien Willen, um sein Leben langfristig zu planen, vielmehr reagiert er im Verlauf der Erzählung reaktionär, unter Rückgriff auf seine Künste, auf die von ihm erlittene Pein, entwickelt dabei eine Art vorausschauenden Opportunismus und fügt sich am Ende des siebten Traktats fatalistisch in sein moralisch fragwürdiges Schicksal, indem er über die Tatsache, der gehörnte Ehemann zu sein, willentlich den Mantel des Schweigens ausbreitet, sich dabei permanent selbst belügt und gegenüber seinen Freunden Stillschweigen, unter Androhung von körperlicher Gewalt, ganz so wie er es erlebt hat, regelrecht erzwingt.[15]

In der Figur des Pícaro lässt der Anonymus also das zentrale und sozial ordnende Ideal des Renaissance-Humanismus, das auf Bildung, einem Lebensziel und gesellschaftlicher Teilhabe beruht, sterben. Er, wahrscheinlich selbst ein intelektuell begabter und subversiv denkender Bürgerlicher aus der Mittelschicht, hält den Eliten seiner Zeit den Spiegel des Versagens vor.

In diesem Vakuum verliert unser Pícaro seine Selbstachtung, er wird völlig funktionslos und wirkt zunehmend lächerlich. In der Episode mit dem Kleriker machen sich vorbeikommende Leute über die Züchtigung Lázaros durch seinen Herrn lustig und fordern ihn auch noch auf, Lázaro erneut zu züchtigen, während sie sich über seine erlittene Peinigung halb tot lachen.

,,[...] era la risa de todos tan grande, que toda la gente que por la calle pasaba entraba a ver la fiesta.

[...] ,Castigadlo, castigadlo, que Dios lo habréis´.“[16]

Der funktionslose Pícaro wird hier, im Namen Gottes, auch zum (vogelfreien) Entrechteten.

Während sich also kirchliche Intelektuelle und Würdenträger den Kopf über die theoretische Auslegung des Begriffs der Armut zerbrechen, muss unser in der Kalamität gefangener Pícaro tagtäglich grausame Züchtigungen und nackten Hunger ertragen und kann sich nicht mehr auf die christliche Doktrin der Karitas berufen. Die Kirche hat als sozial-integrative und schützende Kraft der Schwächsten längst versagt.

Der Lazarillo de Tormes öffnet also indirekt, ausgehend von der durch den Autor identifizierten Thematik der Armut und dem sich daraus ergebenden Hunger als sozialem Missstand, große, ideologisch gefärbte, gesellschaftskritische Diskurse in Kirche und (intelektuellem) Bürgertum im Spanien des 16. Jh., die Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung und den sozialen Frieden dieser Zeit gehabt haben. Hier zeigt sich der Vater des Schelmenromans einmal mehr als ein sozialkritisches Zeitdokument par excellence, welches soziale Ungerechtigkeit, als einen der neuralgischsten Punkte der spanischen Gesellschaft des Siglo de Oro, vor den Augen des Lesers anhand der Hungerthematik herausschält und fühlbar macht.

4. Sozialstrukturen im ,,Lazarillo de Tormes“

Die im Werk offenkundige soziale Hierarchisierung, die mit Rechten und Privilegien des Höhergestellten einhergeht und sich v.a. im Dienstverhältnis zwischen Lázaro und seinen verschiedenen Herren widerspiegelt, findet sich strukturell auch auf der Ebene des Dialogs zwischen ihm und dem sozial höher gestellten Honoratior, genannt ,,Vuestra Merced“.

Letzterer verlangt im Prolog Auskunft über den moralisch aufgeheizten ,,caso“[17], der erst im letzten Traktat aufgelöst wird und durch den sich weitere soziale und moralische Fragestellungen bzw. Leerstellen ergeben werden.

,,Y pues Vuestra Merced escribe se le escriba y relate el caso muy por extenso [...]“.[18]

Vuestra Merced ist also eine Autoritätsperson, die scheinbar das Recht hat, von seinen Untergebenen lückenlos informiert zu werden. Erst am Ende des Werks wird diese personelle Moralinstanz ins krasse Gegenteil verkehrt, da man ihr freundschaftliche Beziehungen zum Erzpriester von Sankt Salvador nachsagt, der seinerseits sein Amt mißbraucht, um äußerlich am Zölibat festhalten zu können. Geschickt konstruiert der Autor zementierte, einander diametral entgegenstehende soziale Positonen, um dann aus der demütigen, bescheidenen und scheinbar unterlegenen Bildungsposition des Pícaros heraus implizite und explizite Kritik an den Missständen seiner Zeit zu üben, die sowohl ihn selbst als Individuum, aber auch ganze Personengruppen, sowie weltliche und kirchliche Institutionen und Würdenträger betreffen.

Wer sich im Sinne des christlichen Bescheidenheitstopos selbst erniedrigt, wird erhöht und erhört werden. Man schenkt dem Demütigen tendenziell eher Gehör, als dem vermeintlich Allwissenden, so sagt dann auch Lázaro zu Vuestra Merced:

,,Suplico a Vuestra Merced reciba el pobre servicio de mano de quien lo hiciera más rico, si su poder y deseo se conformaran“.[19]

Die dialogisch dargestellte, sozial-hierarchische Oppositon ,,Lázaro versus Vuestra Merced“ entspricht auch einer maximalen, antithetisch konstruierten, sozialen Fallhöhe zwischen Carlos I. und Lázarillo. Im letzten Traktat ist es ausgerechnet der aus niederen Verhältnissen stammende und sich am Rande der Gesellschaft bewegende Pícaro, der die Ankunft des höchsten spanischen Machthabers am Hofe von Toledo verkündet, eines ruhmreichen Kaisers als Repräsentant einer mächtigen Adelsdynastie. Die Tiefe des sozialen Abgrunds, der den großen Carlos vom nichtigen Pícaro trennt, ist schier unermesslich, ein sozialverträglicher, moralisch guter und dauerhafter Aufstieg des Schelms ist unmöglich.[20]

Die durch den Autor eindimensional dargestellten sozialen Oppositonen ,,Armut versus Reichtum“, bzw. ,,Machtlosigkeit versus Macht“, die sich aus den oben genannten Konstellationen ergeben, lassen auf zementierte Standes- und Sozialhierarchien, sowie eine fehlende (bürgerliche) Mittelklasse schliessen, wodurch einerseits die soziale Ungleichverteilung verschärft wird und andererseits die Gefahr sozialer Unruhen dramatisch zunimmt.

Das scheinbare Fehlen einer Mittelklasse ist für Paula Jojima ein von jedem Spanier durchaus fühlbares soziales Vakuum, das aber nicht nur auf tatsächlicher wirtschaftlicher Misere und Inflation, sondern auch auf einem Mentalitätswechsel in der Bevölkerung beruhte, der die zivilen Eliten zunehmend in der Pflicht sah, Armut und Ungerechtigkeit nachhaltig zu bekämpfen.

Ebendiese Mittelklasse, d.h. das (Besitz)bürgertum, laizistische Priester, Intelektuelle, Literaten und Wissenschaftler, die aktiv gegen soziale Missstände ankämpfen müssten, da die Kirche diesem Auftrag scheinbar nicht mehr gewachsen war, glänzt im Vater des Schelmenromans durch ihre permanente Abwesenheit, eine durch den Autor brillant insinuierte Bankrotterklärung an die soziale Verantwortung der Gesellschaft des Siglo de Oro im Allgemeinen und der Kirche im Speziellen.[21]

Letzgenannte führte nicht bloß, wie oben erwähnt, realitätsferne theologische Diskurse über den Status des Armen und gab ihre karitative Kernaufgabe der Wohlfahrtspflege in öffentliche Hände, sondern sie missbrauchte auch ihre theologische Deutungshoheit, in Gestalt der ,,Heiligen Inquisition“, als politisches Machtinstrument zum Erhalt ihres Status quo und verbreitete Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Angst und Argwohn fördern aber das Denunziantentum, machen Menschen gefügig und zerstören schimmstenfalls intakte familiäre Sozialstrukturen, z.B. durch willkürliche Verhaftung unschuldiger, vermeintlicher Glaubensabtrünniger (Maure), die als Vater oder Mutter dann ihrem Fürsorge- und Erziehungsauftrag nicht mehr nachkommen können. Die katholische Kirche wirkte also auch aktiv an der (sozialen) Zersetzung der spanischen Gesellschaft mit, sie hat doppelt versagt.

[...]


[1] Mateo Alemán nennt diese Kunst des Diebstahls ,die im ,,Lazarillo de Tormes“ oft nur implizit angedeutet wird, später in seinem ,,Guzman de Alfarache“ offiziell das ,,Handwerk der blühenden Schelmerei“.

Der Protagonist wird später Anhänger einer Diebesbande, Spieler und Betrüger.

Der Anonymus bahnt also eine Subkultur, eine verbrecherische Parallelwelt an, die Mateo Alemán später zur literarischen Tradition des pikaresken Romans erhebt. (Arte de furtar)

[2] Vgl. Patzer, (2016) : 1.

[3] Ebd.. : 2.

[4] Vgl. Ebd. : 3.

[5] Mollat (1984) : 356.

[6] Vgl. Lazarillo de Tormes (1987) : 82 ff.

[7] Vgl. Jojima (2011) : 317.

[8] Vgl. Ebd. : 318.

[9] Vgl. Ebd. : 319.

[10] Vgl. Ebd. : 320.

[11] Jojima : 315.

[12] Neuschäfer (2011) : 39.

[13] Vgl. Lázarillo de Tormes : 134.

[14] Vgl. Jojima : 316.

[15] Vgl. Lázarillo de Tormes : 160.

[16] Lazarillo de Tormes : 33.

[17] Der ,,caso“ betrifft die Zwangsheirat der Konkubine des Erzpriesters von Sankt Salvador mit Lázaro im siebten Traktat, wodurch der Erzpriester weiterhin (sanktionsfrei) mit der weltlichen Dame den Beischlaf vollziehen kann und Lázaro als permanent gehörnter Ehemann zurückbleibt.

[18] Ebd. : 6

[19] Ebd.

[20] Vgl. Jojima : 311.

[21] Vgl. Ebd. : 312.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Der Lazarillo de Tormes als Spiegel sozialer Missstände
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
45
Katalognummer
V436878
ISBN (eBook)
9783668785052
ISBN (Buch)
9783668785069
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lazarillo de Tormes, Soziale Missstände, Zeitgeschichte
Arbeit zitieren
Christoph Ervens (Autor:in), 2018, Der Lazarillo de Tormes als Spiegel sozialer Missstände, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/436878

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