Probleme der zweisprachigen Kinder im Vorschulalter


Mémoire (de fin d'études), 2005

93 Pages, Note: 1,6


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Wie kommt das Kind zur Sprache?
1.1 Stufenförmige Entwicklung der Sprache
1.2 Merkmale des Spracherwerbs
1.3 Bedeutung und Funktion der Sprache für Kinder
1.4 Kommunikative und egozentrische Funktion der Kindersprache
1.5 Bedeutung der non-verbalen Kindersprache

2. Zweisprachigkeit
2.1 Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft
2.1.1 Historischer Rückblick
2.1.2 Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität
2.1.3 Kulturelle Identität
2.1.4 Mehrsprachigkeit heute
2.2 Zweisprachigkeit in der Wissenschaft
2.2.1 Versuch einer operationalen Definition
2.2.2 Kategorisierung der Zweisprachigkeit
2.2.3 Zweisprachigkeit in der Wissenschaft
2.2.3.1 Entwicklungsstufen bei einem Doppelspracherwerb
2.2.3.2 Entwicklungsstadien beim Zweitspracherwerb
2.2.4 Kontrastiv- und Identitätshypothese
2.3 Bedeutung der Erstsprache für die Zweisprachigkeit
2.3.1 Zum Begriff der Muttersprache
2.3.2 Erstsprache in den ersten Lebensjahren
2.3.3 Erstsprache als Vorteil

3. Probleme der zweisprachigen Kinder
3.1 Zweisprachigkeit als Abweichung
3.2 Zweisprachigkeit und Intelligenzentwicklung
3.3 Psychologische Probleme
3.3.1 Bedeutung der Zweisprachigkeit für den Prozess der kindlichen Identitätsentwicklung
3.3.2 Stigmatisierung bei Kindern
3.3.2.1 Sprachliche Stigmatisierung bei Kindern
3.3.3 Psychologischer Aspekt des Stotterns
3.3.4 Sprachlosigkeit im Kindergarten
3. 4 Linguistische Probleme
3.4.1 Anzeichen der instabilen zweisprachigen Kompetenz
3.4.2 Sprachwahl und Kodewechsel bei Kindern
3.4.3 Interferenz
3.4.4 Probleme der richtigen Zuordnung
3.5 Bildungspolitische Probleme
3.5.1 Doppelte Halbsprachigkeit
3.5.1.1 Kritik und der bildungspolitische Aspekt
3.6 Aussichten für die Schulzeit der halbsprachigen Kinder

4. Sprachförderung
4.1 Konzepte zur Sprachförderung zweisprachiger Kinder im Kindergarten
4.1.1 Defizittheorie
4.1.2 IFP-Modell
4.1.3 Fortbildungskurse für Erzieherinnen

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Erklärung

Einleitung

Die Zahl der Menschen, deren Muttersprache nicht mit der Sprache des Landes, in dem sie leben, identisch ist, nimmt weltweit regelmäßig zu. Immer mehr Kinder wachsen zwei- oder mehrsprachig auf, weil sie mehr als nur eine Sprache benötigen, um sozial agieren zu können. Die zunehmende weltweite Mobilität ist das Resultat verschiedener Faktoren, wie beispielsweise Reisen, Studien- bzw. Aufenthalten aus beruflichen Gründen im Ausland oder der Zwang, das eigene Land aus politischen, religiösen oder ökonomischen Gründen verlassen zu müssen. Als Konsequenz aus dieser gesteigerten Mobilität ergibt sich für viele Kinder die Möglichkeit des bilingualen Erstspracherwerbs bzw. des natürlichen Zweitspracherwerbs.

Bereits 1967 hat Ruke-Dravina die Tendenz einer zunehmenden Mehrsprachigkeit in der modernen Gesellschaft erkannt und eine pluralistische Haltung gefordert:

„Da die Mehrsprachigkeit sich m. E. in der Zukunft in allen Ländern weiter und weiter verbreiten wird und ein Kennzeichen der zukünftigen Gesellschaft darstellt, geht es nicht an, die Erscheinung abzustreiten oder zu verhindern. Statt dessen wäre es mehr am Platz, den negativen Einfluß des sozial-psychischen Zwanges, wo dieser noch vorkommt und zuweilen ernsthafte psychische Hemmungen und Störungen verursacht, zu mildern oder ganz zu eliminieren.“ (Ruke-Dravina 1967, S.99f)

Der sozial-psychische Zwang ist unter anderem auf die Doktrin des Nationalstaates „une nation, une culture, une langue“, die seit der französischen Revolution in Europa verbreitet ist und auf sprachlicher Ebene die „Einheitssprachenideologie“ (Bartsch 1993, S. 4) hervorgebracht hat, zurückzuführen. Diese äußert sich in der Auffassung, „der Mensch sei im Grunde einsprachig, Zweisprachigkeit sei nur von der gesellschaftlichen Elite zu bewältigen, und die gleich gute Beherrschung zweier Sprachen überfordere das durchschnittliche Kind“ (Stölting 1980, S. 15). Dabei handelt es sich bei dem Phänomen Zweisprachigkeit weder um etwas Geheimnisvolles noch um etwas Exotisches, sondern um einen der möglichen Normalfälle.

Die Wurzeln dieser negativen Einstellungen zur Zweisprachigkeit sind in ideologisch gefärbten Veröffentlichungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu finden. Sie ziehen sich bis heute, oft in versteckter Form durch die pädagogische und psychologische Literatur (vgl. z. B. Wieczerkowski 1965, S. 41), in denen man den Zweisprachigen unter anderem Orientierungslosigkeit und eine gespaltene Persönlichkeit nachsagt.

Damit die Fragen über die angenommene negative Wirkung der Zweisprachigkeit geklärt und somit ideologisch bedingte Hindernisse abgebaut werden können, wird in dieser Arbeit hauptsächlich auf potentielle Probleme bei Vorschulkindern eingegangen. Diese sind linguistischer, psychologischer und gesellschaftlicher Natur und treten komplex auf und interagieren untereinander.

Im ersten Kapitel (1.) wird der Erwerb der Erstsprache dargestellt. Dabei wird im Speziellen auf die stufenförmige Sprachentwicklung (1.1) und die Merkmale des Spracherwerbs (1.2) eingegangen. Die Bedeutung (1.3) und Funktion der Sprache (1.4) in ihren verschiedenen Formen (1.5) werden in den folgenden Unterkapiteln behandelt. Das hier vermittelte grundlegende Wissen dient einem kompetenten Einstieg in das Thema Zweisprachigkeit.

Diese wird im folgenden Kapitel (2.) ausführlich behandelt. Das erste und zweite Subkapitel beschreiben die Zweisprachigkeit im gesellschaftlichen (2.1) und wissenschaftlichen Kontext (2.2), dabei wird unter anderem auf kulturelle Identität mit sozialer Mehrsprachigkeit im Hintergrund und auf die in der vorliegenden Arbeit verwendete Terminologie und Kategorisierung der Zweisprachigkeit im Hinblick auf die unterschiedlichen Erwerbssituationen eingegangen. Nach der Erläuterung der Theorien, die im Rahmen des Zweitspracherwerbs diskutiert werden, folgt eine ausführliche Auseinandersetzung (2.3) mit der Bedeutung der Muttersprache des Kindes für seine bilinguale Sprachentwicklung.

Das dritte Kapitel (3.) beschäftigt sich neben der Situation der zweisprachigen Kinder in Deutschland (3.1) und der Auswirkung der Zweisprachigkeit auf die kindliche Intelligenz (3.2) hauptsächlich mit der Darstellung der Probleme, die bei zweisprachigen Kindern zu beobachten sind. Dabei entstehen drei Subkapitel, unter denen die Probleme nach den Aspekten, die diese bedingen, zusammengefasst sind.

Das dritte Unterkapitel (3.3) beschreibt mögliche Störungen in der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung des Kindes, die sich in erster Linie aus der Stigmatisierung aufgrund seiner Zweisprachigkeit resultieren. Dabei wird kurz der psychologische Auslösefaktor der Sprachunflussigkeit wie Stottern und prägende Sprachlosigkeit infolge des Kindergartenseintritts umrissen.

Im folgenden Subkapitel (3.4) wird eine grammatische Begründung der Sprachabweichungen dargestellt. Es werden zunächst die Anzeichen der instabilen zweisprachigen Kompetenz beschrieben und anschließend die Problematik der Sprachwahl und des Kodewechsels, der gegenseitigen Durchdringung und des richtigen Zuordnens beider Sprachen behandelt.

Darauf folgend (3.5) wird die häufigste und vor allem die bekannteste Begleiterscheinung des Bilingualismus, die „Doppelte Halbsprachigkeit“, im bildungspolitischen Kontext behandelt. Ergänzend wird ein gedanklicher Sprung in die schulische Zukunft der betroffenen Kinder gewagt.

Die Ausführungen der hier vorliegenden Arbeit befassen sich anschliessend (4.) mit der Förderung sowohl der Erst-, als auch der Zweitsprache der bilingualen Kinder, in deren Rahmen zwei konkrete Konzepte vorgestellt werden.

Im letzten Kapitel (5.) werden entsprechend die Zusammenfassung und eine Quintessence dieser Arbeit formuliert.

1. Wie kommt das Kind zur Sprache?

Zweisprachigkeit ist ein vielschichtiges Thema, in dessen Zentrum aber vor allem die Sprachen mit deren Wechselbeziehungen stehen. Um ein besseres Verständnis für die Thematik der Entwicklung der Zweisprachigkeit des Kindes und dessen Zweitspracherwerb zu erlangen, erweist es sich als hilfreich und von großem Vorteil, zunächst einmal in die komplexe Welt der Sprachentwicklung einzutauchen und sich mit dieser zu beschäftigen. Die erste Frage, die sich dabei im Zusammenhang mit der kindlichen Sprachentwicklung stellt, ist: Wie kommt das Kind zur Sprache?

Mit dieser Frage beschäftigt sich die Forschung schon seit geraumer Zeit. Zimmer hat in seinem Buch „So kommt der Mensch zur Sprache“ (Zimmer 1988) die vier wichtigsten Erklärungsansätze, mit ihren Vertretern Bruner, Chomsky, Piaget und Skinner, einander gegenübergestellt und kommt demnach zu dem Ergebnis, dass es sich nicht empfiehlt:

„(...) eine der vier Positionen vorbehaltlos zu umarmen. Eher sieht es so aus, als hätte jede irgendwo recht: der Interaktionismus, der Nativismus, der Kognitivismus und sogar an untergeordneter Stelle der Behaviorismus (denn auch etwas Lernen durch Imitation, Assoziation und Verstärkung ist beim Spracherwerb sicher im Spiel). Jede macht sich aus einer anderen Richtung an der Wahrheit zu schaffen. Irgendwann werden sie zusammenfinden.“ (Zimmer 1988, S. 70)

Eine schlüssige und erschöpfende Antwort auf die Eingangsfrage erscheint also schwierig. Bis heute wurde das Geheimnis, wie Kinder ohne didaktische Anleitung das komplizierte Regelwerk Sprache erwerben, nicht gelüftet. Butzkamm meint dazu:

„Die Vorstellung, dass kindlicher Spracherwerb unerklärbar sei, deuten auf eine eingeschränkte Sichtweise, welche eine verzerrte Perspektive zum Ausgangspunkt hat. Die enorme Leistung der Kinder wird nicht im Rahmen der spezifischen Situation der Kinder betrachtet, sondern nimmt ihre Grundlage beim Erwachsenen und erklärt dem zur Folge, die vom Erwachsenen erworbene Sprachkompetenz zum Maßstab, an dem die kindlichen Leistungen gemessen werden.“ (Butzkamm 2004, S.23)

Sprache wird dabei mit all ihren semantischen, syntaktischen und phonetischen Bestandteilen als fertiges System betrachtet. Dieses komplexe Gesamtprodukt wird dem Kind gegenübergestellt, es sieht in diesem Verhältnis ziemlich unfähig und hilflos aus. Im Unterschied zum Spracherwerbsforscher steht das Kind der Sprache aber praktisch gegenüber, es erlernt und erweitert diese unbewusst, nimmt den Spracherwerb also nicht als bewusstes Ziel an. Kinder beweisen uns täglich, dass sie der Sprache gegenüber nicht hilflos sind und dass sie zwar langsam aber stetig ihre sprachlichen Fortschritte machen.

Neben der Feststellung, es sei eigentlich unfassbar, dass Kinder sich dieses komplexe System aneignen, gibt es ebenso die gegenteilige Behauptung, Kinder würden im Unterschied zum Erwachsenen die Sprache spielerisch und ohne Anstrengung erwerben. (vgl. Ehlich 1996, S. 16) Diese Sichtweise vernachlässigt allerdings den kindlichen Spracherwerb als aktiven Lernprozess, in dem sich das Kind Fähigkeiten und Kompetenzen aneignet. Der Fortschritt in der kindlichen Sprachentwicklung ist demzufolge alles andere als ein Automatismus, es ist vielmehr eine mit Motivation, Anregung, Ausprobieren, Experimentieren und Üben verbundene Tätigkeit.

1.1 Stufenförmige Entwicklung der Sprache

Die Anfänge des Interesses für die kindliche Entwicklung liegen im 19. Jahrhundert. Seitdem wurde viel über dieses Thema geschrieben und inzwischen eine große Zahl von Fachbüchern veröffentlicht. Viele Pädagogen und Entwicklungspsychologen, die sich mit der Sprachentwicklung befassten, beschrieben eine stufenweise erfolgende Entwicklung, deren Stadien ohne exakte Grenzen ineinander übergehen. Sie machten darauf aufmerksam, dass die Entwicklung bei Kindern nicht gleich verläuft. Diese These ist nach wie vor hochaktuell und stellt somit einen Grundstein für die heutige Forschung im Bereich der Sprachentwicklung des Kindes dar.

Die sieben Entwicklungsstufen des kindlichen Spracherwerbsprozesses, wie man sie aus der heutigen Sicht der Sprachwissenschaft begreift, stellen sich demnach wie folgt dar:

1. Entwicklungsstufe:

Als die frühste Phase und Vorstadium des Sprechenlernens werden bereits die verschiedenen Schrei- und Gurrlaute des Säuglings angesehen, sowie die Laute der Lallperiode mit ihren verschiedenen Lautkombinationen und deren unterschiedlichen Funktionen.

2. Entwicklungsstufe:

Im Alter zwischen 10 und 18 Monaten tauchen die ersten sprachlichen Einheiten, wie Einwortsätze mit fester Bedeutung, auf. Charakteristisch für diese Phase ist die Bevorzugung von Hauptwörtern. Sie ermöglichen, die vielfältigen Kommunikationsinhalte auszudrücken, da Kinder nicht auf einen ganzen Satz reagieren, sondern lediglich auf die Teile, die in den Äußerungen der Erwachsenen am deutlichsten bzw. stärksten betont werden. Ab dem 11. bis 12. Monat setzt eine verstärkte Aufnahme von sprachspezifischen Lautmustern aus der unmittelbaren Umgebung ein.

3. Entwicklungsstufe:

Sie wird als Zweiwortphase verstanden und beginnt etwa ab dem 18. Lebensmonat. Umstritten ist allerdings, ob die Zweiwortäußerungen als Sätze zu bezeichnen sind, also eine grammatische Struktur besitzen. Typisch ist auch hier der telegrammartige Stil der Äußerungen. Es werden hauptsächlich Hauptwörter, Zeitwörter im Infinitiv und einige Adjektive verwendet. Es fehlen bestimmte Artikel (der, die, das), unbestimmte Artikel (einer, eine, eines) Konjunktionen (und, oder, aber, etc.) und Hilfswörter (bin, ist, sind, hat etc.). Die Wortstellung weicht vom Erwachsenenmodell ab. In diesem Stadium beginnt eine explosionsartige Erweiterung des Wortschatzes.

4. Entwicklungsstufe:

Im Alter zwischen zweieinhalb und drei Jahren beginnen Kinder mit Äußerungen oder Sätzen von drei und mehr Wörtern. Die grammatische Struktur wird immer komplexer und nähert sich dem Sprachmodell der Erwachsenen an. Die Entwicklung verläuft dabei vom Einfachen zum Differenzierten, grammatische Regeln werden bereits angewendet (z. B. Mehrzahlbildung: Blatt/ Blätter). Die meisten grundlegenden Strukturen des Sprachmodells der Erwachsenen (Aussprache, Grammatik, Wortschatz der Umgebung) haben sich im Alter von fünf Jahren schon herausgebildet.

5. Entwicklungsstufe:

Dies ist die Stufe, in der sich hauptsächlich die Lautbildung verfeinert. Bis zum Vorschulalter, insbesondere zwischen drei und vier Jahren, macht die Lautentwicklung einen raschen Fortschritt. Abgeschlossen ist sie mit acht Jahren.

6. Entwicklungsstufe:

Der Erwerb von Wortbedeutung vollzieht sich, dauert aber verglichen mit dem Erwerb der Grammatik länger. Er ist sehr eng mit der kognitiven Entwicklung, konkreten und abstrakten Denkprozessen verbunden.

7. Entwicklungsstufe:

Nach fünf Jahren wird das richtige Verständnis von Fürwörtern und Verbindungswörtern wie „weshalb“ und „obwohl“ entwickelt. „Weil“ und „aber“ sind schon bei Dreijährigen zu hören, regelmäßig werden sie aber erst im Schulalter gebraucht. Das nähere Verständnis für die Zeitformen im Passiv wird ebenfalls erworben. Der Erwerb von Präpositionen (vor, an, um etc.) dauert vom dritten bis zum zehnten Lebensjahr. Die Doppelbedeutungen von Wörtern, z. B. als physikalische Eigenschaften und in übertragenem Sinn für „kalt“, „süß“, „hart“, werden nacheinander erworben, die übertragenen Bedeutungen viel später.

(vgl. Oksaar 1984, S. 25f/ Schönpflug 1977, S. 17)

Entwicklungspsychologische Studien konzentrieren sich in ihren Beschreibungen des Spracherwerbs in erster Linie auf die ersten Lebensjahre des Kindes, da in dieser Phase die Prozesse der Lautbildung, des Wortschatzerwerbs und der Grammatikbildung in ihren Anfängen beobachtet werden können. Danach wird der Spracherwerb bei Kindern unter den Gesichtspunkten der Verfeinerung, Verbesserung und Erweiterung der bereits ausgebildeten sprachlichen Strukturen betrachtet. Dabei stellt sich der kindliche Spracherwerbsprozess nicht als strikt lineare Entwicklung dar, sondern ist mit dem gesamten Entwicklungsprozess des Kindes eng verwoben.

1.2 Merkmale des Spracherwerbs

Ein grundlegendes Prinzip des Spracherwerbs bei Kindern ist das Zerlegen von sprachlichen Strukturen der zu erlernenden Sprache in mehrere Schritte, die sich Kinder nacheinander und systematisch aneignen. Diese Annäherungsmethode enthält Zwischenstadien, die sich für Erwachsene als modellabweichende grammatische Strukturen und Rückschritte oder grammatische Fehler darstellen. Diese oft Besorgnis erregenden Strukturen werden allerdings nach eigenen sprachlichen Regeln der Kinder gebildet, sind dabei nicht willkürlich oder beliebig gewählt, sondern bilden ebenfalls ein logisches, in sich geschlossenes System.

Der grammatische Fortschritt im Spracherwerbsprozess bei Kindern basiert im wesentlichen auf der Erkenntnis, dass bestimmte Dinge, wie beispielsweise eine Aneinanderreihung von verschiedenen Wörtern ohne Rücksicht auf Endungen und Wortstellung, in der Sprache nicht anwendbar sind.

Die hier genannten Grundmerkmale des Spracherwerbs bei Kindern, deren Erkenntnis über die Struktur der Zielsprache und deren Auflösung in einzelne Lernschritte, sind sowohl für den Erst- als auch für den Zweitsprachenerwerb charakteristisch und gelten für alle Sprachen und Sprachkonstellationen von Erst- und Zweitsprache. (vgl. Felix 1982, S. 42)

1.3 Bedeutung und Funktion der Sprache für Kinder

Bernd Reimann stellte fest, dass das Kind den „Ausdrucksgehalt“ (Reimann 1996, S. 37) des gesprochenen Wortes, lange bevor das Kind selbst der Sprache mächtig ist, die Sprachteile klar und bewusst erfasst, darüber hinaus diesen unmittelbar in Ton und Satzmelodie versteht. Es wird also in seinem Spracherwerb durch die Umwelt, durch die Familie und die Spielkameraden gelenkt. Ausschlaggebend für die Qualität dieses Prozesses sind die Möglichkeiten und die Anregungen, die die Umgebung für einen vielfältigen Einsatz von Sprache bietet. Das sprachfreudige Milieu verhilft dem Kind zu einem reichen Schatz an Wort- und Sprachformen, das spracharme dagegen verzögert die Sprachaufnahme und -entwicklung. Wie wichtig dabei die natürliche Erwachsenensprache für die sprachliche Weiterentwicklung der Kinder ist, hat Szagun in ihrem Buch zur Kindersprache dargestellt. (Szagun 1991) In einem wissenschaftlichen Versuch wurde das Phänomen der nachahmenden Erweiterungen (ein sprachliches Verhalten, das von Erwachsenen im Dialog mit Kindern angewandt wird und das ursprünglich zu einer Verbesserung der grammatischen Kompetenz beitragen soll, z. B. Korrekturen) einer Prüfung unterzogen. In drei Gruppen wurden Kinder jeweils drei Monate lang mit unterschiedlichem sprachlichen Erwachsenenverhalten konfrontiert. Die erste Gruppe erhielt regelmäßig Erweiterungen, die zweite Gruppe erhielt keinerlei Erweiterungen und wurde nur vermehrt der Erwachsenensprache ausgesetzt, die dritte Gruppe erhielt als Kontrollgruppe weder Erweiterungen noch mehr Erwachsenensprache. Die größten sprachlichen Fortschritte waren bei der zweiten Gruppe zu verzeichnen, die der vermehrten Erwachsenensprache ausgesetzt war. (vgl. ebd., S. 46)

Der Erfolg des Spracherwerbs beruht nicht zuletzt auf günstigen neurophysiologischen Bedingungen. Wie die Hirnphysiologen Penfield und Roberts bemerkten, besitzt das Gehirn des Kindes eine spezialisierte Fähigkeit zum Spracherwerb, eine Fähigkeit, die nachlässt, je älter das Kind wird. Dieses Phänomen ist in den wissenschaftlichen Kreisen auch unter „Zeitfenster-Theorie“ bekannt. (vgl. Penfield/ Roberts 1959, S. 236 und 240ff)

Der zweite Aspekt des Spracherwerbs ist psychologischer Art. Das Kind begreift seine Umwelt mit und durch die Sprache. Es gewinnt Umwelterfahrung, indem es das Sichtbare sprachlich einordnet. Dabei sind dem Kind die Sprache, welche es verwendet, noch der Prozess des Spracherwerbs selbst bewusst. Sprache es ist für das Kind vor allem ein Mittel, Wünsche zu äußern und dadurch zu befriedigen, ein Medium für seine Ziele, es nimmt die Sprache als einen festen, unverzichtbaren Teil eines komplexen Erlebensganzen auf. Das Kind denkt über die eigene Sprache und die seiner Umwelt nicht nach. Solches Verhalten bestätigen die Beobachtungen des dänischen Sprachforschers Otto Jespersen in einer ihm bekannten Familie. Die Mutter sprach ein stark schwedischgefärbtes Dänisch. Ihre Kinder wurden auf die abweichende Aussprache ihrer Mutter erst mit elf bis zwölf Jahren aufmerksam, und das, weil ihre Kameraden diese nur schwer verstehen konnten. (vgl. Britton 1973, S. 40f)

Obwohl für die kindliche Kommunikation das wesentliche Moment in der Vermittlung des Inhalts besteht, korrigieren Kinder selbständig die Form ihrer Sprache und treiben somit die Entwicklung der eigenen Sprache aktiv voran.

Mit dem sechsten bis achten Lebensjahr bilden sich die kindlichen Sprechgewohnheiten zu einem in sich geschlossenen, im Großen und Ganzen auch vollständigen, Sprachsystem aus. Ein Sprachgefühl, das durch die bis dahin gesammelte Sprach- und Sprecherfahrung erworben wurde, ermöglicht dem Kind die Sprachmittel ohne weiteres anzuwenden und sich auch situationsbedingt richtig auszudrücken. Die Erfahrung der Einheit von Sprache mit Handlung und Situation stellt eine wichtige Voraussetzung dar, um Sprache als autonomes davon abgelöstes Medium für sich zu entwickeln.

Infolge der weiteren Sprachentwicklung werden Sprachmuster reicher und differenzierter. Mit zunehmender geistiger Reife nähert es sich dem Sprachniveau des Erwachsenen an. Sichtbar werden die Verschiebungen im kindlichen Gebrauch von Sprache insbesondere auf folgenden Ebenen:

- „Als handlungsbegleitender Monolog erhält die Sprache einen immer relevanteren Stellenwert und wird der Handlung als gedankliche Absicht und als Plan vorangestellt.
- Mit der Sprache als Reflexionsmedium erfahren praktische Leistungen und Handlungen eine Bewertung. Daran zeigt sich die Entwicklung einer intellektuellen Distanz bei den Kindern.
- Verschiedene Formen der Verallgemeinerung des Denkens verfestigen sich in Form der Veränderung der kindlichen Begriffsbildung. Die subjektiven und konkreten Bestimmungen werden durch objektive und gegenstandsbezogene Definition ergänzt und teilweise verdrängt.
- Wörter bekommen eine eigenständige Bedeutung und erhalten darüber eine Animationsfunktion, um Aktivitäten oder gedankliche Assoziationen auszulösen.
- Sprache selbst kann über die Entwicklung eines metasprachlichen Bewusstseins zum Gegenstand des Interesses werden. Über die Trennung der lautlichen von der semantischen Seite entstehen eine Faszination an Lauten und am Wortklang sowie ein kreativer Umgang mit Wörtern.
- Der emotionale Bezug zur Sprache, der sich bereits in den ersten Jahren entwickelt hat, wird erweitert und ergänzt durch den differenzierten Einsatz und Gebrauch von Sprache.“ (Astington 2000, S. 29)

1.4 Kommunikative und egozentrische Funktion der Kindersprache

Die kommunikative Funktion ist, dem allgemeinen Verständnis von Sprache nach, deren Hauptfunktion. Die Möglichkeit, sich mit anderen zu verständigen und auszutauschen, Informationen weiterzugeben oder zu empfangen, ist in erster Linie an Sprache gebunden. In Kommunikationsmodellen wird dabei zwischen Sender und Empfänger unterschieden, zwischen denen über einen Kanal Mitteilungen transportiert werden. In einem Lehrbuch zur Kommunikation findet sich die folgende Definition:

„Etymologisch leitet sich das Wort Kommunikation aus dem Lateinischen communicare ab: communicare heißt etwas gemeinsam machen, gemeinsam beraten, einander mitteilen, besprechen; communicatio heißt Mitteilung. (...) Kommunikation tritt überall dort auf, wo Mitteilung ausgetauscht werden, wo Botschaften oder Nachrichten übermittelt werden, wo Informationen, wo Neuigkeiten gesendet und empfangen werden. Kommunikation heißt besprechen, miteinander beraten, heißt gemeinsam machen, heißt sich verständig machen und verstanden werden, heißt andere verstehen.“ (Anders 2003, S. 4)

So einfach, wie sich das Modell auf den ersten Blick darstellt, so kompliziert erweist sich Kommunikation auf den zweiten Blick. Es ist kein mechanischer Ablauf, wie mit den Begriffen „codieren, senden, empfangen, decodieren“ nahegelegt wird, sondern ein zwischenmenschlicher Austausch. Dabei können neben der Sprache unterschiedliche Mittel eingesetzt werden und vor allem ist der persönliche Erfahrungshintergrund von Empfänger und Sender und ihre Beziehung zu einander für die Interpretation des Gesagten ausschlaggebend. (vgl. Schulz von Thun 2004, S. 56f)

Welche Rolle spielt die Kommunikation für das Kind? Die Beziehung zu anderen Personen wird von Beginn an mit Sprache verbunden und zu einem wesentlichen Teil über Sprache gestaltet. Mit Sprache werden nicht nur Mitteilungen und Botschaften gesendet, sondern ebenfalls emotionale Stimmungen, die für Kinder von fundamentaler Bedeutung sind. Der emotionale Aspekt der sprachlichen Zuwendung ist speziell im Säuglings- und Kleinkindalter für eine bestmögliche kindliche Entwicklung von äußerster Wichtigkeit. Bei Kindern im vorschulischen Alter relativiert sich dies jedoch, da die Kommunikation nunmehr weitere Funktionen, Informationen und Mitteilungen für sie enthält.

Für Säuglinge und Kleinkinder ist es wichtig, dass die Bezugspersonen ihre lautlichen Äußerungen und motorischen Handlungen wahrnehmen und richtig interpretieren. Für Kinder, die bereits im Besitz von Sprache sind und aktiv mit ihr umgehen, wird wichtig, dass ihre Sprachinhalte, ihre Fragen und ihre Theorieentwürfe von Erwachsenen wahr- und ernstgenommen werden, denn für das Vorschulkind hat der semantische Aspekt der Sprache in Kommunikationssituationen eine vorherrschende Stellung, d. h. ausschließlich der Inhalt ihrer sprachlichen Botschaft ist wichtig. Über die Richtigkeit der grammatischen Formen oder der Aussprache denkt es nicht bewusst nach. Die Korrektheit der Sprache scheint demzufolge eine Angelegenheit zu sein, deren Weiterentwicklung es in Eigenregie führt. Dies geschieht durch Selbstkorrekturen und Wiederholungen in einem Prozess, der sich durch kindliche Autonomie und Individualität auszeichnet. Sobald der Gesprächspartner die sprachliche Form aufgreift und verbessert, registriert das Kind, dass der Inhalt seiner Mitteilung in den Hintergrund gedrängt wird, und sieht sich darüber in seinen Interessen verletzt. Folgende Schilderung von Britton verdeutlicht dies:

„Ich versuchte, sie `Kaffee` sagen zu lassen. Mehrmals antwortete sie mit `Faffee´, das dritte Mal mit einigen Anzeichen von Verärgerung. Auf mein `Nein; Kaffee´ schrie sie plötzlich mit Nachdruck: `Tee´.“ (Britton 1973, S. 44)

Eine fortwährende Verbesserung wie im oberen Beispiel dargestellt oder sogar ein formelles Sprachtraining seitens des Erwachsenen kann dazu führen, dass das Kind sich von der Sprache distanziert. Die Sprache erscheint unter solchen Umständen dann als Zwang und nicht als Mittel für die Realisierung der Bedürfnisse.

Kommunikative Kompetenz entwickelt das Kind in der Interaktion und Handlung mit anderen Personen. Dieser soziale Aspekt von Sprache stellt eine entscheidende Funktion des kindlichen Gebrauchs von Sprache dar. Nach Wygotski ist es die erste Funktion, in der die Sprache beim Kind erscheint. Daneben entwickelt das Kind die, erstmals von Piaget beobachtete und abgeleitete, „egozentrische Sprache“ (Piaget 1982, S. 67):

„Das Kind (...) scheint sehr viel mehr als der Erwachsene zu sprechen. Es begleitet fast alles, was es tut, mit Äußerungen wie `ich male einen Hut´, `ich kann das besser als du´ usw. Das kindliche Denken scheint also viel sozialer (...) Das aber scheint nur so. Das Kind hat einfach weniger verbale Selbstbeherrschung, weil es die Intimität des Ich nicht kennt. Es spricht zwar unaufhörlich mit seinen Nachbarn, versetzt sich aber selten in deren Lage. Zu einem guten Teil redet es mit ihnen, als wäre es allein, als dächte es laut für sich. (...) Das Kind fragt sich fast nie, ob es verstanden wird. Für das Kind bezieht sich alles auf es selbst; denn beim Reden denkt es nicht an die anderen. (...) Vereinfachend kann man sagen, dass der Erwachsene sozial denkt, selbst wenn er allein ist, und dass das Kind unter 7 Jahren egozentrisch denkt und spricht, selbst wenn es in Gesellschaft ist.“ (ebd.1982, S. 67)

Zwischen Wygotski und Piaget gab es lange Zeit eine Meinungsverschiedenheit über die Interpretation dieses sprachlichen Verhaltens. Für Piaget zeigte sich im egozentrischen Sprechen eine „reine Begleitmusik“ oder „lautliche Untermalung“ des kindlichen Handelns. Er fasste es als ein sprachliches Phänomen auf, das mit der Weiterentwicklung der kognitiven Fähigkeiten des Kindes langsam abnimmt und letztendlich ganz verschwindet. Wygotski deutete die sprachliche Begleitung der Handlung im Unterschied dazu als intellektuelle Funktion, die eng mit der Entwicklung des Denkens verknüpft ist. Mit dem Auftreten der egozentrischen Sprache beginnt für Wygotski ein Prozess, in dem die Sprache im Verlauf der Entwicklung des Kindes für das kindliche Handeln eine Bedeutungssteigerung erfährt und infolgedessen eine planende Funktion erhält. Seinen Abschluss stellt die Veränderung der Erscheinungsform dar, in dem die äußere Sprache zur inneren Sprache wird.

„Unsere Untersuchungen zeigten, dass die egozentrische Sprache des Kindes sehr früh eine höchst eigenartige Rolle für seine Tätigkeit zu spielen beginnt. (...) dass der Anteil der egozentrischen Sprache immer dann größer wurde, wenn die Kinder auf Schwierigkeiten stießen. (...) Bei ihnen entstand das egozentrische Sprechen, d. h. der Versuch, eine Situation in Worten zu erfassen, einen Ausweg zu suchen und die nächste Handlung zu planen, als Antwort auf die Schwierigkeiten der (...) Situation. (...) Die intellektuelle Funktion der egozentrischen Sprache, die offensichtlich mit der Entwicklung der inneren Sprache in Verbindung steht, ist keine direkte Widerspiegelung der Egozentrizität des kindlichen Denkens, sondern zeigt, dass die egozentrische Sprache bei entsprechenden Bedingungen sehr früh zu einem Mittel des realistischen Denkens beim Kinde wird.“ (Wygotski 1987, S. 137ff)

Wygotski konnte seine Interpretation des Phänomens der egozentrischen Sprache durch Beobachtungen bestätigen. Das monologische Sprechen trat bei Kindern vermehrt in Situationen auf, in denen sie Aufgaben unter erschwerten Bedingungen lösen sollten. Piaget hat sich später Wygotskis Sichtweise angeschlossen (Lawton 1973, S. 53)

Durch das Monologisieren ordnet das Kind die Eindrücke seiner Wahrnehmung und Aktivitäten in seiner geistigen Welt an und verfestigt diese, infolge dessen ein geistiger Nachvollzug und eine Reflexion des Tuns ermöglicht wird. An dieser Stelle wird auf die Bedeutung der Erstsprache bei zweisprachigen Kindern hingewiesen. Durch die Ausgrenzung der Erstsprache wird der Prozess der Verinnerlichung von Sprache unterbrochen und damit der Aufbau des sprachlichen Denkens gestört.

1.5 Bedeutung der non-verbalen Kindersprache

„100 Sprachen hat das Kind und 99 davon stehlen wir ihm“ so heißt es in einem Gedicht von Malaguzzi. (vgl. Donath 1992, S. 3)

Kommunikation umfasst, wie bereits im vorgehenden Subkapitel angedeutet, weit mehr als die gesprochene Sprache. Wir sprechen mit unserer Mimik, mit unserer Körperhaltung, mit unserer Gestik. Wir setzen Zeichen mit unserer Art, uns zu kleiden, zu essen, wie wir unser Zuhause gestalten und unsere Freizeit verbringen. Künstlerische Aktivitäten, wie Zeichnen, Malerei, Musik, Tanz und Theater, geben ebenfalls Aufschluss über unsere Person. Wir geben auf zahlreichen Wegen Signale und Auskunft über unsere Vorlieben, Abneigungen usw.

Erwachsene konzentrieren sich in kommunikativen Situationen meist auf den verbalen Aspekt der Sprache. Auf den non-verbalen Bestandteil werden Kommunikationspartner erst dann aufmerksam, wenn Widersprüche aufkommen, d. h., wenn die verbale Botschaft der non-verbalen entgegensteht. Für Erwachsene ist der Umgang mit beiden Elementen der Kommunikation selbstverständlich, so wie auch das Auseinanderfallen von verbalen und non-verbalen Botschaft ein alltägliches Kommunikationsmuster darstellt.

Bei Kindern ist das anders. Das Verhältnis von verbalen und non-verbalen Ausdrucksmitteln ist bei Kindern ausgeglichener. Die verbale Sprache hat einerseits nicht den herausragenden Stellenwert in der Kommunikation, andererseits gibt es bei Kindern im vorschulischen Alter noch einen unmittelbareren Bezug zu ihrer Gefühlswelt. Denken, Handeln und Gefühle gehören im Erleben der Kinder zusammen und so sind auch ihre Äußerungen sichtbare und hörbare Zeichen ihres Empfindens. Sie orientieren sich nach ihren Interessen, ihren Bedürfnissen und den dazugehörigen Gefühlen. Die abstrakten Normen und moralischen Gewohnheiten, nach denen sich die Erwachsenenwelt ihre Maßstäbe setzt, sind dem kindlichen Zugang zu seiner Umgebung noch fremd. Gefühle für sich sind Kindern wichtig und können durchaus alleiniger Inhalt von Botschaften sein. Ihre Empfindungen, wie Trauer oder Freude, können ihnen z. B. als Mitteilung an ihren Gesprächspartner wichtig sein. Wenn Erwachsene in solch einer Situation nur nach der eigentlichen Ursache fragen, zeigen sie dem Kind, dass sein Gefühl für sich genommen nichts bedeutet.

„Eine kleine Geschichte: Vater und Mutter gehen mit ihrem Kleinsten spazieren, und der kleine Franz sagt: Mutti, Mutti, ich habe eine Kuh gesehen! Der Mutter gefällt es, dass ihr Kind soeben eine identifizierende Information gegeben hat, und sie macht den Vater darauf aufmerksam; der nickt und ist ebenfalls zufrieden. Das Kind hat richtig erkannt, es war eine Kuh; kein Hund, kein Hase, sondern eine Kuh. Ein andermal kommt das Kind ganz aufgeregt angerannt, zappelt mit den Händen und Füßen und sprudelt hervor: Papi, Papi oder Mutti, Mutti. Man versteht es nicht: Beruhige dich erst einmal. Wir verstehen dich nicht. Schließlich hält man dem Kind die Hände fest: Nun sag, was du willst! Das Kind bleibt stumm, schlägt mit dem Fuß einen unsichtbaren Stein weg. Es sagt gar nichts. (...) Sein Auftritt sollte nichts anderes ausdrücken als: Schau, wie aufgeregt ich bin! Nicht mehr. Das Gefühl allein – Freude, Schmerz, Aufregung, Begeisterung – ist eine Aussage für sich.“ (Molcho 1996, S. 46f)

Wenn Kinder Bedürfnisse, Gefühle oder Neugierde ausdrücken, verlangen sie nach einer Antwort, einer Reaktion des Erwachsenen. Umgekehrt orientieren sich Kinder an den non-verbalen Botschaften, die die Erwachsenen ausstrahlen. Die Stimme ist dabei ein zentrales Moment für die Beurteilung einer Situation, denn der Klang der Worte vermittelt Botschaften. Über stimmliche und mimische Veränderungen werden Kinder angeregt und motiviert. Eine immer gleich freundlich und ruhig klingende Stimme ist auf Dauer langweilig und wenig stimulierend. Die Unterschiedlichkeit der Botschaften wird umso deutlicher, je klarer der Erwachsene sie mit Stimme, Mimik und Gestik begleitet und unterstreicht. (vgl. Petrie 1999, S. 115)

Molcho folgert aus seiner Analyse der Körpersprache von Kindern, dass sie mit ihren Gefühlen in Harmonie leben. So ist die Körpersprache der Kinder, wie Molcho feststellt, aufgrund ihrer Unmittelbarkeit nicht reicher, sondern ärmer. Eine weitere Folge dieser Unmittelbarkeit, die mir für den hier diskutierten Zusammenhang wesentlich erscheint, ist, wie kreativ Kinder mit Handlungsabläufen umgehen, die bei Erwachsenen längst zur Routine geworden sind. Kinder gehen mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, kreativ und experimentell um. (vgl. Molcho 1996, S. 47)

2. Zweisprachigkeit

2.1 Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft

2.1.1 Historischer Rückblick

Vertreibung, Flucht und Arbeitsmigration sind Phänomene der menschlichen Entwicklung. Sie werden durch Armut, Hungersnot, politische Unruhen, Kriege, wirtschaftliche Krisensituationen und Unterentwicklung ausgelöst und lassen bedrohte und ärmere Völker nicht nur in Nachbarländer und Regionen wandern, in denen sie sich sicherer fühlen, sondern auch in die Länder der Welt emigrieren, in denen die Überlebenschancen größer sind.

Seit Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich das Problem der Migration von Norden nach Süden verlagert. Während des 19. Jahrhunderts waren es vor allem Europäer, mehr als 50 Millionen, die nach Nordamerika, Südamerika, Australien und Neuseeland ausgewandert sind. Anfang des 20. Jahrhunderts flohen mehr als zwei Millionen Juden aufgrund politisch-religiöser Verfolgung aus Russland und Deutschland und zwischen 1939 und 1962 über 40 Millionen Menschen vor dem Faschismus in Deutschland, Italien und der Francodiktatur in Spanien.

In die Bundesrepublik Deutschland sind in der Zeit von 1945 bis 1990 ca. 15 Millionen Deutsche eingewandert: Vertriebene, Aus-, Übersiedler und Spätaussiedler. Hinzu kommen seit 1960 über fünf Millionen zugewanderte Arbeitsmigranten und Flüchtlinge sowie deren Kinder. (vgl. Sassen 2000, S. 73/ Opitz 1997, S. 102) Nach neusten statistischen Erhebungen hat insgesamt ca. ein Drittel der westdeutschen Bevölkerung Migrationserfahrungen gemacht. Weiterhin haben mittlerweile 30 Prozent der in Deutschland geborenen Kinder einen ausländischen Eltern- oder Großelternteil und jede sechste Ehe ist eine binationale. (vgl. Sassen 2000, S. 133)

Migration gehört neben historischen Gründen wie Kolonialisierung, Gebietsbesetzungen und Grenzziehungen nach Kriegen zu den Hauptursachen von Mehrsprachigkeit. Namen oder Lehnwörter, die noch teilweise in der Majorität anzutreffen sind, aber auch elementare Beobachtung der sprachlich-kulturellen Situation im Alltag bezeugen gesellschaftliche Mehrsprachigkeit.

2.1.2 Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität

Sprachen stehen im engen Zusammenhang mit Kultur, so dass auch Mehrsprachigkeit nicht getrennt von Mehrkulturalität betrachtet werden kann.

„Kultur“ versteht man dabei als einen sehr weiten Begriff, der nicht nur Literatur, Kunst und Musik einbezieht, sondern auch den Alltag mit seinen materiell-kulturellen Ausdrücken wie Essen, Trinken, Wohnen, Kleidung etc. umfasst. Dazu gehört soziale und institutionelle Gestaltung des Lebens ebenso wie Werte und Haltungen. Kultur wird von Individuen und Gruppen entwickelt und verändert. Sie ist nicht statisch und kann sowohl vom Individuum in Frage gestellt und verändert werden als auch durch äußere Veränderungen wie Technologieschübe, Migration oder neue Kommunikationsformen weiterentwickelt werden. Dabei kann es auch zur Entwicklung von neuen Kulturformen kommen, wie z. B. zu einer Migrationskultur, bei denen Elemente der jeweiligen Herkunftskultur auf Teile deutscher Kulturformen und kulturelle Äußerungen, wie sie sich aus dem Leben in einer fremden Umgebung ergeben, treffen und sich zu einer eigenständigen und weiter verändernden Lebensform vereinigen. (vgl. Auernheimer 1988, S.4f)

Der Sprache wird in der kulturellen Entwicklung eine große Bedeutung beigemessen, da ein wesentlicher Teil kulturellen Wissens über die Sprache weitergegeben wird, aber auch die Auseinandersetzung mit der Kultur über die Sprache erfolgt.

2.1.3 Kulturelle Identität

Kulturelle Identität entwickelt und bildet sich über erlebte soziale Umwelt, überlieferte und weitergegebene familiäre Geschichten, Erinnerungen und Vorstellungen, Literatur, Medien und Alltagskultur. Bewusste und teils unbewusste Vorstellungen von Kultur finden sich auch in Traditionen, die als „es war schon immer so“ unumstößlich erscheinen. Kulturelle Kategorien und Entwürfe, in die Sprache, Bräuche, Handlungsformen und Gefühle einbezogen sind, vermitteln eine Vorstellung von Gemeinschaft, über die dann ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt wird. (vgl. Erdheim 1992, S.38) Es ist die kulturelle bzw. ethnische Identität, welche die eigene von der fremden Kultur abgrenzt. Hier spielen die Vorstellungen und Überlegungen, die man sich über Andere, über das Fremde macht, eine besondere Rolle. Durch Verlust dieser kulturellen Kategorien können Unsicherheiten und psychische Krisen ausgelöst werden.

Nationale Kulturen erwerben ihr Identitätsbewusstsein ebenfalls durch die Abgrenzung zu anderen Kulturen. In diesem Zusammenhang werden oftmals vorschnelle Verallgemeinerungen getroffen, die grobe und vereinfachende Annahmen zur Folge haben, aus denen schnell hartnäckige Vorurteile entstehen können.

Eine der wesentlichen Annahmen ist, dass die westliche industrialisierte Welt mit ihren wirtschaftspolitischen und sozialen Strukturen den Höhepunkt menschlicher Errungenschaften und Entwicklungen darstellt. Der Westen gilt als Modell und Maßstab sozialen Fortschritts. Diese homogene Vorstellung von Kultur entspricht schon lange nicht mehr den historischen wie gesellschaftlichen Realitäten der modernen Welt. Moderne Kulturen, wie beispielsweise auch die westeuropäischen, sind heterogene, sogenannte kulturell hybride, Gesellschaften. Diese entwickeln sich infolge der globalen Prozesse in den Bereichen der Ökonomie, der Technologie, der Kommunikation etc. Aufgrund der sich immer weiter verbreitenden Multikulturalität und Mehrsprachigkeit in den modernen Gesellschaften, geht man von der sich davon ableitenden Vielschichtigkeit der kulturellen bzw. ethnischen Identität eines Individuums aus. (vgl. ebd., S. 2)

2.1.4 Mehrsprachigkeit heute

Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit dokumentiert sich in der Präsenz vieler Sprachen sowie in deren Gebrauch in den Medien.

Dabei ergeben sich Bereiche, die unter verschiedenen Aspekten beleuchtet werden können. Zu den wesentlichen Zweigen, in denen gesellschaftliche Mehrsprachigkeit eine Rolle spielt, zählen Konsumeinrichtungen wie Gaststätten, Lebensmittelgeschäfte, Zeitungsstände, ethnische Kleinbetriebe wie Nähereien, Behörden und öffentliche Einrichtungen wie Einwohnermeldeämter, Bahnhöfe, Stadtbibliotheken und gesellschaftlicher Verkehr wie informelle Treffen in der Nachbarschaft und auf Reisen.

Die Mehrsprachigkeit bzw. Multikulturalität tritt auch durch Namen in Erscheinung. Telefon- und Adressbücher belegen dieses. Darüber hinaus kann man auch eine nicht geringe Präsenz (weiterer) europäischer Sprachen nachweisen, beispielsweise in der Werbung, auf Flughäfen und Bahnhöfen. Mehrsprachigkeit dokumentiert sich in den Medien: Orts- und Personenbezeichnungen aus aller Welt sind ständig in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen präsent. Zwar werden im Fernsehen Äußerungen in anderen Sprachen fast immer übersetzt, aber der Klang anderer Sprachen ist zumindest zu hören und allgegenwärtig.

Dieses gilt genauso für die Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, in denen Kinder mit unterschiedlichen Sprachen betreut werden. Mehrsprachigkeit zeigt sich hier in erster Linie im Gebrauch verschiedener Sprachen durch die Kinder mit Migrantenhintergrund, durch Erzieherinnen mit nicht-deutscher Erstsprache bzw. durch Erzieherinnen, die die Erstsprachen der nicht-deutschen Kinder beherrschen. Weiterhin ist die Mehrsprachigkeit durch permanente Präsenz der von Kindern mitgebrachten Bücher in der jeweiligen Erstsprache allgegenwärtig.

Mit diesem äußeren Erscheinungsbild gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit werden alle Kinder wie auch ihre Betreuungskräfte täglich im Alltagsleben und im Kindergarten konfrontiert, so dass man davon ausgehen kann, dass Mehrsprachigkeit zu ihren Erfahrungen gehört, auch wenn diese von ihnen nicht immer bewusst wahrgenommen wird.

2.2 Zweisprachigkeit in der Wissenschaft

2.2.1 Versuch einer operationalen Definition

In der Bundesrepublik Deutschland stand die Erforschung von Zweisprachigkeit und der mit ihr einhergehenden Probleme lange Zeit nicht im Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses. Die relativ geringe Beschäftigung an dieser Thematik in der Vergangenheit lässt sich sicherlich unter anderem durch die in dieser Zeit geringe Vertretung der sprachlichen Minderheiten in Deutschland erklären. Die Lage hat sich derzeit jedoch grundlegend geändert, denn mit dem Zustrom unterschiedlicher ethnischer Gruppen hat sich das Sprachenspektrum in ungeahntem Ausmaß vervielfältigt.

Seit den Anfängen der sogenannten Ausländerforschung bemüht sich die Wissenschaft, die besondere sprachliche Situation der zweisprachigen Kinder begrifflich zu erfassen. Allerdings lässt sich bereits den Versuchen, den Begriff der Zweisprachigkeit oder den aus dem Englischen eingedeutschten Begriff „Bilingualismus“ zu definieren, entnehmen, dass die Wissenschaft diesem Phänomen eher ratlos gegenübersteht. Die Vorstellungen von Zweisprachigkeit sind nicht nur zahlreich, sondern auch extrem unterschiedlich. Sie bewegen sich zwischen den folgenden beiden gegensätzlichen Positionen: Zweisprachig ist, wer die beiden Sprachen perfekt beherrscht, also so, als wären beide seine Erstsprachen („Nativ-like control of two languages“) (Baker/ Prys Jones 1998, S. 87). Eine solche Definition würde die Menge zweisprachiger Individuen stark einschränken. Es könnte sogar gefragt werden, ob solche Individuen überhaupt existent sind. Müssten sie nicht gleichzeitig zwei Leben leben, in denen alle Aktivitäten sich sowohl in der einen als auch in der anderen Sprache abspielen können? Dabei sind die Kriterien, auf die sich diese maximalistische Position stützt, keineswegs so klar, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Was bedeutet beispielsweise perfekt?

[...]

Fin de l'extrait de 93 pages

Résumé des informations

Titre
Probleme der zweisprachigen Kinder im Vorschulalter
Université
Free University of Berlin
Note
1,6
Auteur
Année
2005
Pages
93
N° de catalogue
V44062
ISBN (ebook)
9783638417235
ISBN (Livre)
9783656073840
Taille d'un fichier
639 KB
Langue
allemand
Mots clés
Probleme, Kinder, Vorschulalter
Citation du texte
Elena Rauch (Auteur), 2005, Probleme der zweisprachigen Kinder im Vorschulalter, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/44062

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