Raum und Grenze in T.C. Boyles "The Tortilla Curtain"


Seminararbeit, 2014

14 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1. Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte
2.2. Grenzen in The Tortilla Curtain
2.2.1. Der “Tortilla Curtain”
2.3.2. Die Mauer um Arroyo Blanco
2.2.3. Die Straße am Canyon
2.3. Figuren und ihre Grenzerfahrungen
2.3.1. Figurenkonstellation
2.3.2. Bewegung im (Grenz-)Raum

3. Resümee

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

[D] rei Drähte, auf denen Tortillas trocknen, und jeder kann durch“ [1] – so beschreibt der US-amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle in einem Interview die „durchlässige“ Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, umgangssprachlich auch „Tortilla Curtain“ genannt. Diese Grenze steht – sowohl in ihrer physischen als auch metaphorischen Bedeutung – im Vordergrund seines 1995 erschienenen gleichnamigen Romans; anhand ihr skizziert Boyle amerikanische Werte, die (teils paranoiden) Ängste und die Ausländerfeindlichkeit einer gehobenen weißen Mittelschicht gegenüber illegalen Einwanderern, aber auch Armut und Umweltzerstörung. Die Reaktionen auf Boyles Werk in den USA sind nach wie vor kontrovers; neben viel Zustimmung erhielt der in Kalifornien lebende Autor auch offene Ablehnung.

Da das Thema „Raum und Grenze“ im Globalisierungsdiskurs einen wichtigen Platz einnimmt und einen ganz eigenen Zugang zu Fragen wie Identität und Differenz gestattet (vgl. Müller-Funk), soll auch in der vorliegenden Arbeit die Grenzthematik im Zentrum stehen. Dabei wird die in seinem Werk „Die Struktur literarischer Texte“ formulierte Raumtheorie des russischen Literaturwissenschaftlers und Semiotikers Juri Michailowitsch Lotman das theoretische Gerüst bilden, auf dem die Analyse des Romans und seiner Figuren aufbaut.

Nach einer kurzen Darstellung der wesentlichen Punkte in „Die Struktur litararischer Texte“ sollen die verschiedenen im Roman beschriebenen Grenzen und –phänomene und deren Auswirkungen auf ihr Umfeld mit Hilfe dieser Theorie analysiert werden. Dabei wird vor allem die Frage, wie die ProtaginistInnen sich im (Grenz-)raum bewegen und welche Grenzerfahrungen sie machen, im Mittelpunkt stehen. Folgende Punkte gilt es im Rahmen der Untersuchung zu klären: Inwiefern ist das Phänomen „Grenze“ konstitutiv für das Denken und Handeln der Figuren und beeinflusst es die fortschreitende Veränderung der verschiedenen Charaktere? Welchen Beitrag kann der Roman zu einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit Grenzen und Grenzräumen beitragen und welche Perspektiven ergeben sich daraus? Und inwieweit ist Lotmans Theorie hier hilfreich?

2. Hauptteil

2.1. Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte

Wie bereits erwähnt soll die in seinem Werk Die Struktur literarischer Texte formulierte Raumtheorie des russischen Literaturwissenschaftlers und Semiotikers Jurij Lotmann als Grundlage für die Analyse der Grenzthematik in The Tortilla Curtain dienen. Ganz knapp sollen die wesentlichen Punkte – vor allem in Hinblick auf Struktur und Semantisierung des literarischen Raums – deshalb an dieser Stelle kurz skizziert werden.

Unter dem künstlerischen Raum versteht Lotman „die Gesamtheit homogener Objekte […], zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen. […] Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Darstellung von Begriffen, die an sich nicht räumlicher Natur sind, in räumlichen Modellen.“[2] Der Raum, in dem sich eine (literarische) Handlung vollzieht, ist dabei nie ein bloßer neutraler Schauplatz oder Hintergrund, sondern wird vielmehr mit bestimmten Bedeutungen besetzt, sprich semantisiert. Räume werden dabei oft mit semantischen Oppositionen wie „gut“ oder „böse“ belegt.[3] Dies geschieht selten zufällig, sondern hängt vielmehr vom jeweiligen Welt- bzw. Kulturmodell des LeserInnenkreises ab: „Historische und national-sprachliche Raummodelle werden zum Organisationsprinzip für den Aufbau eines „Weltbildes“ – eines ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist.“[4]

Weiters nennt Lotman die Grenze als wichtigstes topologisches Merkmal des Raumes, deren Übertretung normalerweise nicht möglich bzw. nicht erlaubt ist. Der Handlungsraum eines Textes sei immer in zwei disjunktive, also verschiedene Teilbereiche angeordnet, die durch eine Grenze voneinander getrennt sind: „Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wesentlichsten Charakteristika. Ob es sich dabei um eine Aufteilung in Freunde und Feinde, Lebende und Tote, Arme und Reiche oder andere handelt, ist an sich gleich. Wichtig ist etwas anderes: die Grenze, die den Raum teilt, muß unüberwindlich sein und die innere Struktur der beiden Teile verschieden.“[5]

Beide Teilbereiche besitzen also unterschiedliche Strukturen, oder genauer gesagt: sie stehen in Opposition von Innenraum und Außenraum zueinander. Während der Innenraum dabei das „Wir“ einer gegebenen kulturellen Formation verkörpert, steht der Außenraum für das „Sie“ der anderen, nämlich in den Innenraum nicht integrierten.

Im Falle Boyles heißt das, dass der Raum des Textes von einer Grenze in zwei Teile geteilt und jede Figur einem dieser Räume zugeteilt wird, wobei die Grenze nur vom jeweiligen Helden überschritten werden kann. „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Felds“[6], d.h. bricht die Figur die Grenze, bricht sie mit den Normen des ihr zugewiesenen Handlungsraumes und stellt die vorgegebene kulturelle Ordnung in Frage. Das Ereignis kann demnach als ein revolutionäres Element charakterisiert werden, dass sich den gültigen gesellschaftlichen Vorgaben widersetzt.

2.2. Grenzen in The Tortilla Curtain

2.2.1. Der “Tortilla Curtain”

Im Folgenden sollen die im Roman beschriebenen Grenzen und Grenzräume genauer betrachtet werden.

Der titelgebende „Tortilla Curtain“ ist keineswegs eine Erfindung des Autors, sondern vielmehr ein gängiger Begriff in den USA, um die als durchlässig und überschreitbar geltende Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko zu definieren, die sich von Südkalifornien bis nach Texas erstreckt und eine der bestbewachten Grenzen der globalisierten – und damit angeblich grenzenlosen – Welt darstellt.

Der Begriff bezeichnet sowohl die physische als auch die politische Grenze. Der nordamerikanische Mythos des „American Dream“ stellt seit jeher den Grund für die Immigration in die USA dar – und so befindet sich auch in Cándidos Vorstellung auf der anderen Seite des Zauns „the […] plumbing capital oft he orld, the land of filitration plants and water purifiers.“[7]

Betrachtet man den „Tortilla Curtain“, wie er im Buch dargestellt ist, aus der Sicht Lotmans, so wird schnell klar, dass er einen Außen- und einen Innenraum trennt; ersterer ist in diesem Fall Mexiko, letzterer die USA. Als Grenzmarkierungen lassen sich Stacheldrahtzäune und Wachtposten, aber auch natürliche Grenzen wie der Rio Grande oder der Colorado River ausmachen. Beide Räume sind semantisch unterschiedlich besetzt und bilden damit eine Opposition: während die mexikanische Seite mit Armut und Perspektivlosigkeit konnotiert ist, steht die nordamerikanische Seit für Wohlstand, Reichtum und (grenzenlose) Möglichkeiten. Der Begrenztheit und Unordnung Mexikos steht die Unbegrenztheit und Ordnung der Vereinigten Staaten gegenüber. Der Außenraum ist hier also ganz klar negativ besetzt, der Innenraum positiv.

2.3.2. Die Mauer um Arroyo Blanco

Eine weitere wichtige und für die Handlung konstitutive Grenze stellt die Mauer um Arroyo Blanco dar. Die reiche, weiße Wohnsiedlung, in der Delaney Mossbacher mit seiner Familie lebt, ist zu Beginn des Romans noch frei zugänglich, wird aber im Verlauf der Handlung Schritt für Schritt zu einer sogenannten „Gated Community“, die wie eine Festung durch eine hohe Mauer geschlossen und gesichert und zu einer symbolischen Barriere gegen die Menschlichkeit wird. Die Darstellung der fortschreitenden Ummauerung der Siedlung verleiht dem Roman satirische Züge: Delaney soll gegen seinen Willen eine Gruppe mexikanischer Arbeitskräfte hereinlassen, die dort genau die Mauer bauen sollen, die mexikanische EinwandererInnen wie sie selbst aus der Siedlung fernhalten sollen – letztendlich ist es also ironischerweise Cándido selbst, der die Mauer und damit die Grenze, die ihn und seinesgleichen ausschließen soll, errichtet.

Ironisch mutet auch die Tatsache an, dass im Canyon ein verheerendes Feuer ausbricht, dem die BewohnerInnen Arroyo Blancos nur durch Zufall knapp entgehen – kurz nachdem Kyra Mossbacher wiederholt ausdrücklich den Schutz durch die neue Mauer betont hat. Hier zeichnet sich ganz deutlich eine der Kernaussagen des Buchs ab, nämlich dass der (vermeintliche) Schutz durch die Errichtung von Grenzzäunen und –mauern ein Trugschluss ist. Das gilt nicht nur für Arroyo Blanco als weißes „Klein-Amerika“, sondern für die Vereinigten Staaten überhaupt. Die Mauer kann in diesem Sinne als „Miniaturversion“ des „Tortilla Curtian“ gesehen werden: weder hält letzterer illegale EinwandererInnen aus Mexiko davon ab, nach Kalifornien zu kommen, noch kann die Umzäunung bzw. Ummauerung der Wohnsiedlung vor Naturkatastrophen schützen oder wilde Tiere am Eindringen hindern, wie am Beispiel des Koyoten, auf den in Kapitel 2.3. noch genauer eingegangen werden soll, ersichtlich wird: „A coyote had somehow managed to get into the enclosure and seize one of the dogs, and there it was, wild nature, up and over the fence as if it were some sort of circus act.”[8] Die Grenzenlosigkeit der Natur entlarvt hier die Absurdität der inneramerikanischen Grenze als Ort der kulturellen Konfrontation.[9]

Genau wie der „Tortilla Curtain“ lässt sich auch die Mauer um Arroyo Blanco in ein Lotmansches Oppositionsschema einordnen. Auch hier werden ganz deutlich Innen- und Außenraum voneinander abgegrenzt – innen nämlich die Wohnsiedlung, die sich durch die Umzäunung vom Außenraum abschotten will. Als Grenzmarkierungen zeichnen sich hier zunächst Tor und Wachthäuschen, später Zaun und Mauer ab. Während der Innenraum semantisch ganz klar positiv besetzt ist – steht er doch für Sicherheit, Komfort und ein bequemes und beschütztes Leben – ist die semantische Einordnung des Außenraums hier schwieriger, da die Hauptfiguren in jeweils unterschiedlichem Verhältnis zu den Grenzen und Grenzräumen stehen. Bedeutet er für Cándido und América Gefahr, Hunger und Ausgesetztsein – also all die Unannehmlichkeiten, mit denen sie als illegale EinwandererInnen konfrontiert sind – und ist er auch für Kyra, die dort Bedrohung und Gefahr wittert, negativ besetzt, so sieht Delaney darin vor allem unbegrenzte Freiheit und Natur im Gegensatz zu der begrenzten und behüteten Lebenswelt innerhalb der Mauer. Die Räume sind hier also semantisch subjektiv besetzt. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass sich auch hier wieder bestimmte Begriffe gegenüberstehen: im Gegensatz zu der Unsicherheit und Unordnung bzw. dem Chaos des außerhalb der Mauer liegenden Raums stehen die Sicherheit, Ordnung, Organisation und Harmonie des innenliegenden Raums; auch eine Unterteilung in ungeschützter bzw. nicht schützenswerter Raum gegenüber geschütztem bzw. schützenswertem Raum wäre denkbar.

[...]


[1] Greiner, Ulrich: Gelobtes Land. Hamburg: Rowohlt 1997, S. 119.

[2] Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte. München: Wilhelm Fink Verlag 1972, S. 312-13.

[3] Vgl. Lotman (1972), S. 313 ff.

[4] Lotman (1972), S. 313.

[5] Lotman (1972), S. 327.

[6] Lotman (1972), S. 332.

[7] Boyle, T.C.: The Tortilla Curtain. Ney York: Penguin Books 1995, S.53.

[8] Boyle (1995), S. 37.

[9] Vgl. Nissen, Laila: Zwischen den Amerikas: Der border turn in der interamerikanischen Literatur. Universität Passau: 2009, S. 5.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Raum und Grenze in T.C. Boyles "The Tortilla Curtain"
Hochschule
Universität Wien
Note
1
Autor
Jahr
2014
Seiten
14
Katalognummer
V436887
ISBN (eBook)
9783668773721
ISBN (Buch)
9783668773738
Dateigröße
531 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Raum, Grenze, The Tortilla Curtain, T.C. Boyle, Lotmann
Arbeit zitieren
Melanie Heiland (Autor:in), 2014, Raum und Grenze in T.C. Boyles "The Tortilla Curtain", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/436887

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