Soziale Arbeit an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie

Möglichkeiten und Grenzen von interdisziplinärer Kooperation


Bachelorarbeit, 2015

53 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Kapitel 1
Kinder und Jugendliche als Zielgruppe der Sozialen Arbeit
1.1 Die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland
1.2 Die Bedeutung von Risiko- und Resilienzfaktoren
1.3 Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit mit psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen

Kapitel 2
Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie im Überblick
2.1 Das System der Kinder- und Jugendhilfe
2.1.1 Ziele der Jugendhilfe
2.1.2 Rahmenbedingungen
2.1.3 Sozialpädagogische Diagnostik
2.1.4 Hilfen zur Erziehung
2.2 Das System der Kinder- und Jugendpsychiatrie
2.2.1 Rahmenbedingungen
2.2.2 Ursachen, Klassifikation und Diagnostik
von psychischen Störungen
2.2.3 Behandlungsformen
2.2.4 Soziale Arbeit in der Jugendpsychiatrie

Kapitel 3
Interdisziplinäre Kooperation zwischen Jugendhilfe
und Jugendpsychiatrie
3.1 Gesetzlich verordnete Schnittstellen der Kooperation
3.2 Grenzen der Kooperation
3.3 Möglichkeiten der Kooperation
3.3.1 Aus Sicht der Hilfesysteme
3.3.2 Auf politischer Ebene
3.3.3 Aus Sicht der Betroffenen
3.4 Konsequenzen für die Soziale Arbeit

Fazit

Literatur

Einleitung

Spätestens nach dem rapiden Anstieg von ADHS Diagnosen und der damit verbundenen Debatten, wurde psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Fakt ist: In Deutschland ist die Anzahl von jungen Menschen[1] mit psychischen Auffälligkeiten bzw. Störungen in den letzten Jahren gestiegen und im selben Zeitraum lassen sich auch für die Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen steigende Fallzahlen verzeichnen (vgl. Statistisches Bundesamt 2014/ Hölling et al. 2014). Durch diese Entwicklung ist in der Jugendhilfe und der Jugendpsychiatrie[2] eine „vergleichsweise große und zudem offensichtliche Schnittmenge“ an Kindern und Jugendlichen entstanden (Mörsberger 2011, S. 169), die aufgrund ihres komplexen Hilfebedarfs Leistungen aus beiden Systemen in Anspruch nehmen (vgl. Harkenthal 2011, S. 50).

Der Fall Anne[3] stellt beispielhaft den Hilfeverlauf einer Jugendlichen dar:

Anne war kein Wunschkind und ihr Vater hat Annes Mutter noch vor der Geburt verlassen. Die Mutter war schnell mit ihrer Elternverantwortung überfordert und sie konnte Annes Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Anne hat viel geschrien und wurde von ihrer Mutter häufig alleine in der Wohnung zurückgelassen. Als Anne knapp ein Jahr alt war, wurden Nachbarn auf das Kindergeschrei aufmerksam und benachrichtigten die Polizei. In der Wohnung der Mutter, wurde ein vernachlässigtes und verwahrlostes Kind vorgefunden und vom Jugendamt in eine Bereitschaftspflege übergeben. Eine Rückkehr zur Mutter wurde aufgrund akuter Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen. Aus der Bereitschaftspflege ist Anne in eine Pflegefamilie gekommen.

Nach fünf Jahren zeigte Anne immer häufiger auffälliges Verhalten, wurde daraufhin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater vorstellig und erhielt ambulante Therapie. Die Pflegefamilie geriet dennoch immer mehr an ihre Grenzen und im Alter von sieben Jahren war Anne zum ersten Mal in stationärer Behandlung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Noch während des Klinikaufenthalts hat sich die Pflegefamilie dazu entschieden, Anne nicht wieder bei sich aufzunehmen und es wurde für sie eine stationäre Einrichtung gesucht. Anne wurde in einer Familiengruppe aufgenommen, da der kleine Rahmen für die am geeignetsten erschien. Doch auch in diesem Setting tauchten immense Probleme auf, sodass Anne wiederum mit 9 Jahren in eine therapeutische Wohngruppe wechselte.

Mit der Zeit entwickelten sich bei Anne selbstverletzende Tendenzen und mit knapp 13 Jahren musste sie aufgrund einer akuten Krisensituation stationär in die Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen werden. Sie wurde nach ein paar Tagen stabil zurück in die Gruppe entlassen. Mit 14 Jahren wurde eine geplante stationäre Traumatherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt, aus der sie nach drei Monaten mit den Diagnosen „Posttraumatische Belastungsstörung und einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus“ zurück in die Wohngruppe entlassen wurde. Die therapeutische Wohngruppe hat in ihrem interdisziplinären Team, unterschiedliche Methoden entwickelt, um mit Annes Problemen und Auffälligkeiten umzugehen.

Der Fall Anne stellt einen typischen Jugendhilfefall dar: Anne hat in ihrem Leben schon früh traumatische Erfahrungen gemacht, woraus sich verschiedene psychische Auffälligkeiten und Verhaltensweisen entwickelt haben. Im Verlauf der Hilfemaßnahmen ist sie zwischen den unterschiedlichen Hilfesystemen hin und her gependelt (vgl. Harkenthal 2011, S. 52). In solchen Fällen ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von pädagogischen, therapeutischen und psychiatrischen Fachkräften ein wichtiger Bestandteil in der Versorgung von psychisch gestörten jungen Menschen. Häufig werden Kinder und Jugendlichen im Anschluss an einen Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Wohngruppe aufgenommen oder die Maßnahmen der Klinik, werden als Ergänzung zum pädagogischen Setting in Anspruch genommen (vgl. Gahleitner et al. 2012, S. 257).

Die Kooperationsanforderungen zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie sind in den vergangenen gestiegen, jedoch werden die Möglichkeiten von fachübergreifender bzw. interdisziplinärer Kooperation noch nicht gänzlich ausgeschöpft (vgl. Schone 2008, S. 142). Es stellt sich aus diesem Grund die Frage, wie die interdisziplinäre Kooperation zwischen den Systemen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie gestaltet sein muss, um eine ausreichende Versorgung von psychisch gestörten Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten? Und vor welche Herausforderungen werden Sozialarbeiterinnen[4] in der Praxis gestellt?

Im ersten Kapitel dieser Arbeit wird die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland betrachtet. In den Fokus werden dabei psychisch gestörte Kinder und Jugendliche genommen, da sie als gemeinsame Zielgruppe der Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie bezeichnet werden können. Die Begriffe verhaltensauffällig, psychisch gestört und seelisch behindert werden definiert. Wichtig war mir außerdem die Auseinandersetzung mit den Risiko- und Resilienzfaktoren von Kindern und Jugendlichen, da diese großen Einfluss auf die Entwicklung von psychischen Störungen haben.

Im zweiten Kapitel wird ein Überblick zu den Systemen der Jugendhilfe und der Jugendpsychiatrie gegeben. Die Rahmenbedingungen sowie die Leistungen werden beschrieben und der Bezug zur Sozialen Arbeit wird hergestellt. Im System der Jugendhilfe werden darüber hinaus die Hilfen zur Erziehung ausführlicher beschrieben, da sich dort der größte Kooperationsbedarf mit der Jugendpsychiatrie abzeichnet. Im System der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden außerdem die Ursachen, Klassifikation und Diagnostik der psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter näher erläutert.

Anschließend geht es im dritten Kapitel um die interdisziplinäre Kooperation zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Trotz der gesetzlichen Regelungen entstehen Probleme bei der Kooperation. Diese Stolpersteine werden aufgezeigt und im Anschluss daran werden verschiedene Lösungsansätze angeboten, um diese Grenzen zu überwinden. Zum Schluss wird dann darauf geschaut, welche zentrale Funktion die Soziale Arbeit an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie übernehmen kann.

Kapitel 1 Kinder und Jugendliche als Zielgruppe der Sozialen Arbeit

Die Soziale Arbeit, als praxisorientierter Beruf und wissenschaftliche Disziplin erfüllt eine individuelle, gesellschaftliche und zunehmend auch eine globale Funktion, von der sich die spezifischen Aufgaben ableiten lassen (vgl. Schilling/ Zeller 2010, S. 208). Die Soziale Arbeit hat sich über die Armen- bzw. Wohlfahrtspflege hinweg, zu einer autonomen Profession mit eigenständigen Methoden, Theorien und vielfältigen Arbeitsfeldern entwickelt. Während dieser Entwicklung näherten sich die Traditionslinien der Sozialpädagogik und Sozialarbeit an und wurden in dem Handlungsfeld der Sozialen Arbeit vereint (vgl. ebenda, S. 113). In den unterschiedlichen Arbeitsfeldern fördert die Soziale Arbeit beispielsweise die Handlungsfähigkeit von Menschen bei Problem- oder Notlagen, bietet Hilfe zur Selbsthilfe und unterstützt Menschen bei der Überwindung von prekären Lebenslagen (vgl. ebenda, S. 242). Vor allem Kinder sind zu einer wichtige Zielgruppe der Sozialen Arbeit geworden, da sich in Deutschland die Bedingungen des Aufwachsens ständig verändern und „der Schonraum Kindheit“ immer mehr verloren geht (Jordan et al. 2012, S. 17).

1.1 Die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland

Laut dem 14. Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geht es Kindern und Jugendlichen in Deutschland besser als je zuvor (vgl. BMFSFJ 2013, S. 4). Durch gesellschaftlichen und technologischen Wandel haben sich die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten immens verändert. „In der Summe werden ihre Lebenswelten offener, pluraler, individueller, vorläufiger“ (BMFSFJ 2013, S. 39). Trotz der Pluralität an Möglichkeiten und Chancen, die Kinder und Jugendliche heute besitzen, ist eine allgemeine Chancengleichheit nicht hergestellt. Die Familie beeinflusst die Entwicklung und das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen weiterhin am stärksten, daneben haben sich jedoch viele Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche entstanden, die eine frühe Konfrontation mit pädagogischen Fachkräften, z.B. bei der Kinderbetreuung unter drei Jahren oder Ganztagsangeboten an Schulen, begünstigen (vgl. ebenda, S. 38).

Die Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen liegt demnach heutzutage nicht ausschließlich in der Verantwortung der Eltern, sondern wurde durch politische Maßnahmen immer weiter in den öffentlichen Bereich übertragen (vgl. ebenda, S. 5). Die ökonomischen und sozialen Bedingungen für Familien haben sich verändert. Das Familienleben ist fragiler geworden und die Vielfalt von familiären Lebensformen ist gewachsen (vgl. Jordan et al. 2012, S. 12).

Gesundheitssituation

In den 80er Jahren hat sich ein neues Gesundheitsverständnis entwickelt. Die krankhaften Prozesse sind in den Hintergrund gerückt und es wurde sich vermehrt mit Faktoren beschäftigt, die die Gesundheit von Menschen fördern und aufrechterhalten (vgl. Petermann/ Petermann 2011, S. 37). Diese Denkweise ist zurückzuführen auf den Medizinsoziologen Antonovsky, der den salutogenetischen Ansatz als Abgrenzung zur Pathogenese entwickelt hat. Während die Pathogenese sich mit der Entwicklung und Entstehung von Krankheiten beschäftigt, ist die Entstehung und Entwicklung der Gesundheit Gegenstandsbereich der Salutogenese (vgl. Wälte 2013, S. 75).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als „einen Zustand völligen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens“ (Kooperationsleitfaden 2007, S. 15). Der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Gesundheit mehrdimensional und interdisziplinär ist und nicht nur auf medizinische Faktoren beschränkt werden kann (vgl. DKSB 2011, S. 12).

Für ein gesundes Aufwachsen müssen die physischen und psychischen Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, in den verschiedenen Entwicklungsphasen befriedigt werden. Klaus Grawe legt sich hierbei auf vier Grundbedürfnisse fest (vgl. Borg-Laufs/ Spancken 2010, S. 23): Kinder müssen ihre Umwelt verstehen, vorhersehen und beeinflussen können (Kontrolle/ Orientierung). Auch das Bedürfnis nach Bindung, also das Erleben von emotionalen Beziehungen zu Bezugspersonen, muss erfüllt werden. Kinder müssen sich selbst als gute Person wahrnehmen (Selbstwertstabilisierung/ Selbstwerterhöhung) und angenehme Situationen erleben sowie unangenehme Zustände vermeiden (Lustgewinnung/ Unlustgewinnung).

Können die Bedürfnisse nicht ausreichend befriedigt werden kann das dazu führen, dass Kinder versuchen durch unangepasstes Verhaltensweisen doch noch die Bedürfnisbefriedigung zu erlangen (vgl. ebenda, S. 24). Schwerwiegende Folgen entstehen für Kinder, wenn die Grundbedürfnisse nachhaltig z.B. durch sexuellen Missbrauch oder Misshandlungen verletzt wurden (vgl. ebenda).

Weitere Riskante Lebensbedingungen für junge Menschen sind neben Armut, vor allem „das Aufwachsen bei alleinerziehenden Elternteilen, eine höhere Kinderzahl in Familien, Erwerbslosigkeit und Migrationshintergrund“ (vgl. BMFSJ 2013, S. 11). Durch die riskanten sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen, hat sich auch die Gesundheitssituation von Kindern und Jugendlichen verändert. Laut der KiGGS-Studie[5] hat bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland eine „Verschiebung des Krankheitsspektrums von den akuten zu den chronischen und von den somatischen Krankheiten zu den psychischen Auffälligkeiten und Störungen“ stattgefunden (Hölling et al. 2012, S. 840). Diese Entwicklung wird als „Neue Morbidität“ bezeichnet. Als weiteres Ergebnis dieser Studie lässt sich festhalten, dass insgesamt ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren psychische Auffälligkeiten aufweisen (vgl. Hölling et al. 2014, S. 816), von denen etwa 7% eine klinische Behandlungsbedürftigkeit besteht (vgl. Beck/ Warnke 2009, S. 57). Die WHO macht darauf aufmerksam, dass etwa 20% der Kinder weltweit unter einer psychischen Störung leiden (vgl. Kirchweger 2012, S. 271).

Durch die steigende Zahl von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten bzw. Störungen, haben auch die erzieherischen Hilfen einen Aufschwung erlebt. Es wurden mehr Plätze geschaffen, Institutionen ins Leben gerufen, Personal beschäftigt und dementsprechend mehr Geld ausgegeben, um der Nachfrage nach erzieherischen Hilfen gerecht werden zu können (vgl. BMFSJF 2013, S. 251). Das frühe Erkennen der Risiken für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen soll dazu beitragen, dass schnelle und wirksame Hilfen für die jungen Menschen und ihre Familien angeboten werden kann (vgl. ebenda, S. 7).

Die Begriffe verhaltensauffällig, psychisch gestört und seelischen behindert weisen alle auf eine besondere Belastungssituation für die jungen Menschen und ihre Familien hin,führen zu einer mangelhaften Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und stellen somit ein besonderen Versorgungsbedarf für alle Betroffenen dar (vgl. Homfeldt/ Gahleitner 2012, S. 13). „Dabei ist der Übergang von normalen entwicklungsbedingten Auffälligkeiten zu psychischen Störungen fließend“ (Böge et al. 2014, S. 156).

- bei Kindern und Jugendlichen werden im Kontext der soziale, statistische, funktionale, ideale und subjektive Normen in der Gesellschaft wahrgenommen (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2007, S. 15). Normen beschreiben „Übereinkünfte zwischen Menschen (…) und/oder gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten“ (Fröhlich-Gildhoff 2007, S. 17). Verhaltensauffälligkeiten können als Abweichung des Verhaltens von der vorliegenden Norm beschrieben werden. Eine klare Definition des Begriffs wird erschwert, da durch Normen keine eindeutigen und allgemeingültigen Kriterien für abweichendes Verhalten vorgegeben werden (vgl. ebenda).

In den 1990er Jahren wurde der Begriff psychische Erkrankung offiziell durch den Begriff psychische Störung ersetzt (vgl. ebenda, S. 16). Auch für die Definition von p sychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen spielt von der Norm abweichendes Verhalten eine Rolle (vgl. Denner 2008a, S. 14). Die Abweichung kann sich im psychiatrischen Kontext auf „Störungen der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen“ beziehen und muss im Kontext der alterstypischen Entwicklung gesehen werden (Denner 2008a, S. 14). Das Verhalten und Erleben beeinträchtigt oder gefährdet die Entwicklungsmöglichkeiten des jungen Menschen und es entsteht ein subjektiver Leidensdruck für den Betroffenen (vgl. ebenda). Eine psychische Störung im Kindes- und Jugendalter darf nur dann diagnostiziert werden, wenn eine erhebliche Beeinträchtigung vorliegt und die jeweiligen Kriterien des Störungsbildes gemäß ICD-10 erfüllt sind (vgl. Kooperationsleitfaden 2007, S. 16). Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter können in vielen Fällen durch die Inanspruchnahme von Hilfemaßnahmen bewältigt werden, ohne dass weitere Folgen für den jungen Menschen entstehen. Sollte sich trotz intensiver Behandlung keine Besserung einstellen, ist der junge Mensch durch eine seelische Behinderung bedroht (vgl. Denner 2008a, S. 18).

Der Begriff Behinderung definiert sich gemäß §2 Abs. 1 SGB IX: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit und seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ Diese allgemeine Definition findet ihre Anwendung auch bei Kindern und Jugendlichen. Bei einer seelischen Behinderung muss die zu erwartende Beeinträchtigung von einem Facharzt eingeschätzt werden (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2007, S. 20) und es ergeben sich für die jungen Menschen verschiedene Rechte im Rahmen der Eingliederungshilfe.

1.2 Die Bedeutung von Risiko- und Resilienzfaktoren

Die gesunde Entwicklung von jungen Menschen wird maßgebliche durch förderliche und riskante Erfahrungen beeinflusst (vgl. Fegert/ Besier 2010, S. 999). „Psychische Gesundheit ist die Fähigkeit zur Bewältigung von Anforderungen mithilfe von Ressourcen“ (Becker 2006 zit.n. DKSB 2011, S. 18). Ressourcen und Schutzfaktoren haben eine große Bedeutung für die seelische und körperliche Gesundheit eines Menschen und Belastungen und Risikofaktoren begünstigen die Entstehung von Krankheiten (vgl. Denner 2008a, S. 20).

Das Vorhandensein von Risikofaktoren, muss nicht zwangsläufig auch zu der Entwicklung einer psychischen Störung bei Kindern und Jugendlichen führen. Der „Entwicklungsverlauf und vor allem das Gelingen von Entwicklungsübergängen im Kindesalter […] vom Vorhandensein und der Verfügbarkeit von kind- und umgebungsbezogenen Ressourcen bestimmt“ wird (Petermann/ Petermann 2011, S. 37).

Im Wechselspiel zwischen Risiko- und Schutzfaktoren des Kindes entstehen Bewältigungsstrukturen, die zur Entwicklung der Resilienz führen.

Die Risikofaktoren im Kindes- und Jugendalter (eigene Darstellung ref.n. Steinhausen 2010, S. 40 ff.):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[6]

Trotz eines hohen Risikostatus oder akuten Stressbedingungen gelingt es manchen Kindern oder Jugendlichen, die altersspezifischen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen und nützliche Erfahrungen zu sammeln. Durch diese Erfahrungen erwirbt der junge Mensch Kompetenzen und Bewältigungsstrategien, die für eine „weitere positive Entwicklung benötigt werden“ (Wustmann 2005, S. 193).

Mit Resilienz wird die psychische Widerstandskraft bezeichnet, durch die es möglich ist, besonders belastende Lebensumstände und negative Folgen von Stress unbeschadet zu überstehen (vgl. Wustmann 2005, S. 192). Resilienz ist nicht „von Geburt an vorhanden, sondern wird in den ersten Lebensjahren in der Interaktion zwischen Kind, Umwelt und Bezugspersonen erworben“ (Kirchweger 2012, S. 273). Laut Corina Wustmann lassen sich diese gesundheitsfördernden Ressourcen in individuelle und soziale Ressourcen unterteilen: Individuelle oder auch personale Ressourcen fassen alle positiven Faktoren zusammen, die direkt das Kind oder den Jugendlichen betreffen, wie z.B. ein positives Selbstkonzept, Problemlösefähigkeiten, sicheres Bindungsverhalten, hohe Sozialkompetenz, Talente, Interessen oder Hobbies. Als soziale Ressourcen werden positive Faktoren innerhalb der Familie oder der Umwelt bezeichnet. Mindestens eine stabile Bezugsperson, enge Geschwisterbindungen oder ein emotionales, positives, unterstützendes und strukturierendes Erziehungsverhalten sind Beispiele für familiäre Ressourcen. Im Umfeld finden sich Ressourcen beispielsweise in den Bildungsinstitutionen, auf kommunaler Ebene oder in positiven Peerkontakten (vgl. Wustmann 2005, S. 196).[7]

Bei Kindern und Jugendlichen sind in der Regel nicht alle Schutzfaktoren vorhanden und die einzelnen Faktoren können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Verschiedene Studien belegen dennoch, dass die „entwicklungsfördernde Bewältigung von Krisen und Belastungen am ehesten gelingt, je mehr Schutzfaktoren wirksam sind“ (Fröhlich- Gildhoff et al. 2012, S. 45).

1.3 Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit mit psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen

„Soziale Arbeit ist eine praxisorientierte Profession und eine wissenschaftliche Disziplin, dessen bzw. deren Ziel die Förderung des sozialen Wandels, der sozialen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts sowie die Stärkung und Befreiung der Menschen ist. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die Menschenrechte, gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Gestützt auf Theorien der Sozialen Arbeit, auf Sozialwissenschaft, Geisteswissenschaften und indigenem Wissen, werden bei der Sozialen Arbeit Menschen und Strukturen eingebunden, um existenzielle Herausforderungen zu bewältigen und das Wohlergehen zu verbessern“ (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit 2014).

Anhand dieser Definition wird deutlich, dass Soziale Arbeit sich für die Belange von Menschen unter Betrachtung ihrer Lebensbedingungen einsetzt, um das Wohlergehen aller zu verbessern. Die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit beziehen sich auf Bereiche der Sozialhilfe, Altenhilfe, Gesundheitshilfe, Rehabilitation, Jugend- bzw. Familienhilfe, Straffälligenhilfe und Resozialisation (vgl. Schilling/ Zeller 2010, S. 203).

Durch die veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen und die daraus resultierenden Problemlagen, hat die angemessene Versorgung von Kindern und Jugendlichen an Bedeutung gewonnen. Charakteristisch für den Aufgabenbereich der Sozialarbeiterinnen in allen Arbeitsfeldern ist, dass die überwiegend im direkten Kontakt mit den jungen Menschen und ihren Familien stehen, mit unterschiedlichen Berufsdisziplinen zusammenarbeiten und oft an Schnittstellen der Versorgung eingesetzt werden, womit sie als Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Versorgungssystemen fungieren (vgl. Denner 2008c, S. 66). Die Versorgung von psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen ist demnach eine wichtige Aufgabe der Sozialen Arbeit und „soziale Fachkräfte sind in allen Hilfesystemen vertreten, die Betreuungs-, Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen durchführen“ (Denner 2008c, S. 57).

Arbeitsbereiche in denen Sozialarbeiterinnen u.a. tätig sind:

Kinder- und Jugendpsychiatrie

In den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken bzw. Praxen und dem kinder- und jugendpsychiatrische Dienst des Gesundheitsamtes sind Sozialarbeiterinnen tätig (vgl. ebenda, S. 57 ff.). In all diesen Bereichen arbeiten Sozialarbeiterinnen mit Fachkräften anderer Disziplinen zusammen, um betroffene Kinder- und Jugendliche und ihre Eltern zu beraten und zu unterstützen. Je nach vorliegendem Tätigkeitsfeld ergeben sich unterschiedliche Aufgaben für die Sozialarbeiterinnen.

Die Jugendhilfe ist grundsätzlich für alle Kinder und Jugendlichen zuständig, doch zeichnet sich vor allem bei Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen, ein besonderer Bedarf ab (vgl. ebenda, S. 60). Die Jugendhilfe stellt Hilfs- und Förderangebote bereit. Sozialarbeiterinnen sind in vielen Bereichen der Jugendhilfe tätig, wie z.B. als Mitarbeiterin im Jugendamt, in Beratungsstellen, bei der Jugendgerichtshilfe oder in den Hilfen zur Erziehung (vgl. Trost 2013, S. 151).

Schulische Bildung

Die Schule stellt den zentralen Lebensort von Kindern und Jugendlichen dar und ist somit auch der Ort, an dem psychische Auffälligkeiten außerhalb der Familie deutlich werden (vgl. Denner 2008c, S. 63). Hilfen für psychisch gestörten Kinder und Jugendliche werden von Sozialarbeiterinnen im Rahmender Schulsozialarbeit oder auch schulischer Integrationshilfe (Schulbegleitung) angeboten (vgl. ebenda, S. 65).

Berufliche Bildung

Der Bereich der beruflichen Bildung ist im Zusammenhang mit seelisch behinderten oder von einer seelischen Behinderung bedrohten Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu einem Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit geworden. Soziale Fachkräfte arbeiten „in Beschäftigungs-, Qualifizierungs- oder Ausbildungsgesellschaften von Wohlfahrtsverbänden und Berufsbildungswerken“ (Denner 2008c, S. 66).

Kapitel 2 Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie im Überblick

Die Systeme der Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie übernehmen die größte Verantwortung bei der Versorgung von psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen. In den vergangenen Jahrzehnten sind in beiden Systemen nicht nur die Fallzahlen, sondern auch die Kooperationsanforderungen, Erwartungshaltungen und Aufgabenstellungen gewachsen (vgl. Späth 2004, S. 499). Durch die gestiegene Zahl an Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen, „resultiert die Notwendigkeit, die Versorgungssysteme für diese Kinder und Jugendlichen und ihre Familien zu betrachten und bezüglich ihrer Bedarfsdeckung und deren Kooperations- und Integrationsfähigkeit zu überprüfen (vgl. Beck/ Warnke 2009, S. 58).

Um die Kooperation beider Systeme untereinander zu überprüfen, muss eine grundlegende Auseinandersetzung mit den einzelnen Systemen und den vorliegenden strukturellen Bedingungen und Leistungen stattfinden.

2.1 Das System der Kinder-und Jugendhilfe

Nach dem ersten Weltkrieg verschlechterte sich die Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland rapide. Die Maßnahmen der vorhandenen Jugendfürsorge und der Jugendpflege reichten nicht aus, um die gesellschaftliche Krise abzuwenden (vgl. Jordan et al. 2012, S. 50). Die vorher vor allem in privaten Organisationen und auf kommunaler Ebene verortete Fürsorge, sollte daraufhin für den Staat zur gesetzlichen Pflichtaufgabe werden.

Das im Jahr 1922 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG), war die erste rechtliche Grundlage der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Struck/ Schröer 2015, S. 804). Das RJWG wurde anschließend im Jahr 1962 novelliert und in Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) umbenannt (vgl. Schone 2004, S. 29). Seit 1991 wird das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) im Achten Sozialgesetzbuch (SGBVIII) geregelt. Das System der Kinder- und Jugendhilfe ist demnach ein historisch gewachsener Bereich, der heute eine Vielzahl von Aufgaben und Institutionen umfasst und somit einen großen sozialstaatlichen Dienstleistungssektor darstellt (vgl. Struck/ Schröer 2015, S. 806).

[...]


[1] Die Begriffe Kind oder Jugendlicher werden gemäß §7 Abs. 1 SGB VIII verwendet. Ein Kind ist, wer noch nicht 14 Jahre alt ist und Jugendliche sind 14, aber noch nicht 18 Jahre alt (Familienrecht 2013, S. 241). Beide Altersgruppen werden unter dem Begriff junge Menschen zusammengefasst.

[2] Zur Vereinfachung werden in dieser Arbeit die Begriffe Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie, statt Kinder- und Jugendhilfe und Kinder-und Jugendpsychiatrie, benutzt.

[3] Die Personen und Handlungen in diesem Fallbeispiel sind frei erfunden.

[4] Die Soziale Arbeit ist heute immer noch zu einem großen Teil von weiblichen Fachkräften geprägt, weshalb zur Vereinfachung die personenbezogenen Bezeichnungen in dieser Arbeit mit der weiblichen Form versehen sind. Sie beinhalten aber selbstverständlich auch die männliche Form.

[5] Die KiGGS- Studie ist eine bundesweit repräsentative Längs-und Querschnittstudie des Robert-Koch-Instituts, die den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in Deutschland darstellt. Durch die Ergebnisse des Gesundheitsmonitorings können Aussagen über die gesundheitliche Lage getroffen werden woraufhin Präventions- und Interventionsmaßnahmen geplant werden können (vgl. Hölling et al. 2012, S. 836).

[6] Vulnerabilität drückt eine „erhöhte psychische Empfindsamkeit gegenüber Stress und Belastungen“ aus (Wörterbuch der Psychologie 2010, S. 367).

[7] Eine ausführliche Übersicht in Tabellenform findet sich in Wustmann 2005, S. 196

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Soziale Arbeit an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie
Untertitel
Möglichkeiten und Grenzen von interdisziplinärer Kooperation
Hochschule
Hochschule Hannover
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
53
Katalognummer
V438293
ISBN (eBook)
9783668784789
ISBN (Buch)
9783668784796
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jugendhilfe, Jugendpsychiatrie, interdisziplinäre Kooperation, Soziale Arbeit
Arbeit zitieren
Katharina Hitzemann (Autor:in), 2015, Soziale Arbeit an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/438293

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