Scheitern in der Grundschule? Der Einfluss des Migrationshintergrundes


Examensarbeit, 2018

109 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die Problematik des Scheiterns in der Grundschule
1.1 Funktionen der Schule in der Gesellschaft
1.2 Funktionen der Grundschule
1.2.1 Die Grundschule in Nordrhein-Westfalen
1.3 Die Arten des Scheiterns in der Schule

2. Der Migrationshintergrund als Auslöser von Schulschwierigkeiten
2.1 Der Begriff Migrationshintergrund
2.2 Phasen der Migration
2.2.1 Pädagogische Reaktionen auf Migration
2.3 Bildungsbenachteiligung und Migrationshintergrund – Forschungsergebnisse
2.3.1 Forschungsergebnisse für die Grundschule
2.4 Ausgewählte Erklärungsansätze zur Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund
2.4.1 Die Bedeutung der Sprache

3. Darstellung der Problematik am konkreten Beispiel der ausgewählten Grundschule
3.1 Die Grundschule XY– Beschreibung der Einrichtung
3.1.1 Die Grundschule XY in Bezug zu anderen Grundschulen
3.2 Bildungsbenachteiligung an der Grundschule XY?
3.2.1 Übergang in die Sekundarstufe I
3.2.2 Sonderpädagogischer Förderbedarf
3.2.3 Klassenwiederholung
3.2.4 Zusammenfassung

4. Die Befragung der Lehrkräfte an der GGS XY.
4.1 Der Einsatz des Fragebogens
4.1.1 Die einzelnen Fragen
4.2 Auswertung des Fragebogens
4.2.1 Die Ergebnisse im Einzelnen
4.2.2 Zusammenfassung der Befunde
4.3 Kritische Einschätzung des Fragebogens

5. Möglichkeiten und Maßnahmen das Scheitern zu verhindern
5.1 Sprache
5.2 Lehrkräfte/Lehrerbildung/ Lehrerfortbildung
5.3 Sozialräumliche Segregation
5.4 Ganztagsschulen

6. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Anhang.

Einleitung

Seit der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 war es in aller Munde und wurde im öffentlichen und privaten Raum diskutiert: Die Tatsache, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr Zuwanderer aufnimmt, stellt uns vor einige Probleme. Dabei ist seit Jahren bekannt, dass in Deutschland mehr und mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben. Laut Statistischem Bundesamt hatte bereits 2010 etwa jeder fünfte Einwohner1 einen Migrationshintergrund. Betrachtet man die Gruppe der schulpflichtigen jungen Menschen, ist der Prozentsatz noch höher. Und es steht zu erwarten, dass die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund in den kommenden Jahren wachsen wird.

Integration ist aus diesem Grunde ein wesentliches gesellschaftliches Thema. Das Bildungswesen hat einen großen Anteil daran, wie sich Menschen mit Migrationshintergrund in unsere Gesellschaft eingliedern können, denn dazu müssen Migranten über bestimmte Qualifikationen verfügen, mit denen sie einen Platz im Berufsleben und damit auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erreichen können.

Aufgrund der Durchführung internationaler Vergleichsstudien (z.B. PISA und IGLU) wurde die missliche Situation an deutschen Schulen offenbar und einer breiten Öffentlichkeit wurde deutlich, dass unser Schulsystem hochgradig selektiv und nicht so leistungsfähig wie die Systeme in anderen Ländern ist. In diesem Kontext blieb auch nicht verborgen, dass es Schülergruppen gibt, die mit dem System besondere Schwierigkeiten haben. Bildungsdisparitäten und Chancenungleichheit sind die Schlagworte, die hier häufig fallen. Davon betroffen sind die so genannten ‚bildungsfernen Schichten‘, zu denen gleichermaßen Kinder aus sozial schwachen Familien und Familien mit Migrationshintergrund zählen, wobei diese beiden Gruppen häufig Überschneidungen aufweisen.

Da ich mehrere Jahre als Betreuerin im Offenen Ganztag an einer Grundschule gearbeitet habe, deren Schülerschaft einen hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund aufweist, kenne ich viele der Schwierigkeiten dieser Kinder und auch einige der Probleme der Lehrkräfte. Aus diesem Grund möchte ich mich in dieser Arbeit mit der Frage befassen, ob bzw. inwiefern die Kinder an dieser Schule eine Benachteiligung hinsichtlich ihrer Bildungslaufbahn erfahren und welchen Problemen sich die Lehrkräfte stellen müssen. Außerdem stellt sich die Frage, welche Maßnahmen man ergreifen kann, um die Situation für alle Beteiligten zu verbessern.

Daher habe ich folgende Vorgehensweise gewählt:

Um beschreiben zu können, was man unter ‚Scheitern‘ in der Grundschule verstehen kann, zeige ich zunächst auf, welche Aufgaben Schule in der Gesellschaft zugeschrieben werden und welche besonderen Aufgaben dabei der Grundschule zukommen. In diesem Zusammenhang wird das Problem des Scheiterns in der Schule genauer betrachtet. In Anlehnung an Helsper & Hummrich2, die Befunde aus unterschiedlichen Untersuchungen systematisiert haben, werden verschiedene Aspekte beschrieben, die als Scheitern bzw. Schulmisserfolg aufgefasst werden können. Im Anschluss daran wird der Bereich auf jene Erscheinungsformen eingeschränkt, die an der Grundschule tatsächlich vorkommen können.

Da im Fokus dieser Arbeit der Zusammenhang zwischen schulischem Misserfolg und Migrationshintergrund steht, muss auf den Begriff Migrationshintergrund eingegangen werden, der je nach Studie oder auch Bundesland unterschiedlich benutzt wird, sodass eine Systematisierung der Forschungsergebnisse schwierig ist. Dabei wird auch in den Blick genommen, wie sich die Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute gestaltet hat und welche Konsequenzen für die pädagogische Einflussnahme damit verbunden waren. Es schließt sich eine Darstellung wichtiger Befunde zum Zusammenhang zwischen Bildungsbenachteiligung und Migrationshintergrund allgemein und im Hinblick auf die Grundschule im Besonderen an.

Im nächsten Schritt wird diese Problematik auf die Grundschule XY übertragen. Über die Auswertung statistischer und schulinterner Daten wird die mögliche Bildungsbenachteiligung an dieser Schule einer Betrachtung, hinsichtlich der im ersten Kapitel dargestellten Aspekte, unterzogen.

Die Befragung der Lehrkräfte an der Grundschule XY ergänzt den vorhergehenden Punkt um die Sichtweise der Lehrkräfte. Die Ergebnisse der Lehrerbefragung münden in das letzte Kapitel, in dem Maßnahmen, das Scheitern in der Schule zu verhindern, in den Blick genommen werden.

1. Die Problematik des Scheiterns in der Grundschule

Sobald ein Kind seinen Werdegang in der Schule beginnt, ist mit jedem Fortschreiten immer auch ein Misslingen der Aktivitäten möglich. Um solche Verläufe, die für das betroffene Kind negative Auswirkungen haben, zu beschreiben, soll zunächst auf die Aufgaben des Bildungssystems eingegangen werden.

1.1 Funktionen der Schule in der Gesellschaft

Bildungseinrichtungen und Schulen sind Institutionen mit gesellschaftlichem Auftrag, um gesellschaftliche und kulturelle Strukturen zu reproduzieren und Innovationen zu ermöglichen. „Jede neue Generation wird über das Bildungswesen an den Stand der Fähigkeiten des Wissens und der Werte herangeführt, der für das Fortbestehen der Gesellschaft erforderlich ist.“3 Wie das von den einzelnen Bildungseinrichtungen realisiert wird, ist in den jeweiligen Bundesländern über Schulgesetze und Rahmenrichtlinien festgelegt und wird in den einzelnen Institutionen in konkrete unterrichtliche Vorhaben umgesetzt.

Laut Wiater wird in der Fachliteratur sehr unterschiedlich definiert und begrifflich zugeordnet, was unter den Funktionen von Schule zu verstehen ist. „Die Zahl der Funktionen in neueren Publikationen variiert zwischen zwei und fünf Funktionen.“4

Im Folgenden werde ich mich auf die Ausführungen von Fend beziehen, der zu Beginn der achtziger Jahre in ‚Theorie der Schule‘ die Aufgaben der Schule für die Gesellschaft definierte. Knapp 30 Jahre später nahm er Korrekturen an seiner ursprünglichen Konzeption vor und veröffentlichte seine ‚Neue Theorie der Schule‘, die im weiteren Verlauf den Ausführungen zu den Funktionen der Schule zugrunde gelegt wird.

Als wichtigste Funktion wird von Fend die der Enkulturation angeführt. „Sie bezieht sich auf die Reproduktion grundlegender kultureller Fertigkeiten und kultureller Verständnisformen der Welt und der Person.“5 Hiermit ist gemeint, dass junge Menschen die gängigen Symbolsysteme kennenlernen, die in der Gesellschaft zur Anwendung kommen. Dabei steht als erstes System die Sprache im Vordergrund, aber auch andere Symbolsysteme wie u.a. das der Mathematik gehören in diesen Zusammenhang.6 Die jungen Menschen werden dadurch in die Lage versetzt, eine kulturelle Identität zu erwerben und an der Kultur teilzuhaben.7 Gleichzeitig sollten sie befähigt werden, die kulturellen Bedingungen kritisch zu reflektieren.8

Schule übernimmt für die Gesellschaft außerdem die Qualifikationsfunktion, womit gemeint ist, dass junge Menschen durch die Schule auf ihre zukünftige Rolle als Berufstätige vorbereitet werden, indem ihnen Qualifikationen vermittelt werden, die in der Arbeitswelt benötigt werden. Weil sich Arbeitswelt und Gesellschaft verändern, unterliegen die Kenntnisse und Kompetenzen, die erforderlich sind, ebenso Modifikationen. Reichte es vor Jahrzehnten noch aus, lesen, schreiben und rechnen zu können, so wird heute beispielsweise erwartet, dass man in zumindest einer Fremdsprache über Kenntnisse verfügt und sich zudem in Grundzügen mit der Bedienung eines Computers auskennt. „Darüber hinaus wird in letzter Zeit von der Schule auch gefordert, dass sie sog. Schlüsselqualifikationen vermittelt. Sie werden in der Regel als gewünschte Verhaltensdispositionen formuliert, wie etwa Lernfähigkeit, Kooperationsbereitschaft und Entscheidungskompetenz.“9 Rekus und Mikhail merken an, dass diese Kompetenzen häufig auch als ‚Erziehungsziele‘ genannt werden, bewerten diese aber nicht so, weil ihrer Ansicht nach mit ihnen eindeutig ‚Verwertungsinteressen‘ verbunden sind.

Im Hinblick auf die Sozialstruktur der Gesellschaft, worunter „die soziale Gliederung einer Gesellschaft nach Bildung, Einkommen, Kultur und sozialen Verkehrsformen verstanden“10 wird, übernimmt Schule die Allokationsfunktion. Der Schule kommt die Aufgabe zu, die Heranwachsenden in die verschieden sozialen und beruflichen Positionen zu verteilen. Insofern wird über diese Funktion auch der Zugang „zu Prestige, Macht und Einkommen reguliert“11. Das Schulsystem funktioniert „als großes ‚Rüttelsieb‘ […], das zwischen den Generationen eingebaut ist und zu einer Neuverteilung der Lebenschancen führt“12. Diese Funktion wird häufig auch als Selektionsfunktion bezeichnet, weil in der Schule über Zensuren und Abschlüsse eine Lenkung in bestimmte gesellschaftliche Positionen erfolgt. Fend zieht den Begriff der Allokation dem der Selektion vor, „da nicht die Ausschließung aus erwünschten Bildungslaufbahnen im Vordergrund stehen kann, sondern eine legitimierbare Allokation von Personen mit bestimmten Qualifikationen zu Aufgaben mit bestimmten Anforderungen“13. Allerdings ist es nicht nur die Schule, die Lebenschancen verteilt, denn es kommen weitere Faktoren hinzu. „Neben regionaler und sozialer Herkunft, Begabung, Geschlecht, Beziehungen spielen nicht zuletzt auch Glück und Zufall eine große Rolle.“14

Das Bildungssystem hat schließlich auch die Funktion der Integration. So wird in den Schulen „die Reproduktion von solchen Normen, Werten und Weltsichten institutionalisiert, die zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse dienen“15. Diese Funktion wird auch als Legitimationsfunktion bezeichnet und rückt „die politische Konstitution der Gesellschaft und die Loyalität ihr gegenüber“16 in den Mittelpunkt. Über die Integrationsfunktion wird erreicht, dass die jungen Menschen sich in das bestehende gesellschaftliche, kulturelle, politische und ethische System der Gesellschaft eingliedern und zudem in die Lage versetzt werden, „sich aktiv an der Gestaltung und Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens“17 zu beteiligen.

Nach Fend lässt sich abschließend über die Funktionen des Bildungssystems, das Reproduktion und Innovation zur Aufgabe hat, anmerken, dass dadurch dem Einzelnen kulturelle Teilhabe und Identität, Berufsfähigkeit, Hilfen zur Lebensplanung sowie soziale Identität und politische Teilhabe ermöglicht werden.18

Allerdings können sich aus den verschiedenen Aufgaben, die Schule in der Gesellschaft innehat, auch Konflikte ergeben, da sie sich z.T. auch widersprechen. „Die Schule als Organisation ist – entlang ihrer gesellschaftlichen Funktionen – in einen strukturellen Zielkonflikt eingebunden. Insbesondere die Bildungs- und Selektionsfunktionen gelangen häufig in Widerspruch zueinander.“19 Des Weiteren ist es fragwürdig, ob die Institution Schule, die auf gesellschaftliche Veränderungen nur schwerfällig reagieren kann, obwohl eine schnelle Umsetzung von Maßnahmen an vielen Stellen sinnvoll und erforderlich wäre, alle Funktionen zufriedenstellend erfüllen kann. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte mit veränderter Gesellschaftsstruktur und veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen, (z.B. zunehmende mütterliche Berufstätigkeit, Digitalisierung der Arbeitswelt, Verknappung von Arbeitsplätzen mit geringeren Qualifikationen, Anwachsen der Migration) wurden denn auch häufiger Stimmen laut, die Schule müsse mehr sein und anbieten als nur ein Verteiler auf die unterschiedlichen Positionen in der Gesellschaft. Vielmehr müsse die Schule Möglichkeiten bieten, beispielsweise Sozialisationsdefizite des Elternhauses zu kompensieren.20

Wiater (2013) geht hinsichtlich der verschiedenen Funktionen auf die daraus für die Lehrkräfte resultierenden Aufgaben ein. Das konkrete pädagogische Handeln von Lehrerinnen und Lehrern ist eingebettet in sich ändernde gesellschaftliche Erfordernisse und Erwartungen. „Bleibende Aufgaben wie Unterricht, der Erziehung und Bildung anstrebt, oder Förderung stehen dabei neben solchen, die aus gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre erwachsen sind, wie Integration, Kompensation, Interkulturelles Lernen oder Betreuung.“21

1.2 Funktionen der Grundschule

Da ich mich in dieser Arbeit mit einer Wuppertaler Grundschule beschäftige, ist es von Interesse, welche der Schule zugewiesenen Funktionen in der Primarstufe besonders betont werden oder wie sich die Grundschule in dieser Hinsicht von anderen Schulformen unterscheidet.

Da in Deutschland die Kulturhoheit der Bundesländer gilt, ist das Schulwesen Angelegenheit der Länder, die eine dementsprechend unterschiedliche Ausgestaltung vornehmen. In allen Bundesländern, egal welches Schulmodell für die Sekundarstufe existiert, ist die Grundschule die Basis, auf der alles Weitere aufbaut.

Mit dem ‚Strukturplan für das Bildungswesen‘ wird 1970 die Grundschule als Primarbereich bezeichnet, in der besonderer „Wert auf den Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten“22 gelegt werden soll. Außerdem gibt es seitdem eine Untergliederung in Eingangsstufe, Grundstufe und gegebenenfalls Orientierungsstufe. „Dabei soll der zweijährigen Eingangsstufe die Aufgabe zukommen, die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder auszugleichen, während die Orientierungsstufe eine 'Brückenfunktion in die Sekundarstufe hinein haben soll.“23 Dies gilt allerdings nur für Bundesländer, in denen die Grundschule sechs Jahre umfasst, in Ländern wie Nordrhein-Westfalen, in denen die Grundschulzeit regulär vier Jahre dauert, findet die Orientierungsphase an der jeweiligen Schule des Sekundarbereiches statt. Damit einher geht eine wissenschaftsorientierte Ausrichtung der Grundschule, die aber in den Folgejahren zugunsten eher an den individuellen Lernbedürfnissen der Kinder orientierten Lehrplänen aufgegeben wird, die „sich vorbehaltlich am Konzept der grundlegenden Bildung“24 ausrichten.

Gegenwärtig sind, vor allem durch das unbefriedigende Abschneiden in den internationalen Vergleichsstudien, vielfältige Veränderungen im Schulwesen zu verzeichnen. Auch auf die Grundschule hat dies insofern Auswirkungen, als für sie „ein pädagogischer Anspruch formuliert [wird], der neben der sozialen Integration vor allem den Umgang mit Heterogenität und Vielfalt in den Mittelpunkt stellt“25. Dabei geht es sowohl um Unterschiede im Hinblick auf Entwicklungsunterschiede körperlicher, kognitiver oder psychosozialer Art, aber auch „die Lernhaltung von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft“26 kann darunter gefasst werden.

1.2.1 Die Grundschule in Nordrhein-Westfalen

Die ersten beiden Jahre des Grundschulbesuchs werden als Schuleingangsphase bezeichnet. In dieser werden noch keine Zensuren erteilt, vielmehr werden der Leistungsstand und die Lernentwicklung in den Zeugnissen beschrieben.27 Je nach individueller Entwicklung kann für ein Kind auch ein drittes Jahr in der Schuleingangsphase nötig sein, wobei dieses nicht auf die Dauer der Schulpflicht angerechnet wird. Eine Verkürzung auf ein Jahr ist ebenfalls möglich. Es schließen sich zwei weitere Schuljahre in der Grundschule an.

Die Grundschule hat die besondere Aufgabe grundlegende Kompetenzen aufzubauen, was ihr einen hohen Stellenwert zuweist, der nicht immer genügend gewürdigt wird.28 „In der Grundschule werden grundlegende Lern-, Arbeits- und Sozialformen sowie mathematische, sprachliche und sachunterrichtliche Kompetenzen vermittelt. Daneben sind auch ästhetische, kulturelle, sportliche sowie religiöse Themen Gegenstände des Unterrichts.“29 Außerdem sollen die Kinder schon in der Grundschule Methoden der selbständigen Wissensaneignung kennenlernen.30

Was in der Schuleingangsphase geschieht, wirkt sich prägend auf die gesamte Zeit des Schulbesuchs aus. Die Schuleingangsphase, in der Literatur auch als Anfangsunterricht oder Erstunterricht bezeichnet, „ist notwendig, weil für das Kind mit dem Schulanfang eine veränderte Lebenssituation beginnt. In ihr bildet sich eine Haltung heraus, in der Spielen und Lernen deutlich unterschieden werden.“31 Außerdem müssen die individuellen Unterschiede, die die einzelnen Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihres Entwicklungsstandes, Sozialverhaltens, Vorwissens etc. mitbringen, integriert werden. Auch die Unterschiede aufgrund des erfolgten oder nicht erfolgten Besuchs eines Kindergartens oder einer Kindertagesstätte sowie unterschiedlicher Förderung im Elternhaus machen dies erforderlich. Der Erstunterricht „soll die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Unterricht der Schüler schaffen bzw. weiter entwickeln“32.

Im Hinblick auf die Funktionen der Schule kommt der Schuleingangsphase bereits eine qualifizierende Funktion zu, denn hier werden Kenntnisse und Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens erworben, auf denen weitere Kenntnisse aufgebaut werden sollen. Des Weiteren geht es hier auch um den Aufbau von Selbsttätigkeit, Motivation und sozialen Kompetenzen, für die die jeweiligen Lehrkräfte gut qualifiziert und mit pädagogischem Fingerspitzengefühl ausgestattet sein müssen.33

Zwar fehlt eine formale Abschlussqualifikation am Ende der Grundschulzeit, doch wird die Leistung der Grundschule sehr häufig daran gemessen, wie gut sie auf das Gymnasium vorbereitet, was sich als problematisch erweist. „Da sie eine Zubringerfunktion für die weiterführenden Schulformen hat, in einigen Bundesländern sogar eine Verteilerfunktion (Laufbahngutachten), wird ihre Leistungsfähigkeit zunehmend an ihrem ‚gymnasialen Output‘ und nicht mehr an ihrer grundlegenden Bildungsarbeit gemessen.“34

Laut Bildungsbericht 201235 haben ca. 95% der Schülerinnen und Schüler vor dem Schulbeginn bereits eine vorschulische Einrichtung besucht, sodass sie eigentlich nur von einer erzieherischen Institution in die nächste wechseln. Dabei können sie zwar auf viele Verhaltensmuster zurückgreifen, sehen sich aber auch einer Vielzahl von neuen Strukturen und Anforderungen gegenüber, die eine Anpassung erfordern. Sie werden nun mit Erwartungen konfrontiert, denen sie sich bisher noch nicht stellen mussten, wie z.B. Aufmerksamkeit, das Lernen ernst nehmen, Hausaufgaben. Sie müssen sich an ein strenges Zeitraster halten und sich einem Ordnungssystem fügen, d.h. pünktlich sein, Schul- und Sportsachen mitbringen. Dazu kommt, dass nach einiger Zeit das Lernen von der Lehrerin bewertet und später auch Zensuren vergeben werden. Die Mitschüler und Mitschülerinnen sind dann nicht mehr nur Kameraden, sondern auch Konkurrenten. Alle diese genannten neuen Anforderungen können für das Grundschulkind sehr verunsichernd wirken und daher sind die Lehrkräfte gefordert, ein verträgliches Maß an Sicherheit und Herausforderung zu finden, um den Schulbeginn für die Kinder angemessen zu gestalten.36 Dies kann eigentlich nur gelingen, wenn Schule und Elternhaus Hand in Hand arbeiten und Schule somit in die Lage versetzt wird, ihren Erziehungsauftrag zu erfüllen und das Elternhaus zu ergänzen.

Dies ist insbesondere wichtig, da „in Bezug auf Bildung bereits relativ kleine Niveauunterschiede am Anfang des Bildungsverlaufs oftmals in großen Disparitäten der daran geknüpften Lebenschancen im weiteren Lebensverlauf enden.“37 In der Grundschule Schwierigkeiten zu haben, heißt demnach schon zu Beginn eines langen Weges durch die Bildungsinstitutionen nicht auf die ‚rechte Bahn‘ gelenkt zu werden und damit schon frühzeitig im Wettbewerb um die guten Positionen in der Gesellschaft behindert, wenn nicht sogar ausgeschlossen zu werden.

Misserfolge in der Grundschule bedeuten zumindest eine erschwerte Schullaufbahn, was dazu führen kann, am Übergang zur Sekundarstufe I eine Hauptschulempfehlung statt einer Gymnasialempfehlung zu bekommen. Scheitern kann aber auch bedeuten, eine Förderschule besuchen zu müssen und damit auf nicht absehbare Zeit aus dem regulären Schulbetrieb ausgegrenzt zu werden.

Wenn ein Kind über die Grundschule nicht den Zugang zu den, für einen möglichst reibungslosen Durchlauf durch die Institutionen des Schulwesens, notwendigen Grundlagen bekommen kann, so werden die der Grundschule zugeschrieben Funktionen nicht erfüllt.

Dass es unterschiedliche Ursachen für ein Scheitern gibt, ist belegt. Gerade das deutsche Schulsystem hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten als Chancenungleichheit fördernd herausgestellt. So weisen Untersuchungsergebnisse aus, dass vor allem Kinder aus sozial benachteiligten bildungsfernen Schichten Schwierigkeiten haben. Vor allem aber zeigt sich, dass Kinder mit Migrationshintergrund von Schwierigkeiten betroffen sind.38

Im IQB-Bildungstrend 2016 wird darauf hingewiesen, dass bundesweit kaum positive Veränderungen bezogen auf Kompetenzen in Deutsch und Mathematik seit 2011 zu verzeichnen sind. Allerdings zeigt sich eine erhöhte Heterogenität dadurch, „dass der Anteil der Kinder aus zugewanderten Familien an deutschen Schulen im Primarbereich gestiegen ist“39. Gleichzeitig wurde im Rahmen der Inklusion der Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Grundschulen höher.40

1.3 Die Arten des Scheiterns in der Schule

Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, was unter dem Begriff ‚Scheitern in der Schule‘ zu verstehen ist. Misserfolge in der Schule bzw. das Ausbleiben von Schulerfolg im Sinne des Erwerbs von Kompetenzen, die den Besuch einer weiterführenden Schule ermöglichen und somit die Chance auf eine Teilhabe an der Gesellschaft durch die Möglichkeit, einen Beruf auszuüben und damit die finanzielle Ebene abzusichern, stehen dabei im Vordergrund.

In Deutschland wird jedem Einzelnen das Recht auf Chancengleichheit im Bildungssystem zugesprochen. Dies lässt sich u.a. aus dem Grundgesetz ableiten. „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“41 und hat auch in etlichen von den Ländern und der KMK beschlossenen Gesetzen und Regelungen Niederschlag gefunden. Allerdings zeigt die Praxis seit Jahrzehnten, dass dieses Recht nicht von allen gleich wahrgenommen werden kann. Bis weit in die 1990er Jahre wiesen Bildungsstatistiken eine ungleiche Bildungsbeteiligung für Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten aus, wobei z.B. ein Ergebnis war, dass Arbeiterkinder deutlich seltener ein Gymnasium besuchten als Kinder aus höheren sozialen Schichten.42 Durch PISA und IGLU wurden solche Bildungsungleichheiten weiter aufgedeckt, denn „Schülerinnen und Schüler aus unteren sozialen Schichten und damit aus weniger bildungsorientierten Elternhäusern sowie Lernende mit Migrationshintergrund haben erheblich mehr Probleme bei der Kompetenzentwicklung mitzuhalten und gehören überproportional zu den Risikogruppen“43.

Nicht immer gelingt Kindern, aus den verschiedensten Gründen, ein reibungsloses Absolvieren der schulischen Institutionen. Das deutsche Schulsystem erfordert viele und vor allem auch frühe Übergangsentscheidungen, u.a. auch deshalb wird ihm eine hohe Selektivität zugeschrieben. Durch die Organisation des Bildungswesens sind „bereits von Anfang an scheiternde und versagende Bildungskarrieren vorgezeichnet“44. Dabei sind diverse Abweichungen vom Regelverlauf möglich, die hier unter dem Begriff ‚Scheitern in der Schule‘ zusammengetragen und anschließend im Hinblick auf die Grundschule betrachtet werden sollen.

Von besonderer Bedeutung sind die Übergänge im Bildungswesen, was schon für den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule, viel mehr noch für den Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe gilt. „Sie gewinnen gesellschaftlich besondere Bedeutung dadurch, dass diese Gelenkstellen der Bildungskarriere als entscheidende Stationen für die Entstehung von Bildungsungleichheiten identifiziert wurden.“45

Schon beim Eintritt in die Grundschule können sich für Kinder Schwierigkeiten ergeben. In Nordrhein-Westfalen, wie auch in vielen anderen Bundesländern, sind per Gesetz Kinder, die bis zum 30. September des Schuljahres das sechste Lebensjahr vollendet haben, zum 1. August des Jahres schulpflichtig. Auf Antrag der Eltern ist auch eine frühere Einschulung für Kinder, die erst nach dem Stichtag das sechste Lebensjahr vollenden, möglich. Diese bedarf der Entscheidung durch die Schulleiterin oder den Schulleiter unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung.46 Der Einschulung geht eine ärztliche Untersuchung voraus, mit der die Schulreife oder ein eventueller Förderbedarf festgestellt wird. Bei dieser Untersuchung wird ein Schulfähigkeitsprofil erstellt, welches „den pädagogischen Fachkräften in den Kindergärten sowie den Lehrerinnen und Lehrern in den Grundschulen und Förderschulen des Primarbereichs in der Übergangsphase vom Kindergarten in die Schuleingangsphase eine Orientierung geben“47 soll. Bis vor einigen Jahren konnten Kinder, die in ihrer Entwicklung physisch und/oder psychisch für noch nicht schulgeeignet befunden wurden, vom Schulbesuch zurückgestellt werden und besuchten dann in der Regel einen Schulkindergarten, um in der Zeit zwischen dem Kindergarten und dem Eintritt in die erste Klasse der Grundschule auf den Schulbesuch gezielt vorbereitet zu werden.48 Dies ist seit mehreren Jahren nicht mehr der Fall. Kinder, bei denen ein Förderbedarf festgestellt wird, werden eingeschult und in der Schule werden dann Maßnahmen ergriffen, um Defizite auszugleichen, denn nach den schlechten PISA-Ergebnissen brach eine regelrechte Reformwelle über das Schulsystem herein. Es wurde nach Möglichkeiten der Optimierung gesucht, die sich auch auf die Grundschule bezogen. So beruft sich das Schulministerium selbst auf die internationalen Vergleichsuntersuchungen, aus denen der Schluss gezogen wurde, „dass Deutschland seine Bildungsanstrengungen erhöhen muss“49. Hier wird zunächst auf die Frühförderung im Kindergarten verwiesen, durch deren Intensivierung eine bessere Schulvorbereitung und somit bessere Chancen für alle Kinder geschaffen werden sollen. Dabei sollen sich Erzieher und Erzieherinnen und Grund- und Förderschullehrerinnen und -lehrer in der Übergangsphase zwischen Kindergarten und Schuleingangsphase an einem „Schulfähigkeitsprofil“50 orientieren. Kinder werden aufgrund der geänderten Stichtage nun früher als noch vor einigen Jahren eingeschult. Es ist aber für einige Kinder aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch zu früh, so dass manche Eltern den frühen Schuleintritt verhindern möchten. Die Rückstellung vom Schulbesuch gibt es allerdings nur noch in ganz besonderen Fällen und auf besonderen Antrag. In NRW werden seit dem 01.08.2011 nur noch solche Kinder vom Schulbesuch zurückgestellt, bei denen schwerwiegende gesundheitliche Gründe vorliegen.51 Darüber hinaus ist der Weg zurück in den Kindergarten rechtlich versperrt, wenn ein Kind erst einmal eingeschult worden ist. Eine zu frühe Einschulung kann aber bedeuten, dass das Kind, weil es dem Schulbetrieb noch nicht gewachsen ist, stört, verhaltensauffällig oder krank wird, so dass an dieser Stelle schon von Scheitern gesprochen werden kann. Dem soll durch unterrichtliche Maßnahmen in der Schuleingangsphase, die in einem, zwei oder drei Jahren, der Regelfall sind zwei Jahre, durchlaufen werden kann, entgegengewirkt werden, so dass verschiedene Lernvoraussetzungen und Entwicklungsstände berücksichtigt und Schülerinnen und Schüler individuell gefördert werden können. „Viele Formen des differenzierenden Unterrichts ermöglichen es, Schülerinnen und Schüler auf unterschiedlichen Kompetenzstufen zu fördern.“52 Scheitern kann auch bedeuten, dass ein Kind aus dem regulären Schulbetrieb herausgenommen und an eine Förderschule überwiesen wird. Helsper & Hummrich betrachten dies als „gravierende Weichenstellung in der Schullaufbahn“53, denn eine solche Maßnahme schränkt die späteren Chancen des Kindes stark ein und das häufig schon zu einem frühen Zeitpunkt. Im Jahr 2002 betrug die Überweisungsquote auf Förderschulen bundesweit 4,2%. Weil Kinder, die einmal an eine Förderschule überwiesen wurden, nur selten in den regulären Schulbetrieb zurückkehren, ist dies „ein Weg ohne Wiederkehr“54, zumal diejenigen auch zumeist nur untere Abschlüsse erwerben, wenn überhaupt. „Damit ist der Besuch einer Sonderschule eine ganz erhebliche Weichenstellung für Exklusionskarrieren.“55 Inzwischen ist es aber auch möglich, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Rahmen der Inklusionsbestrebungen an Regelschulen zu fördern.56 Dennoch werden, nicht zuletzt aufgrund von schulischen Empfehlungen, Kinder an Förderschulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten überwiesen.

Die Wiederholung einer Klasse, im allgemeinen Sprachgebrauch als Sitzenbleiben bezeichnet, ist wohl eine der bekanntesten Arten schulischen Scheiterns. Das Kind hat im Laufe des Schuljahres in mindestens zwei Fächern keine ausreichenden Leistungen erbracht und es wird davon ausgegangen, dass aufgrund dessen eine erfolgreiche Weiterarbeit im darauffolgenden Schuljahr nicht gewährleistet ist. Dann ist die Wiederholung einer Jahrgangsstufe erforderlich. Für die Grundschule ist die Versetzungsordnung etwas anders geregelt. Während auch dort der Zugang zur dritten und vierten Klasse nur durch Versetzung möglich ist, „gehen die Schülerinnen und Schüler ohne Versetzung vom ersten Schulbesuchsjahr in das zweite Schulbesuchsjahr über. Ein Kind wird versetzt, wenn seine Leistungen in allen Fächern mindestens ausreichend sind. Ein Kind kann auch dann versetzt werden, wenn eine positive Prognose für die Teilnahme am Unterricht in der nächst höheren Klassenstufe besteht“57.

Helsper/Hummrich betrachten die Wiederholung einer Klasse für Schülerinnen und Schüler als „Form institutionalisierter Degradierung, [die] zu einem konstitutiven Bestandteil ihrer Schulkarriere und Schulerfahrung“58 werden kann. Ihre Betrachtung dieses Sachverhalts erfolgte allerdings aufgrund von Datenmaterial aus den Jahren 2002/2004, so dass diese als Grundlage für verlässliche Aussagen über den heutigen Stand nicht mehr herangezogen werden können und lediglich Tendenzen aufzeigen sollen. In Nordrhein-Westfalen ist die Versetzung einer Schülerin oder eines Schülers inzwischen der Regelfall. Nur wenn Fördermaßnahmen nicht gefruchtet haben und eine Teilnahme am Unterricht der nächst höheren Klassenstufe selbst mit unterstützenden Maßnahmen nicht möglich wäre, werden Kinder nicht versetzt.

Die Quoten der Wiederholer sind besonders hoch für männliche Schüler, solche aus sozial schwachen und bildungsfernen Milieus sowie für Heranwachsende aus Milieus, in denen Deutsch nicht als Muttersprache gesprochen wird.59

„Für Kinder mit Migrationshintergrund ist aber gerade die Grundschule ein Ort verstärkten Wiederholens: Hier liegen in den ersten drei Grundschuljahren die Quoten der Wiederholer zwischen 4 und 5%.“60 Dies ist zum großen Teil auf mangelnde Lesekompetenz zurückzuführen.

Im Anschluss an die Grundschule stellt der Übergang in die Sekundarstufe eine weitere Hürde dar, denn hier entscheidet sich, an welcher Schulform die Kinder die nächsten Jahre verbringen werden. Der Übergang ist insofern von großer Bedeutung, als er weitestgehend über die berufliche Zukunft eines Kindes entscheidet. Zur Wahl stehen in Nordrhein-Westfalen Gymnasien, Realschulen, Hauptschulen und Gesamtschulen. Seit 2011 gibt es in manchen Städten außerdem Sekundarschulen, die die Klassenstufen 5-10 abdecken und integrierte Bildungsgänge anbieten.61 Darüber hinaus sind die Jahrgangsstufen 5 und 6 an allen Schulformen als Erprobungsstufe konzipiert, um sicherzustellen, dass das Kind die jeweils angemessene Schulform besucht. Sollte sich herausstellen, dass die Schulform, an der das Kind sich derzeit befindet, nicht seinen Fähigkeiten entspricht, so wird spätestens am Ende der Orientierungsstufe das Kind per Konferenzbeschluss an eine andere Schulform überwiesen. Die Erfahrungen zeigen allerdings, dass die Durchlässigkeit des Systems eher nach unten gegeben ist, denn die meisten Konferenzbeschlüsse zielen darauf ab, das Kind an eine niedrigere Schulform zu überweisen.62

In den meisten Bundesländern, so auch in Nordrhein-Westfalen, werden die Eltern im ersten Halbjahr des 4. Schuljahres über die verschiedenen Bildungsgänge in einer Informationsveranstaltung informiert, wobei ein persönliches Gespräch zwischen Eltern und Lehrerin oder Lehrer angeboten werden muss.63 Die Übergangsempfehlung wird am Ende des ersten Halbjahres gegeben. Auf der Grundlage von Leistungsstand und Lern- und Arbeitsentwicklung wird die Eignung oder die Eignung mit Einschränkung für eine bestimmte Schulform festgestellt. Dabei muss kein bestimmter Notendurchschnitt erreicht werden, „die Empfehlung basiert auf der komplexen pädagogischen Einschätzung des Kindes durch die Lehrkräfte“64. Entscheiden sich die Eltern dazu der Empfehlung zu folgen, können sie ihr Kind an einer Schule der empfohlenen Schulform anmelden. Möchten sie der Empfehlung nicht entsprechen, werden weitere Maßnahmen erforderlich, je nachdem, ob sie eine höhere oder niedrigere als die empfohlene Schulform wählen.65

In einer sehr umfänglichen Untersuchung, die im Schuljahr 2006/2007 in 13 Bundesländern durchgeführt wurde, gingen Baumert et al. der Frage nach, inwiefern u.a. die soziale Herkunft und der Migrationshintergrund die Übergangsentscheidung nach der vierten Klasse beeinflussen. Dabei stellte sich heraus, dass sich die soziale Herkunft der Kinder auf die Schulnoten, die Übergangsempfehlung und die tatsächliche Übergangsentscheidung auswirkt. Primäre als auch sekundäre Herkunftseffekte werden hier wirksam.66 Allerdings kann sich der Migrationshintergrund anders auf die Übergangsentscheidung auswirken als der sozioökonomische Status. „So weisen Migranten und ihre Nachkommen mitunter eine höhere Bildungsaspiration auf – obwohl sie weniger häufig an weiterführender Bildung partizipieren.“67 Es wurde das Übergangsverhalten bei türkischstämmigen Kindern einerseits und Kindern von (Spät-)Aussiedlern andererseits untersucht, welche die beiden größten Zuwanderergruppen repräsentieren, sich aber „hinsichtlich der Migrationsgeschichte und des sozialen und kulturellen Hintergrunds unterscheiden“68. Es zeigte sich, dass bei Kindern aus beiden Migrantengruppen „grundsätzlich niedrigere Chancen auf den Gymnasialbesuch bestehen“69, was auch mit dem niedrigeren sozioökonomischen Status der Familien in Zusammenhang steht. In diesem Kontext lässt sich jedoch ein positiver sekundärer Effekt des Migrationshintergrunds nennen, wenn nämlich vergleichbare schulische Leistungen vorlagen, hatten vor allem türkischstämmige Kinder „deutlich höhere Chancen das Gymnasium zu besuchen, als Kinder ohne Migrationshintergrund.“70 Dies wird mit dem Bestreben der Migranten erklärt, sich sozial und ökonomisch zu verbessern und daher höhere Bildungsgänge anzustreben.71 Vielfach können Schülerinnen und Schüler aber keine höheren Bildungsgänge erreichen, weil die schulischen Leistungen dafür nicht ausreichen. Das bedeutet aber, dass vor dem eigentlichen Übergang Maßnahmen ergriffen werden müssen, um günstigere Voraussetzungen für diese Schülergruppe zu schaffen. Solche Fördermaßnahmen sollten in der Vor- und Grundschulzeit angesetzt werden und besonders sprachliche Förderung beinhalten.72

Eine weitere Form des Scheiterns in der Schule ist die Schulverweigerung, die jedoch eher ein Phänomen des Jugendalters ist. Allerdings berichtete die Schulleiterin der von mir behandelten Grundschule von zwei solchen Fällen. Verweigerung äußert sich dabei nicht durch Fernbleiben vom Unterricht, sondern bezieht sich auf die Arbeitshaltung. Die Kinder boykottieren den Unterricht, indem sie sich weigern Arbeitsaufträge auszuführen oder Aufgaben zu erledigen.

Darüber hinaus wird in der Forschung der chronische Misserfolg in der Schulkarriere beschrieben. Damit wird auf die Gruppe von Kindern verwiesen, die zwar statistisch so gut wie nicht erfasst werden, weil sie eben nicht sitzenbleiben oder die Schulform wechseln, dennoch immer wieder davon bedroht sind, weil ihre Leistungen nur gerade so ausreichen. Es ist davon auszugehen, dass eine solch prekäre Lage ein Kind in seinem Leistungsverhalten, seiner Psyche und seiner Leistungsmotivation erheblich beeinflussen dürfte.73 Aber auch dieser Aspekt lässt sich eher Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe zuordnen und ist im vorliegenden Kontext zu vernachlässigen.

2. Der Migrationshintergrund als Auslöser von Schulschwierigkeiten

Da sich die vorliegende Arbeit mit einer Grundschule befasst, an der ca. 90% der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund haben, stellt sich hier zunächst einmal die Frage, was genau als Migrationshintergrund aufzufassen ist. Zwar ist dieser Begriff auch in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen, doch wird er höchst unterschiedlich verwendet.

2.1 Der Begriff Migrationshintergrund

Im Folgenden wird der Begriff Migrationshintergrund in verschiedenen Definitionen einer näheren Betrachtung unterzogen. Dies ist wichtig, da aufgrund unterschiedlicher zugrunde gelegter Begriffsdefinitionen Ergebnisse von Studien nicht ohne Weiteres vergleichbar sind.

Bis 2005 wurde noch zwischen In- und AusländerInnen unterschieden. Als Folge der Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahre 2000 verwendete das Statistische Bundesamt ab 2005 den Begriff Migrationshintergrund. Damit wird nun über die Gruppe der Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft hinaus erfasst, wie hoch die Anzahl der Menschen ist, die eine Migrationsgeschichte haben.74 Die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ist daher deutlich höher als die der Ausländerinnen und Ausländer. Im Jahr 2016 lag der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 22,5%, Ausländerinnen und Ausländer machen weniger als die Hälfte aller Personen mit Migrationshintergrund aus, nämlich 10,9%.75 Auch im Bildungsbericht 2016 wird darauf hingewiesen, „dass mehr als doppelt so viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland leben als Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit“76.

Das Statistische Bundesamt sieht einen Migrationshintergrund dann als gegeben, wenn jemand „selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist“77. Weiter heißt es dort: „Zu den Personen mit Migrationshintergrund gehören im Einzelnen alle Ausländer, (Spät-)Aussiedler und Eingebürgerten. Ebenso dazu gehören Personen, die zwar mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren sind, bei denen aber mindestens ein Elternteil Ausländer, (Spät-)Aussiedler oder eingebürgert ist.“78

Die Statistischen Landesämter machen allerdings nicht alle von dieser Definition Gebrauch. Leser hat einen Überblick über die unterschiedliche Handhabung in den einzelnen Bundesländern zusammengestellt, der eindrucksvoll belegt, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland noch weit von einem einheitlichen Konzept entfernt sind und daher Vergleichbarkeit nicht unbedingt gegeben ist.79 Über die unklare Datenlage und die unterschiedlichen Vorgehensweisen zur Erfassung des Migrationshintergrundes auf Landesebene sowie die damit verbundenen Konsequenzen für die Vergleichbarkeit von Daten informiert ausführlich Kemper.80 Einzelne Bundesländer sind bereits dazu übergegangen, den Begriff Migrationshintergrund für die Schulstatistik zu übernehmen, manche halten aber auch noch an der Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländerinnen und Ausländern fest. Diejenigen Länder, die den Migrationshintergrund in ihren Schulstatistiken erfassen, beziehen sich dabei auf die Definition der Kultusministerkonferenz (KMK), die im Jahre 2008 die Schwierigkeit den Migrationshintergrund definitorisch zu erfassen aufgriff, da mehrere Definitionen nebeneinander vorhanden waren, und beschloss folgende Definition:

Aufgrund der verfügbaren Daten hat sich die Kultusministerkonferenz auf drei Merkmale verständigt. Danach ist bei Schülerinnen und Schülern ein Migrationshintergrund anzunehmen, wenn mindestens eines der folgenden Merkmale zutrifft:

- keine deutsche Staatsangehörigkeit,
- nichtdeutsches Geburtsland,
- nichtdeutsche Verkehrssprache in der Familie bzw. im häuslichen Umfeld (auch wenn der Schüler/die Schülerin die deutsche Sprache beherrscht).81

Diese Definition ist enger gefasst als viele andere, zudem wird der Migrationshintergrund bei den Kindern, und nicht wie vorher über die Eltern ermittelt. Außerdem deuten die Aspekte der Definition schon auf Faktoren hin, die mögliche Beeinträchtigungen der Teilhabe an schulischer Bildung bewirken können. So lässt sich z.B. annehmen, dass eine andere als die deutsche Sprache zu Hause ein Erschweren der sprachlichen Aufnahme in der Schule bewirkt oder ein anderes Geburtsland andere kulturelle Erfahrungen bedingt, die dem Schulerfolg abträglich sein könnten.82

Die IGLU- und PISA-Studien aus dem Jahr 2000 verfahren wiederum anders. Ein Migrationshintergrund wird Schülerinnen und Schülern zugeschrieben, „die im Fragebogen angeben, dass sie selbst im Ausland geboren wurden oder dass sie mindestens einen Elternteil haben, der im Ausland geboren wurde“83. Dabei wird auf die Sprache im Elternhaus nicht eingegangen. Ab 2003 wurde in den PISA-Studien zwischen erster und zweiter Migrationsgeneration unterschieden.84

Für das Land Nordrhein-Westfalen, nach der Definition in § 4 des Teilhabe- und Integrationsgesetzes NRW,

sind Menschen mit Migrationshintergrund

- Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Artikels 116 Absatz 1 des Grundgesetzes sind oder
- außerhalb des heutigen Gebietes der Bundesrepublik Deutschland geborene und seit dem 1. Januar 1950 nach Deutschland zugewanderte Personen oder
- Personen, bei denen mindestens ein Elternteil die Kriterien der Nummer zwei erfüllt.85

Das bedeutet, dass nicht nur Ausländerinnen und Ausländer mit diesem Begriff gemeint sind, sondern auch Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die entweder selbst eingewandert sind (1. Generation) oder deren Eltern eingewandert sind (2. Generation). Außerdem wird hier darauf verwiesen, dass solche Begriffsgebungen auch stigmatisierend sein können, was natürlich vermieden werden soll.

Begriff ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ hat als statistische Kategorie dort seien Platz, wo es gilt, Besonderheiten der sozialen Lage zu erfassen, um Benachteiligungen zu überwinden. Er ist dort abzulehnen, wo er benutzt wird, um die Bevölkerung zu spalten und Menschen durch eine Reduzierung auf eines von vielen Persönlichkeitsmerkmalen zu etikettieren, auszugrenzen und zu benachteiligen.86

Die Abkehr vom früher gebräuchlichen Ausländerkonzept zum Migrationskonzept bedeutet das Zugeständnis, dass trotz einer deutschen Staatsbürgerschaft der Migrationshintergrund wirksam sein kann, denn aus dem Migrationshintergrund können sich Sprachschwierigkeiten oder andere Probleme ergeben. Die Neuorientierung ist nicht zuletzt aufgrund der internationalen Schulvergleichsstudien erfolgt, die Zuwanderung nicht nur über Staatsangehörigkeit abfragen.87

Bos und Wendt88 stellen eine Unterscheidung von vier Teilgruppen hinsichtlich der Zuwanderungsgeschichte als allgemein akzeptiert und gebräuchlich dar, welche in ähnlicher Form auch im IQB-Bildungstrend 2016 Anwendung findet. So wird unterschieden zwischen den folgenden Gruppen:

- Schülerinnen und Schüler ohne Zuwanderungshintergrund: beide Eltern sind in Deutschland geboren;
- Schülerinnen und Schüler mit einem im Ausland geborenen Elternteil: ein Elternteil ist in Deutschland, der andere Elternteil ist im Ausland geboren;
- Schülerinnen und Schüler der zweiten Zuwanderungsgeneration: beide Elternteile sind im Ausland geboren, die Schülerin oder der Schüler selbst ist in Deutschland geboren;
- Schülerinnen und Schüler der ersten Zuwanderungsgeneration: sowohl beide Elternteile als auch die Schülerin oder der Schüler selbst sind im Ausland geboren.89

Wenn eins der drei letztgenannten Merkmale zutrifft, wird von einem Migrationshintergrund ausgegangen.

Abschließend lässt sich festhalten, dass noch immer keine einheitliche Definition des Begriffs Migrationshintergrund zu finden ist, sodass verschiedene Untersuchungen mit unterschiedlichen Definitionen arbeiten. Bezüglich der Auswertung von Untersuchungen zum Bereich Bildungsbenachteiligung wird somit „eine Vergleichbarkeit der jeweiligen Ergebnisse und daraus hervorgehenden Schlussfolgerungen“90 erschwert.

2.2 Phasen der Migration

Wie die steigenden Zahlen der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland verdeutlichen, bestimmt Migration unser Zeitalter und beeinflusst deshalb alle Bereiche des öffentlichen und auch individuellen Lebens. Die Tatsache, dass Deutschland seit Mitte des letzten Jahrhunderts ein Migrationsland ist, hatte allerdings bis zum Beginn der 2000er Jahre kaum Maßnahmen zur Folge, die diesem Umstand ausreichend Rechnung getragen hätten. Gerade aber die Pädagogik ist durch die Migrationsgesellschaft gefordert.91

Nicht nur gewohnte Praxen und Institutionalisierungsformen pädagogischen Handelns, auch pädagogische Selbstverständnisse und Programme werden unter Bedingungen der Vielfalt von ethnisch-kulturellen Zugehörigkeiten und demokratisch nicht legitimierbarer Ungleichheit prekär bzw. in ihrem prekären Status sichtbar.92

Mecheril unterscheidet hierbei „drei Wanderungstypen: Aussiedlung, Arbeitsmigration und Flucht“93. Auf die wesentlichen Aspekte dieser Typisierung soll hier kurz eingegangen werden, um im Anschluss in den Blick zu nehmen, wie die Bildungsinstitutionen und die Pädagogik auf die Zuwanderung reagierten. Dabei wird hauptsächlich die Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg betrachtet, um den Rahmen nicht zu sprengen. Des Weiteren bleiben die Flüchtlingsbewegungen seit 2015 noch unberücksichtigt, da noch nicht absehbar ist, wie sich diese auf das Schulsystem auswirken werden.94

Bei der Gruppe der Aussiedler handelte es sich zunächst einmal um ca. 12 Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die bis in die 50er Jahre nach Ost- und Westdeutschland kamen.95 Trotz der hohen Anzahl von Menschen gelangen Integrations-prozesse gut, was nach Ansicht von Mecheril daran lag, dass einerseits ein hoher finanzieller Einsatz dahinter stand, andererseits es sich hier um Deutsche handelte und daher so gut wie keine sprachlichen Schwierigkeiten die Eingliederung behinderten. Die Einwanderung von Personen, die zwar deutschstämmig waren, aber nach dem Krieg auf dem Staatsgebiet von z.B. Polen und Russland lebten, weil sie zum Teil in diese Länder auch zwangsdeportiert worden waren, ging auch später noch weiter und fand ihren Höhepunkt am Ende der 1980er Jahre „mit dem Ende des Staatssozialismus und der Aufhebung der Reisebeschränkungen“96. Allein in den Jahren 1988 bis 1998 wanderten ca. 2,5 Millionen Spätaussiedler ein, von denen die meisten aus Russland stammten, die zweitgrößte Gruppe aus Polen und eine kleinere Anzahl aus Rumänien. Mit der hohen Anzahl von Aussiedlern, die nach Deutschland strömten, wurde die Eingliederungspolitik verändert. Ab den 1990er Jahren wurden die Eingliederungshilfen verringert. Da die Aussiedler immer jünger waren, ließen sich auch vermehrt schlechte Deutschkenntnisse feststellen, was die Integration stark beeinträchtigte. Hinzu kamen Gesetzesänderungen, die seit dem Jahr 2000 die Zahl der aufzunehmenden Spätaussiedler auf jährlich 100.000 und damit stark begrenzte.97

Eine weitere Art der Migration ist die Arbeitsmigration, die in Deutschland in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts begann, da die Wirtschaft florierte, aber nicht genügend Arbeitskräfte vorhanden waren. Als Folge des sogenannten ‚Wirtschaftswunders‘ „wurden in einem Ausmaß Arbeitsplätze benötigt und geschaffen, dass […] der Bedarf an Arbeitskraft in Westdeutschland nicht mehr allein durch autochthone Arbeitskräfte gedeckt werden konnte“98. So wurden 1955 die ersten Arbeitskräfte aus Italien, später aus Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal, Tunesien und Marokko und Jugoslawien angeworben. Man wollte auf diese Weise Engpässe in der Besetzung von Arbeitsplätzen ausgleichen, bei denen es sich vor allem um solche Arbeit handelte, die an Deutsche kaum zu vergeben war, weil sie schlecht bezahlt und vor allem unattraktiv war.

Dass es sich bei den Arbeitsmigranten um Menschen handeln könnte, die später auch bleiben würden, daran war damals nicht gedacht worden, zumal sie zunächst nur Einjahresverträge bekamen, die dem entgegenwirken sollten.99 Es galt das Rotationsprinzip, bei dem im Einjahresrhytmus neue Gastarbeiter kamen. Dies wurde erst zu Beginn der 1970er Jahre zugunsten verlängerter Aufenthaltsgenehmigungen aufgegeben. Die so genannten ‚Gastarbeiter‘ erhielten weder Sprachkurse, noch andere Maßnahmen, die einer Integration hätten förderlich sein können. „Folglich mussten sich die eingewanderten Arbeitskräfte die deutsche Sprache selbständig und auf eigene Kosten, finanzieller wie psychischer Art, aneignen.“100

Zwar kamen in den Jahren zwischen 1955 und 1973 ca. 14 Millionen Menschen nach Deutschland, um hier zu arbeiten, aber aufgrund des Rotationsprinzips verließen auch 11 Millionen Menschen das Land wieder. 3 Millionen blieben, holten ihre Familien nach und behielten ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland.

Arbeitsmigration wird auch heute wieder in Deutschland thematisiert, vor allem vor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangels in qualifizierten Berufen. Außerdem ist Migration aufgrund der demografischen Verhältnisse immer wieder ein Thema. „Neue Zuwanderungskonzepte reagieren auf diesen (prognostizierten) Rückgang der Bevölkerung insgesamt und insbesondere der arbeitenden Bevölkerung, welcher vornehmlich als ökonomisches Problem thematisiert wird.“101 Eine Schwierigkeit in diesem Zusammenhang liegt nach Ansicht von Mecheril darin, dass zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Zuwanderern unterschieden wird, nämlich solchen, die zu unserem Wohlstand beitragen und den anderen, die „»unsere« Ressourcen verbrauchen“102.

Eine weitere Migrantengruppe setzt sich aus Personen zusammen, die aus ihrem ursprünglichen Lebensraum aus den verschiedensten Gründen geflohen sind und nun in Deutschland Asyl beantragen. Mögliche Gründe für die Migration sind z.B. politische Verfolgung, Verfolgung wegen der Religionszugehörigkeit, Rasse oder Zugehörigkeit zu einer verfolgten sozialen Gruppe. Mit der ‚Flüchtlingswelle 2015‘ kam eine große Anzahl von Personen aus Syrien nach Deutschland, weil sie vor dem Krieg in ihrem Land flohen. „2015 wurden mehr als 1 Million Menschen als schutz- und asylsuchend registriert.“103 Mecheril weist in seinen Ausführungen darauf hin, dass der Begriff Asylant bei der Bevölkerung negativ besetzt ist und durch den rechtlichen Rahmen Asylanten eher wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, weil sie in Sammellagern untergebracht werden, keine Arbeitserlaubnis bekommen, solange ihr Verfahren läuft, ihnen Sozialhilfe größtenteils in Naturalien zukommt.104

2.2.1 Pädagogische Reaktionen auf Migration

Die oben grob c harakterisierten Gruppen der Migranten, die sich in Deutschland aufhalten bzw. aufgehalten haben, haben jedoch nicht von Beginn an Förderung und Unterstützung z.B. bezogen auf die Integration in die Bildungseinrichtungen bekommen. Nach Mecheril105 werden diese Prozesse und notwendige pädagogische Hilfestellungen erst in den 1970er Jahren diskutiert, da eine deutlich erkennbare Zahl an ‚Ausländerkindern‘ in den Schulen anzutreffen ist, was sich durch die Lehrerinnen und Lehrer bemerkbar macht, die sich im Alltag mit diesen Kindern überfordert fühlen, aber auch durch Eltern, „die den Schulerfolg ihrer Kinder durch die Anwesenheit »ausländischer« Kinder gefährdet sehen“106. Hier beginnt eine Phase intensiven Nachdenkens über pädagogische Maßnahmen, die sich auf die Kinder der ‚Gastarbeiter‘ beziehen, die sich unter dem Begriff ‚Ausländerpädagogik‘ zusammenfassen lassen, wobei sich die Aktivitäten auf die Defizite der Kinder richten, also vornehmlich auf die Sprache. Die pädagogischen Bemühungen haben zu dieser Zeit hauptsächlich kompensatorischen Charakter und haben als Zielvorgabe die Assimilation der Menschen in die deutsche Gesellschaft.107

Bis in die 1980er Jahre hinein haben pädagogische Maßnahmen, die sich auf diese Zielgruppe richten, einen Doppelcharakter: Einerseits sollen die Kinder in den Unterricht an den Regelschulen integriert werden, andererseits sollen nachmittägliche Unterrichtsstunden in der Herkunftssprache die Kinder auf eine spätere Rückkehr in das Herkunftsland vorbereiten. Darüber hinaus werden von den Wohlfahrtsverbänden ‚Sozialberatungsdienste für Ausländer‘ eingerichtet, die sich um ausländische Arbeitnehmer und deren Familien kümmern.

In den 80er Jahren wird außerdem intensiv über pädagogische Maßnahmen bezogen auf Migranten diskutiert, was sich allerdings nicht an den Schulen auswirkt.108 Es zeichnet sich ein „Vorzeichenwandel“109 ab, denn es setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Migranten längerfristig bleiben werden, Migrantenkinder daher dauerhaft eine Rolle im Schulwesen spielen werden und deshalb keine defizitorientierte Pädagogik angemessen ist, sondern interkulturelle Bildung und Erziehung ein zentraler Bestandteil der Bildungsbemühungen werden sollte.

Ende der 1980er Jahre setzt ein Umdenken ein, weg von der Betrachtung der Migranten als Ausländer, hin zu ihrer Betrachtung als Angehörige einer ‚multikulturellen Gesellschaft‘.

Erst im Jahre 1996 wird von der Kultusministerkonferenz beschlossen, interkulturelle Bildung sei Bestandteil allgemeiner Bildung.110 Dieser Beschluss wirkt sich richtungsweisend im Bildungswesen aus, Untersuchungen werden durchgeführt, die sich u.a. mit den Folgen der Arbeitsmigration für das Bildungswesen beschäftigen. Es stellt sich heraus, dass ein Nachholbedarf an verschiedenen Stellen der Gesellschaft hinsichtlich des Umgangs mit Migranten besteht. „Nicht nur in der sozialen Arbeit, auch in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und in der Erwachsenenarbeit wird ein Mangel an professionellen Fähigkeiten im Umgang mit Differenz und Fremdheit festgestellt.“111 In diesem Zuge wird aus der Interkulturellen Pädagogik ein eigenständiges erziehungswissenschaftliches Fachgebiet.

Die Entwicklung von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik ist zeitlich nicht klar abzugrenzen. Es sind vielmehr die Unterschiede in der jeweiligen Betrachtung der Migranten als Personen, die bezüglich der aufnehmenden Gesellschaft Defizite aufweisen und diese ausgleichen müssen, oder als Personen, deren Anderssein anerkannt und nicht als Mangel ausgelegt wird, wobei durch Begegnung gegenseitiges Verstehen bewirkt werden soll, die die beiden Konzepte voneinander trennen.112 Inzwischen wird neben dem Begriff der Interkulturellen Pädagogik sehr häufig der Begriff Migrationspädagogik verwendet. In diesem Zusammenhang wird meist vom so genannten ‚Migrationsanderen‘ gesprochen, der sich hinsichtlich seiner natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit unterscheidet. „Dies gilt sowohl für die gesamtgesellschaftliche Betrachtung als auch für Schule und Unterricht im Speziellen.“113

Abschließend lässt sich in Anlehnung an Rita Süssmuth konstatieren, dass Deutschland die Defizite bei der Integration aufarbeiten muss, da sich in den letzten beiden Jahrzehnten „die Spätfolgen falscher Anwerbepolitik und unterlassener Integration“114 zeigen. Aus diesem Grund sieht sie die einzige Möglichkeit, den Aufgaben einer Einwanderungsgesellschaft gewachsen zu sein, in einer grundlegenden Reformierung des Bildungswesens.115

[...]


1 In dieser Arbeit werden zumeist sowohl weibliche als auch männliche Formen benutzt. An manchen Stellen wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit auf die männliche Form zurückgegriffen. Sofern nicht anders vermerkt, sind dann aber immer Personen beiderlei Geschlechts gemeint.

2 Vgl. Helsper & Hummrich.

3 Fend, S. 49.

4 Wiater, S. 21.

5 Fend, S. 49.

6 Vgl. Sturm, S. 42.

7 Vgl. Fend, S. 51.

8 Vgl. Sturm, S. 42.

9 Rekus & Mikhail, S. 121.

10 Fend, S. 50.

11 Ebd., S. 29.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 50.

14 Rekus & Mikhail, S. 122.

15 Fend, S. 50.

16 Sturm, S. 43.

17 Dorlöchter, Maciejewski & Stiller, S. 526.

18 Vgl. Fend, S. 54.

19 Sturm, S. 43.

20 Vgl. Dorlöchter, Maciejewski & Stiller, S. 526.

21 Wiater, S.24.

22 Vgl. Seifert & Wiedenhorn, S. 35.

23 Ebd., S. 27.

24 Ebd.

25 Seifert & Wiedenhorn, S. 33.

26 Ebd., S. 33.

27 Vgl. Verordnung über den Bildungsgang in der Grundschule, § 6.

28 Anm. d. Verf.: An der schlechteren Bezahlung der Grundschullehrkräfte verglichen mit denen an anderen Schulformen sowie der nicht genügend materiell gewürdigten Schulleitertätigkeit, was sich in vielen nicht besetzten Schulleiterstellen äußert, lässt sich dies u.a. erkennen.

29 Schulministerium NRW, Lernen in der Grundschule.

30 Vgl. ebd.

31 Rekus & Mikhail, S. 80.

32 Ebd., S. 80.

33 Vgl. ebd., S. 81ff.

34 Ebd., S. 300.

35 Vgl. Tillmann S. 67.

36 Vgl. Tillmann, S. 67ff.

37 Becker, S. 12.

38 Vgl. ebd., S. 12.

39 Stanat, Schipolowski, Rjosk, Weinrich & Haag, S. 409f.

40 Vgl. Stanat, Schipolowski, Rjosk, Weinrich & Haag, S. 410.

41 §3 Abs.3 GG.

42 Vgl. Holtappels, S. 15.

43 Ebd., S. 15.

44 Helsper & Hummrich, S.100.

45 Baumert et al., S. 5.

46 Vgl. Schulministerium NRW, Schulpflicht.

47 Schulministerium NRW, Schuleingangsphase.

48 Vgl. Weber, 2014.

49 Schulministerium NRW, Schuleingangsphase.

50 Ebd.

51 § 35 Abs.1 SchulG.

52 Schulministerium NRW, Schuleingangsphase.

53 Helsper & Hummrich, S. 101.

54 Ebd.

55 Ebd., S. 102.

56 Vgl. Schulministerium NRW, Sonderpädagogische Förderung.

57 Verordnung über den Bildungsgang in der Grundschule, § 7.

58 Helsper & Hummrich, S. 104.

59 Vgl. ebd.

60 Helsper & Hummrich, S. 10.

61 Vgl. Schulministerium NRW, Sekundarschule.

62 Vgl. Sturm, S. 54f.

63 Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, S. 77ff.

64 Kropf, Gresch & Maaz, S. 412.

65 Vgl. ebd., S. 413.

66 Vgl. Baumert et al., S. 8f.

67 Gresch & Becker, S. 183.

68 Ebd., S. 184.

69 Ebd., S. 194.

70 Ebd.

71 Vgl. ebd.

72 Vgl. ebd.

73 Vgl. Helsper & Hummrich, S. 108.

74 Vgl. Leser, S. 16.

75 Vgl. Statistisches Bundesamt, S. 8.

76 Autorengruppe Bildungsberichterstattung, S. 165.

77 Statistisches Bundesamt, S. 21.

78 Ebd.

79 Vgl. Tabelle in Anhang 1; Leser, S. 21.

80 Vgl. Kemper.

81 KMK, S. 29.

82 Vgl. Leser, S. 19f.

83 Ebd., S. 20.

84 Vgl. ebd., S. 21.

85 Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW, § 4.

86 Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW, § 4.

87 Vgl. Bos & Wendt, S. 47.

88 Vgl. ebd., S. 48.

89 Rjosk, Haag, Heppt, & Stanat, S. 239.

90 Leser, S. 22.

91 Vgl. Mecheril, S. 7ff.

92 Ebd., S. 9f.

93 Ebd., S. 28.

94 Vgl. Pilz, S. 48.

95 Vgl. Mecheril, S. 29ff.

96 Mecheril, S. 30.

97 Vgl. ebd., S. 30f.

98 Ebd., S. 32.

99 Vgl. ebd., S. 32f.

100 Mecheril, S. 35.

101 Ebd., S. 36f.

102 Ebd., S. 37.

103 Autorengruppe Bildungsberichterstattung, S. 161.

104 Vgl. Mecheril, S. 39ff.

105 Mecheril, S. 83ff.

106 Ebd., S. 84.

107 Vgl. ebd., S. 92f.

108 Vgl. ebd., S. 85.

109 Ebd.

110 Vgl. Mecheril, S. 86.

111 Ebd., S. 87.

112 Vgl. ebd., S. 90ff.; Sturm, S. 99ff.

113 Sturm, S. 95.

114 Süssmuth, S. 22.

115 Vgl. ebd., S. 23.

Ende der Leseprobe aus 109 Seiten

Details

Titel
Scheitern in der Grundschule? Der Einfluss des Migrationshintergrundes
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal  (Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften)
Note
1,1
Autor
Jahr
2018
Seiten
109
Katalognummer
V440922
ISBN (eBook)
9783668853508
ISBN (Buch)
9783668853515
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Migration, Grundschule, Scheitern
Arbeit zitieren
Verena Ommerborn (Autor:in), 2018, Scheitern in der Grundschule? Der Einfluss des Migrationshintergrundes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/440922

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