Martin Luther und die Universität Erfurt. Die Bedeutung der Hierana für die Entwicklung des Reformators


Seminararbeit, 2016

44 Seiten, Note: 1,00


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: „Die Erfurter Universität ist meine Mutter, der ich alles verdanke“

2 Die Stadt Erfurt im frühen Mittelalter

3 Die Entstehung der Universität Erfurt
3.1 Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts
3.2 Die Unterscheidung zwischen „Älterem“ und „Jüngerem“ Europa
3.3 Die beiden Haupttypen von Universitäten
3.4 Die Besonderheit der Erfurter Universitätsgeschichte
3.5 Die Situation in Erfurt vor der Verleihung eines Universitätsprivilegs
3.6 Die formelle Universitätsgründung

4 Martin Luther (1483-1546)
4.1 Ausbildung vor dem Eintritt in die Universität
4.2 Studium an der Artistenfakultät der Universität Erfurt
4.3 Entscheidung gegen das Studium der Jurisprudenz
4.4 Eintritt in das Kloster der Augustiner-Eremiten
4.5 Die Zeit des Noviziats
4.6 Bestimmung zum Studium der Theologie durch den Orden
4.7 Schriftauslegung und Kampf gegen die scholastische Theologie
4.8 Chronologische Übersicht über Luthers Vorlesungen

5 Lebensskizzen einflussreicher Theologen zur Zeit Luthers
5.1 Philipp Melanchton
5.2 Georg Spalatin
5.3 Nikolaus von Amsdorf
5.4 Johannes Bugenhagen
5.5 Justus Jonas
5.6 Caspar Cruciger
5.7 Andreas Karlstadt

6 Literaturverzeichnis
A. Lexika und Nachschlagewerke
B. Autoren
C. Internetressourcen

1 Einleitung: „Die Erfurter Universität ist meine Mutter, der ich alles verdanke“

Die vorliegende Arbeit soll Martin Luther und der Universität Erfurt gewidmet sein. Die Stadt, das Kloster und die Universität waren für Leben und Werk Martin Luthers von entscheidender Bedeutung. Sein 1513 formuliertes Bekenntnis zu Erfurt - „Die Erfurter Universität ist meine Mutter, der ich alles verdanke“ - führt dies eindrucksvoll vor Augen.

Die Stadt Erfurt, eine Großstadt mit reicher Vergangenheit, starkem wirtschaftlichem und reichem kirchlichem Leben, dazu ausgestattet mit einer der bedeutendsten Universitäten seiner Zeit, wurde zu Luthers geistiger Heimat. Erfurt war der einzige Ort Mitteldeutschlands, an dem alle bedeutenderen geistlichen Orden vertreten waren. Martin Luther hat während seiner Erfurter Zeit zahlreiche Anregungen für seine spätere Entwicklung empfangen, er pflegte auch in seinem weiteren Leben enge Beziehungen zu dieser Stadt und sein Weg führte ihn auch später noch mehrmals zurück nach Erfurt.[1]

Es ist offensichtlich, dass der Reformator allgemein viel stärker mit der Universität Wittenberg in Verbindung gebracht wird als mit der viel älteren Hierana, was angesichts der Tatsache, dass er später, also in den entscheidenden Phasen seines Lebens, viele Jahre als Professor der Heiligen Schrift an der Leucorea tätig war, nicht wirklich verwundert.

Darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Erfurter Universität damals eine der bedeutendsten Universitäten Deutschlands war, und Luther bereits 1501 an der Universität Erfurt immatrikuliert wurde. In den folgenden vier Jahren, und das war in einem prägenden Lebensalter, studierte er an der Artistenfakultät die freien Künste. Dieser Zeitraum war kein geringer Teil seines Lehr- und Lebensgangs, doch „seine nachfolgende Bekehrung und sein Leben als Mönch haben diese Studienzeit für ihn selber und für spätere Betrachter völlig überschattet und als fast unwichtig erscheinen lassen.“[2]

Nach dem Abschluss an der Artesfakultät (1505 als Zweitbester zum Magister artium promoviert) wandte er sich - den Vorstellungen seines Vaters folgend - dem Studium der Jurisprudenz, ebenfalls an der Universität Erfurt, zu. Dieses Studium sollte er jedoch, infolge der weithin bekannten, angesichts der lebensgefährlichen Situation während eines Unwetters getroffen Lebensentscheidung (Gelübde: „Heilige Anna, hilf! Ich will ein Mönch werden!“), in ein Kloster einzutreten und Ordensgeistlicher zu werden, schon nach kurzer Zeit abbrechen.

2 Die Stadt Erfurt im frühen Mittelalter

Erfurt gehört zu den am frühesten genannten Plätzen Thüringens. Seine Ersterwähnung findet sich in einem Schreiben des großen angelsächsischen Missionars Winfried-Bonifatius (672/675-754) an Papst Zacharias (reg. 741-752) in Rom aus dem Jahre 742. In diesem Schreiben teilt Bonifatius dem Papst mit, er habe für die Völker Germaniens drei Bischöfe geweiht und das Land in drei Diözesen eingeteilt. Er bat um schriftliche Bestätigung dieser neuen, von Bonifatius zum Abschluss seiner 20 Jahre währenden Missions- und Organisationstätigkeit in Mitteldeutschland errichteten Bischofssitze. Bei den genannten drei Bistümern handelte es sich um Würzburg für Mainfranken, Büraburg bei Fritzlar für die Hessen und Erfurt für die Thüringer.[3]

Am 1. April 743 entsprach Papst Zacharias der Bitte seines Legaten und Missionserzbischofs und bestätigte die drei neuen Bischofssitze. Doch hob nach wenigen Jahren wahrscheinlich noch Bonifatius selbst die Bistümer Erfurt und Büraburg wieder auf und vereinigte sie mit der Diözese des Bistums Mainz, dessen Leitung er 746/747 übernommen hatte. Mit dieser Entscheidung begründete er die künftige Ausdehnung des Mainzer Erzbistums vom Mittelrhein bis zur Saale und ebenso für die später so bedeutende Rolle der Erzbischöfe von Mainz in der hessischen und thüringischen Geschichte. Einzig das Würzburger Bistum hatte dauerhaft Bestand.[4]

Bonifatius bat den Papst um schriftliche Bestätigung der drei oppida sive urbes, die er als Bischofssitz festgelegt hatte. Näherhin bedient er sich der Formulierungen in castello, quod dicitur Uuirzaburg (im „Kastell“, das Würzburg genannt wird), in oppido, quod nominatur Buraburg (im „Oppidum“, das Büraburg genannt wird), und in loco, qui dicitur Erphesfurt (in dem „Ort“, der Erfurt genannt wird), qui fuit iam olim urbs paganorum rusticorum (der schon seit langer Zeit eine „Urbs“ der heidnischen Landleute - oder der ländlichen Heiden - war). Abschließend fasst er die drei Plätze zusammen als haec tria loca (diese drei „Orte“).[5]

Im Antwortschreiben des Papstes wird zur Kenntnis genommen, dass Bonifatius drei Bischöfe per loca singula eingesetzt und um Bestätigung ihrer Sitze gebeten habe. Der Papst spricht die Bestätigung aus und wiederholt dabei die Begriffe aus dem Schreiben des Bonifatius für die je einzelnen Sitze, nur der Zusatz „Urbs“ der heidnischen Landleute wird nicht wieder aufgenommen.[6]

Dem Papst wird bewusst gewesen sein, dass die ausgewählten Bischofssitze im Grunde nicht den kanonischen Vorschriften entsprachen. Dieser Rückschluss kann aus weiteren Passagen des Papstschreibens gezogen werden. Dabei bezieht sich der Papst - teils inhaltlich, teils wörtlich - auf Canon 6 der Beschlüsse des Konzils von Serdica aus dem Jahre 342/343. Diese Vorschrift besagt, „Bischöfe seien weder einzusetzen in einem Dorf (in vico aliquo) noch in einer kleinen Stadt (in modica civitate), für die ein einzelner Priester genüge, […] weiterhin, daß Bischöfe nur in solchen Städten eingesetzt werden sollen, die bereits früher Bischöfe besessen hatten, oder wenn die Stadt derart oder so volkreich ist, daß sie verdient, einen Bischof zu haben.“[7]

Die Formulierungen in dem Papstschreiben entsprechen der lateinischen Fassung der Beschlüsse des Konzils von Serdica, die in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts Dionysius Exiguus in seine Canones-Sammlung aufgenommen hatte. Vermutlich wurden die Beschlüsse des Konzils von Serdica sogleich sowohl lateinisch als auch griechisch protokolliert.[8]

Man könnte meinen, dass die Worte des Papstes einen skeptischen Vorbehalt an dem Projekt der Bistumsgründungen zum Ausdruck bringen, indessen handelt es sich wohl vielmehr um „die amtliche Äußerung des für die Beachtung der kirchlichen Rechtsvorschriften Verantwortlichen, zu der er sich bei einer derart grundlegenden Frage wie der dauernden, rechtsverbindlichen Bestätigung neuer Bistümer verpflichtet sah.“[9]

3 Die Entstehung der Universität Erfurt

3.1 Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts

Die erste Universität des Reiches wurde 1348 in Prag gegründet; es folgten Wien (1365/83), Heidelberg (1386), Köln (1388), Erfurt (1392), Leipzig (1409), Rostock (1419) und Löwen (1425). Eine zweite Gründungswelle setzte nach der Jahrhundertmitte ein: Greifswald (1456), Freiburg i. Br. (1457), Basel (1459), Ingolstadt (1472), Trier (1473), Mainz (1477), Tübingen (1477), Wittenberg (1502), Frankfurt an der Oder (1506).[10] Universitäten wurden in diesem Zeitraum auch in Polen (Krakau 1364/97), in Ungarn (Pecz/Fünfkirchen 1367; Bude 1475), in Skandinavien (Uppsala 1477, Kopenhagen 1479) und Schottland (Saint Andrews 1412; Glasgow 1451; Aberdeen 1495), ferner in Frankreich, Spanien und Portugal gegründet, dagegen kaum in Italien und gar nicht in England. Insgesamt sind bis zum Jahr 1499, als Ludwig XII. der Pariser Universität ihre Privilegien aberkannte, im lateinischen Europa etwa 60 Universitäten entstanden.[11]

Wenn man von den Jahren seit 1960 absieht, wurden in Deutschland niemals so viele Universitäten gegründet wie im 15. Jahrhundert. Und damals stieg mit der Zahl der Hochschulen auch die Anzahl der Immatrikulierten. Nach vorsichtigen Schätzungen haben in der Zeit von der Mitte des 14. bis Anfang des 16. Jahrhunderts insgesamt etwa 250.000 deutsche Studierende die 16 Universitäten des Reiches sowie Frankreichs und Italiens (sowie Krakaus) besucht. Nach dem - lange fortwirkenden - Einbruch zur Zeit der Reformation wurden die Zahlen des späten 15. Jahrhunderts erst im 19. Jahrhundert wieder wesentlich überschritten.[12]

In den allermeisten Fällen waren die Gründer der neuen Universitäten die Landesfürsten. Daher stellt sich die Frage, was die Landesfürsten veranlasste, die Mühen und Kosten einer solchen Gründung auf sich zu nehmen? Wenngleich auch andere Argumente genannt werden könnten, ist evident, dass die Fürsten durch die Gründung einer Universität jedenfalls zusätzliche Berater gewinnen konnten, an deren Kompetenz sie interessiert waren. Sie betrachteten die Professoren als ihre Räte. Neben Kirchenreform-Bemühungen ist an die Reputation zu denken, zumal die Universität zu den Kennzeichen eines entwickelten Territoriums gerechnet worden sein mag.[13]

Was es nicht gab, war eine einfache Entsprechung von fürstlichen Einkünften und Universitätsgründungen - ebensowenig wie eine Übereinstimmung zwischen den Regionen, aus denen viele Studenten kamen, und den Standorten der Hochschulen.[14] Auch die Frage, wie lange das Studium dauerte, wie es abgeschlossen wurde und vor allem, was es für die spätere Karriere bewirkte, ist schwer zu beantworten. Obwohl es mittlerweile gelungen ist, den Lebensweg von - prominenten - Universitätsabsolventen weiter zu verfolgen und deren Karriereverläufe als juristische Berater an den Fürstenhöfen, in städtischen Kanzleien und Schulen oder als Ärzte zu beschreiben, können diese Beispielskarrieren kaum verallgemeinert werden. Hier und da erfahren wir auch, welchen Chancen ein Theologiestudium im späten Mittelalter bot.[15]

Von einem formalisierten Zugang kann zu jener Zeit keine Rede sein: man ging auf die Universität, wenn man es sich zutraute und leisten zu können meinte. Auch eine Entsprechung von Studium und Lebensstellung gab es nicht. Zudem beschränkten sich die meisten Studenten auf das Studium der Artisten-, also der Basis-Fakultät, und kamen auch hier nicht zum Magister-Examen. „Mit aller Vorsicht lässt sich annehmen, daß der Anteil der Geistlichen, die einige Semester lang studiert hatten, mit dem Anstieg der Studentenzahlen wuchs. Von Region zu Region ist hier freilich - abhängig von der Nähe zu einer Universität - mit großen Unterschieden zu rechnen. Auch für Adlige wurde eine allgemeine akademische Grundausbildung immer selbstverständlicher, doch andererseits verspürte der Adel nur geringe Neigung, auch akademische Grade zu erwerben.“[16]

Man kann davon ausgehen, dass selbst in Domkapiteln haben nur die Inhaber von Führungspositionen akademische Abschlüsse vorzuweisen gehabt haben, während die Mehrzahl der adligen Mitglieder - wie ihre weltlichen Standesgenossen - eher eine bescheidene Ausbildung genossen haben dürfte.[17]

Vor allem von den Lehrern an den städtischen Schulen mögen viele eine Zeitlang studiert haben. An den höheren Fakultäten war die Jurisprudenz das beliebteste Studium und auch im 15. Jahrhundert erwarben Juristen ihren Studienabschluss häufig an einer italienischen Universität. Das Theologie- und Medizinstudium ergriffen nur wenige. Die Universitäts-Medizin war eine von der Heilkunde weit entfernte akademische Wissenschaft. Dieser Akademismus-Vorwurf kann auch gegenüber der Theologie erhoben werden. Wobei karrierebewusste Kleriker, die studieren wollten, sich besser gleich dem geistlichen Recht zuwandten. Mit dem Vordringen des römischen Rechts wuchs die ohnehin vorhandene Attraktivität des Rechtsstudiums, auch wenn die These der Juristen, wonach der Träger des akademischen Grades doctor legum dem Adligen gleichzustellen sei, weitgehend Anspruch blieb.[18]

Was hat es mit der Vermutung auf sich, die spätmittelalterlichen Universitäten hätten in erheblichem Umfang die Überwindung von Herkunftsschranken ermöglicht? Diese Vermutung hat sich als irrig erwiesen. „Aufs Ganze gesehen bestätigte das Studium den Status, den der Immatrikulierte mitbrachte.“[19]

Die Vielzahl der territorialen Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts resultiert aus einer spezifischen Machtkonstellation jenes Zeitalters. Der Konziliarismus des 15. Jahrhunderts, welcher der monokratischen Autorität des Papstes ein korporatives Kirchenverständnis entgegensetzte, das die Unterordnung der Konzilien unter die Autorität des Papstes abstritt, wies Analogien zur gleichzeitig entstehenden Regelung des Verhältnisses von Kaiser und Reich auf, in der die Stände als korporative Elemente ihren konstitutiven Platz zu behaupten versuchten.[20]

Nicht richtig wäre es, deswegen anzunehmen, dass einerseits Konzilien und Territorialfürsten gemeinsam für korporative Konzepte eintraten und andererseits Papst und Kaiser demgegenüber hierarchisch-autokratische Modelle vertraten. Vielmehr stellten sich die Koalitionen gleichsam über Kreuz her: Die Päpste stärkten die Territorialfürsten in ihrer Position gegenüber dem Kaiser, indem sie ihnen zahlreiche Privilegien verliehen; das ist der Ansatzpunkt, aus welchem die zahlreichen Universitätsgründungen jener Zeit erklärt werden können. Umgekehrt stärkten folgerichtig die Kaiser die konziliare Bewegung gegen das Papsttum, wobei sie die Konzilien als Machtinstrumente gegen den Papst zu instrumentalisieren versuchten.[21]

In Erfurt kam es - vielleicht schon im 13., sicher im 14. Jahrhundert - zur Bildung einer hohen Schule, „deren Lebensformen den Generalstudien glichen und die auch den Anspruch erhob, ein Generalstudium zu sein.“[22] Diese hohe Schule ging aus einem Zusammenschluss dreier in Erfurt schon lange bestehender Schulen mit höherer Bildung, die dem Marien- und Severistift und dem Benediktinerkloster St. Peter angeschlossen waren, mit weiteren im 13. Jahrhunder entstandenen Klosterschulen unter einem rector superior zu einem studium generale hervor.[23]

Neben diesem aus den Erfurter Stifts- beziehungsweise Klosterschulen herausgewachsenen philosophischen Studium bestanden in Erfurt nebeneinander Generalstudien der drei großen Bettelorden, der Dominikaner (seit 1229), der Franziskaner (seit 1224) und der Augustiner-Eremiten (seit 1266/76). Ein derartiger Reichtum an Generalstudien fand sich nur in sehr wenigen deutschen Städten. Dieses hat als vorerst einmalig in Deutschland zu gelten.[24]

Für die Zentren der Ordensprovinzen waren ordensinterne Studienanstalten vorgeschrieben worden, an die die intelligentesten Brüder entsandt werden sollten. Es waren Studien, die die jeweilige Ordenstradition und die jeweilige Ordenstheologie betonten und die gleichsam nach innen gewandt waren. In aller Regel ließen sie nur Ordensangehörige zu. In einem eigentümlichen Verhältnis standen die Bettelorden zu den nicht viel älteren Universitäten.[25]

Zwar wurde die Theologie beiderseits mit Leidenschaft betrieben, doch waren lange Zeit, in Deutschland bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts hinein, ausreichend qualifizierte weltgeistliche Lehrer der Theologie nicht in genügender Zahl vorhanden. So kam es zu dieser eigentümlichen Konstruktion des sich Ineinanderschiebens von Ordensstudien und Universitäten in der Theologie.[26]

Aus heutiger Sicht erweist sich diese Konstruktion als Sackgasse der Universitätsgeschichte, doch war das damals noch nicht erkennbar. Vielmehr entsprach es dem Pariser Vorbild und war daher völlig normal, dass die Ordensleute auch an den Theologischen Fakultäten - wenigstens am Anfang - führend waren. Es stand für Prag am Beginn der Universitätsgeschichte kein einziger weltgeistlicher Theologieprofessor zur Verfügung. Erst nach beträchtlichen Auseinandersetzungen kam es nach einigen Jahrzehnten zu einem Gleichstand - zu einem Verhältnis von drei zu drei sowohl in Prag wie in Erfurt. Die Ordensprofessoren kosteten nichts, weil sie im Kloster lebten und lehrten.

Auch Martin Luther, in Erfurt ausgebildet, wurde - als Augustiner-Eremit - ein Professor dieser Art an der kleinen und armen Universität Wittenberg. Demgegenüber mussten weltgeistliche Professoren genauso mit einer Pfründe ausgestattet werden, wie es an den übrigen Fakultäten der Normalfall war. Die Zahl der verfügbaren Pfründen deckte aber - zumindest im rechtsrheinischen Deutschland - niemals den Bedarf. Dennoch war dieses System und nicht das der Ordensstudien zukunftsweisend. Denn gerade aus der Pfründe entstand der Lehrstuhl, die grundlegende und letztlich überaus erfolgreiche, da extrem flexible Kerneinheit des europäischen Hochschulwesens.[27]

Die Verflechtung mit der Mutteruniversität in Paris, wo zu einem großen Teil die künftigen Professoren studiert oder gar gelehrt haben, sicherte in den Ordensstudien die Einheit der Thematik und Auffassung (in der nach Orden gegliederten Vielheit) und wohl auch eine Mindestqualität. Der Dominikaner Meister Eckhart (gest. 1328 oder vor 1328) war ein besonders namhafter unter den Erfurter Ordensstudenten, aber auch der Augustiner-Eremit Heinrich von Friemar der Ältere (gest. 1340) ist erwähnenswert. Im Studium der Dominikaner zu Köln hatte Thomas von Aquin zu Füßen Alberts des Großen gesessen. Alle vier sind zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens Professoren in Paris geworden.[28]

Bezogen auf die Ausgangslage der Erfurter Universitätsgeschichte heißt das in etwa folgendes: In Erfurt stand ein Element des kommenden Universitätsbetriebs bereits zur Verfügung. Von den Ordensstudien ausgehende, auf eine Universitätsgründung ausgerichtete Aktivitäten sind freilich nicht bekannt und wohl auch nicht wahrscheinlich, weil die - gewissermaßen internationalen - Systeme der Bettelorden je für sich schon generationenlang gut funktioniert hatten. Was diesen allerdings fehlte, war das über die ordensinterne Qualifizierung hinausgehende allgemeine Graduierungsrecht.[29]

Als um 1365 die Universität Prag aufblühte, zog sie innerhalb weniger Jahre das wissenschaftliche Personal von Erfurt ab, da sie als universitas privilegiata den Gelehrten neue Möglichkeiten der akademischen Karriere bieten konnte - insbesondere die Aussicht auf den Erwerb vollgültiger akademischer Grade an allen Fakultäten. Die in Erfurt zurückgebliebenen alten Stiftsschulen verkümmerten in der Folge zu Grundschulen für den Lateinunterricht.[30]

3.2 Die Unterscheidung zwischen „Älterem“ und „Jüngerem“ Europa

Zusammenfassend kann man die Anfänge der Geschichte der europäischen Universitäten einem universalen Zeitalter zurechnen, vor allem weil sich das allzuständige Papsttum auch für sie verantwortlich gefühlt hat. Diese Aussage bezieht sich auf das 12., 13. und den größten Teil des 14. Jahrhunderts. Die Universität Erfurt hat diesem Zeitalter daher nicht mehr angehört, sehr wohl aber taten dies ganz am Ende noch die Prager Universitäten und in gewisser Hinsicht die sehr respektablen Erfurter Schulen vor der Universitätsgründung. Damit wird durchaus etwas Besonderes mitgeteilt. Denn in jenem Zeitalter, das hier als universales bezeichnet wird, und welches bis zum Auseinanderbrechen der Papstkirche im Großen Schisma von 1378 andauert, gab es - als Selbstverständlichkeit - Universitäten allein im Älteren Europa; das heißt in jenem direkt oder indirekt von römisch-antiker Tradition geprägten Süden und Westen des Kontinents, einem Raum, der vom inneren Deutschland aus gesehen links des Rheins und südlich der Alpen, in gewisser Weise auch südlich der Donau lag.[31]

Man könnte diesen geographischen Raum auch als begünstigtes Europa bezeichnen, wobei zu fragen ist, welche Kriterien zu dieser Begünstigung beitrugen? Zu nennen sind hier vor allem: die dichtere Bevölkerung, größere Städte, eine vorwiegend gebildete und ausgebildete statt einer vorwiegend adeligen Kirche, ein weitaus höheres Maß an Schriftlichkeit, ein modernes Geldwesen, immer wieder größere soziale Mobilität und eben die Existenz von Universitäten seit dem späten 12. Jahrhundert. Diese Kriterien machten das begünstigte Europa aus. Das Jüngere Europa entspricht sohin dem Gebiet rechts des Rheins und nördlich der Donau. Dort war man auf mühsame Ausgleichs- und Beschleunigungsvorgänge angewiesen, um nach und nach aufzuholen.

In seiner wichtigsten Residenz Prag ist von dem Luxemburger Karl IV. (reg. 1346/1347-1378), damals „König der Römer und der Böhmen“, aus politisch-dynastischen Gründen im Jahr 1348 eine Universität gleichsam in fremdes Erdreich - „bis dahin besaß Deutschland und der ganze Osten Europas keine Universität“[32] - eingepflanzt worden. Zu dieser Gründung einer Universität in seinem Stammland Böhmen veranlassten ihn, der selbst eine Ausbildung in Paris erhalten hatte, „sowohl seine hohe Achtung vor der Bedeutung der Wissenschaft wie auch politische Erwägungen, die ihm eine geistige Unabhängigkeit besonders von den politischen Ideen, die von den ausländischen Universitäten ausgingen, nahelegten.“[33]

Das Finden geeigneter Lehrer für die neue Universität war nicht einfach, sodass von einem regulären Betrieb für die untere Fakultät der „Artisten“-Philosophen kaum früher als um 1360 und für die höheren Fakultäten der Theologie, Kanonistik und Medizin nicht eher als um 1370 die Rede sein kann.[34] Indessen gewann Prag bald eine überragende Bedeutung für das ganze deutsche Reich. Sowohl Hanseaten als auch Thüringer frequentierten von nun an vor allem die Prager Universität. Hermann Winterswich, der in Prag als magister in artibus lehrte und zugleich Theologie studierte, promovierte als erster Weltpriester 1376 in Prag zum Doktor der Theologie.[35]

Wäre es nach entwicklungsgeschichtlichen Standards gegangen und nicht nach politisch-dynastischen Kriterien, „hätte der Standort der ersten deutschen Universität Köln sein müssen, die damals größte deutsche Stadt und einzige wirkliche deutsche Großstadt im ‚Älteren Europa‘, die mit nahezu allen entsprechenden Ausstattungstücken versehen war.“[36]

Das national -regionale Zeitalter der europäischen Universitätsgeschichte setzte dann mit der Kirchenspaltung von 1378 ein, einem fundamentalen Datum nicht nur für Erfurt, und währte - jedenfalls in Deutschland - zunächst bis zur Reformation. Die Erfurter Universität gehörte diesem Zeitalter seit ihrem Beginn an.

Anfangs herrschte keinesfalls ein Konsens darüber, was eine Universität sei. Vielmehr standen am Anfang spezialisierte Lehrer-Schüler-Verhältnisse, die nach und nach institutionalisiert und - angesichts von Konflikten mit äußeren Kräften - privilegiert worden sind. Der vereinheitlichende Begriff „Universität“ wurde später übergestülpt und ist bestenfalls geeignet, das Erkennen damaliger Realitäten zu beeinträchtigen.[37]

3.3 Die beiden Haupttypen von Universitäten

Die beiden Haupttypen von Universitäten, die es am Anfang gab, sind in jeder Hinsicht fast unvereinbar gewesen: der eine Typus entstand in Italien, genauer gesagt: in der norditalienischen Großstadt, und etwas später auch in Südfrankreich, war sozial höherrangig, widmete sich praktisch nur der Juristenausbildung und findet sein Urbild in Bologna; der andere Typus wird von der Universität in Paris verwirklicht, ganz ähnlich bald auch in Oxford und Cambridge, war sozial nachrangig oder auch diffus, und richtete sich auf die Fächer der späteren philosophischen Fakultät und auf die damit eng verbundene Theologie, wobei es hier Verknüpfungen mit der nordfranzösischen und englischen Kirche gab.[38]

Die beiden hier zugrundeliegenden Lebenswelten, das höchst komplexe, rationale und säkulare öffentliche Leben in den norditalienischen Städten, das der Jurisprudenz bedurfte, und die nicht weniger rationale, ja intellektuelle - aber nicht zwingend urbane - nordfranzösische und englische Kirche, bestanden weder in Prag noch anderswo rechts des Rheins. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass in Prag zwei Universitäten erwuchsen, eine Universität der Juristen nach dem Vorbild Bolognas und eine Universität vorwiegend für die Philosophen (und darin eingeschlossen die Theologen und zahlenmäßig unbedeutenden Mediziner) als Kopie von Paris, die schon 1409/1417 wieder zugrunde gegangen sind. Erst die Töchter Prags, in Wien, Heidelberg, Köln und Erfurt, dann in Leipzig, Rostock usw. vereinten unter ihren Dächern alle vier Fakultäten, „weil man sich Alternativen nicht leisten konnte.“[39] Auf diese Weise entstand - in der Mitte des Kontinents - das dritte Modell der Universität und entwickelte eine ungeheure Nachwirkung: fast alle europäischen Universitätsgründungen der klassischen Zeit sind im Kern Vierfakultätenuniversitäten.[40]

Immens wichtig für das Hochschulwesen des Kontinents und besonders für dasjenige des Jüngeren Europa war die Folgewirkung der - aus Erfurter Perspektive - gänzlich zufällig eingetretenen Konstellation von zwei Päpsten, wie sie das Spätjahr 1378 mit sich gebracht hatte. Die Zäsur von 1378 ist vergleichbar wohl nur noch mit dem Sprung in der Universitätsgeschichte nach vorn seit etwa 1800/1810, als sich annähernd gleichzeitig, wenn auch aus verschiedenen Motiven, in Deutschland und anderswo Fundamentales zu ändern begann. Was damals wohl kaum jemand hätte erkennen können, da erst wir aus rückwärtsgewandter Perspektive in der Lage sind, es zu erkennen, war die völlig ungeklärte, ja ungestellte Frage, wie es denn überhaupt mit der Universitätsgeschichte Europas weitergehen solle. Auf diese Frage gibt das Schisma von 1378 eine Antwort.[41]

[...]


[1] Vgl. dazu die URL: http://www.erfurt.de/ef/de/erleben/besuch/luther/index.html (Abruf: 14. Juli 2016).

[2] Friedenthal, Richard, Luther. Sein Leben und seine Zeit, München 1997, 22.

[3] Heinemeyer, Karl, Erfurt im frühen Mittelalter, in: Weiß, Ulman (Hg.), Erfurt. Geschichte und Gegenwart, (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Band II), Weimar 1995, [45]-66, [45].

[4] Heinemeyer, Erfurt, 46.

[5] Heinemeyer, Erfurt, 47.

[6] Heinemeyer, Erfurt, 47f.

[7] Heinemeyer, Erfurt, 48f.

[8] Heinemeyer, Erfurt, Fußnote 20.

[9] Heinemeyer, Erfurt, 49.

[10] Wolgast, Eike, Universität. 1. Mittelalter, in: TRE 34 (2002), 354-358, 356.

[11] Imbach, Ruedi/Thomas Ricklin, Universität. I. Geschichte der Universität im Mittelalter, in: LThK3, Zehnter Band, 420-423, 420.

[12] Boockmann, Hartmut/Heinrich, Dormeier, § 21 Schulen, Universitäten, Gelehrte, in: Haverkamp, Alfred (Hg.), Abschnitt X, Konzilien, Kirchen- und Reichsreform (1410-1495), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, Band 8, Stuttgart 2005, 197-204, 199f.

[13] Boockmann/Dormeier, § 21 Schulen, 201.

[14] Ebda.

[15] Boockmann/Dormeier, § 21 Schulen, 202.

[16] Ebda.

[17] Boockmann/Dormeier, § 21 Schulen, 202f.

[18] Boockmann/Dormeier, § 21 Schulen, 203.

[19] Boockmann/Dormeier, § 21 Schulen, 204.

[20] Schnabel-Schüle, Helga, Die Reformation 1495-1555. Politik mit Theologie und Religion, Stuttgart 2006, 36f.

[21] Schnabel-Schüle, Reformation, 37.

[22] Kaufmann, Georg, Geschichte der deutschen Universitäten, Band II, Entstehung und Entwicklung der deutschen Universitäten bis zum Ausgang des Mittelalters, Stuttgart 1896 (Neudruck: Graz 1958), [1].

[23] Blaha, Walter/Metze, Josef, Kleine illustrierte Geschichte der Universität Erfurt. 1392-1816, Erfurt 1992, 7.

[24] Moraw, Peter, Die ältere Universität Erfurt im Rahmen der deutschen und europäischen Hochschulgeschichte, in: Weiß, Ulman (Hg.), Erfurt. Geschichte und Gegenwart, (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Band II), Weimar 1995, [189]-205, 197.

[25] Ebda.

[26] Ebda.

[27] Ebda.

[28] Moraw, Universität, 198.

[29] Ebda.

[30] Gramsch, Robert, Erfurt - Die älteste Hochschule Deutschlands. Vom Generalstudium zur Universität, Erfurt 2012 (= Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt), [35].

[31] Moraw, Universität, 193.

[32] Kleineidam, Erich, Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt im Mittelalter 1392-1521, Teil I: 1392-1460, Leipzig 1964 (= Erfurter theologische Studien. Im Auftrag des philosophisch-theologischen Studiums Erfurt. Herausgegeben von Erich Kleineidam und Heinz Schürmann, Band 14), 1.

[33] Ebda.

[34] Moraw, Universität, 193.

[35] Kleineidam, Universitas I, 2.

[36] Moraw, Universität, 193.

[37] Moraw, Universität, 194.

[38] Ebda.

[39] Ebda.

[40] Moraw, Universität, 195.

[41] Moraw, Universität, 201.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Martin Luther und die Universität Erfurt. Die Bedeutung der Hierana für die Entwicklung des Reformators
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Historische Theologie)
Veranstaltung
Seminar: Ökumene lernen und ökumenische Erkundungen (Eisenach und Erfurt)
Note
1,00
Autor
Jahr
2016
Seiten
44
Katalognummer
V438689
ISBN (eBook)
9783668790636
ISBN (Buch)
9783668790643
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Universität Erfurt, Universitätsgründungen, Martin Luther, Universitätsprivileg, Artistenfakultät, Augustiner-Eremiten
Arbeit zitieren
Mag. Siegfried Höfinger (Autor:in), 2016, Martin Luther und die Universität Erfurt. Die Bedeutung der Hierana für die Entwicklung des Reformators, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/438689

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