Kreativität als Lebenseinstellung. Wie wir unser kreatives Potenzial entdecken


Fachbuch, 2018

64 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Was ist Kreativität
2.1 Die Primäre Kreativität

3 Warum kreativ sein?

4 Wie entsteht Kreativität?
4.1 Das Default Mode Netzwerk (DMN)
4.2 Inkubation
4.3 Tagträume

5 Was blockiert unsere Kreativität?
5.1 Schulen und andere Institutionen
5.2 Emotionale Blockaden
5.3 Urteile
5.4 Gewohnheiten
5.5 Wahrnehmungs- und Denkblockaden

6 Wie können wir unsere Kreativität fördern?
6.1 Das Spiel
6.2 Intrinsische Motivation
6.3 Die Technik und das Üben
6.4 Die Kraft der Grenzen
6.5 Das kreative Zusammenspiel
6.6 Unkonventionalität
6.7 Mangel und Not
6.8 Leere und Langeweile

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

„Die wesentliche Quelle der Kreativität scheint dieselbe Neigung zu sein, die wir in der Psychotherapie so eindrücklich als heilende Kraft erleben – das Bestreben des Menschen, sich selbst zu verwirklichen und seine Möglichkeiten auszuleben. Damit meine ich […] den Drang, sich zu erweitern, sich auszudehnen, sich zu entwickeln und zu reifen -,die Tendenz, alle Kapazitäten des Organismus zum Ausdruck zu bringen und zu verwirklichen […] sie kann sich hinter komplizierten Fassaden verbergen. Es ist jedoch meine feste, auf Erfahrung gegründete Überzeugung, dass sie in jedem Individuum existiert und nur auf die geeigneten Umstände wartet, um hervorzutreten und sich zu entfalten.“ (Rogers zit. nach Adams: 67f.)

1 Einleitung

Seit Anfang des Studiums beschäftigt mich die Frage, wie ich zu meinem persönlichen Ausdruck finde. Was möchte ich ausdrücken ohne dass es jemand von mir erwartet oder ich mich den Ansprüchen anderer in irgendeiner Weise versuche anzupassen? Ich fühlte mich verschult und hatte das Gefühl nicht zu wissen, was mich eigentlich interessiert. Mit der Zeit merkte ich, wie viele meiner KommilitonInnen ähnliche Gedanken und Schwierigkeiten hatten. Es viel den meisten nicht leicht, Abstand zu Bewertungen einzunehmen und frei von anderen Meinungen ihr eigenes Interesse zu finden und diesem auch nachzugehen.

Durch diese Bachelorarbeit möchte ich die persönliche Kreativität erforschen. Meine leitenden Fragen lauten: Wie entsteht Kreativität? Wodurch kann unsere Kreativität und unser freier Ausdruck gehemmt werden? Und wie können wir unsere persönliche Kreativität fördern und im Sinne einer Selbstverwirklichung nutzen?

Ich beziehe mich in meiner Arbeit auf die Literatur verschiedener Experten, unter anderem aus den Bereichen der Psychologie, der Kunsttherapie, der Medizin und verschiedenen kreativen Feldern.

Zunächst werde ich mich dem großen Begriff der Kreativität nähern und klären, um welche Form der Kreativität es sich in dieser Arbeit handelt. Anschließend möchte ich kurz auf den Nutzen des kreativen Denkens und Handelns eingehen und darauf, welche Wirkung es auf uns haben kann. Daraufhin komme ich zur Entstehung unserer Kreativität, wofür ich auf einige entscheidende Vorgänge in unserem Gehirn eingehen und die schöpferische Funktion unserer Tagträume erklären werde.

In dem Kapitel Was blockiert unsere Kreativität werde ich auf bestimmte Umstände, Verhaltensweisen, sowie Denkgewohnheiten eingehen, die unser kreatives Potential hemmen können. Und schließlich werde ich aufzeigen, welche Bedingungen für unsere Kreativität entscheidend sind und wie wir uns selbst als kreative Wesen verstehen können.

2 Was ist Kreativität?

„Kreativität ist vielleicht die grundlegendste aller menschlichen Fähigkeiten“ (Brunner 2008: 5)

Es gibt viele Antworten auf die Frage was Kreativität ist. Die Antworten sind ebenso vielfältig wie die Situationen der handelnden Menschen.

Drehen wir die Frage zunächst um. Was ist unkreativ? Eine Routinehandlung, ein bloßes Wiederholen von etwas, wird nicht als kreativ erachtet. Ebenso kann ein ausschließlich destruktives Verhalten nicht kreativ sein. (Brodbeck 1997: o.S) Die Kreativität ist die Hervorbringung von etwas Neuem, dass auf irgendeine Weise nützlich ist. „Eine Leistung, die neu und gleichzeitig nützlich ist, bezeichnet man als kreativ. Die Person, die solch eine Leistung vollbringt, ist kreativ.“ (Schuster 2016: 13)

Hier stellt sich die Frage: für wen ist die kreative Leistung neu oder nützlich? In dieser Arbeit wird es nicht um einmalige, historische Leistungen gehen, nicht um die Produkte und Resultate der Kreativität, die zu globalen Veränderungen geführt haben. Es geht um den persönlichen und individuellen Prozess der Kreativität, um die primäre Kreativität, die unserer Selbstverwirklichung dient. Auch wenn jemand nur für sich erstmals etwas Neues entdeckt oder ausprobiert, können wir im persönlichen Sinn sehr wohl von Kreativität reden, unabhängig davon ob es welthistorisch zum ersten Mal gedacht wurde. (vgl. Brodbeck 1997: 0.S)

Es genügt die innere Gewissheit, das mein Tun und Denken neu und wertvoll ist. (vgl. Csikszentmihalyi 2015: 43)

Ferner wird der Kreativitätsbegriff häufig nur auf wenige Bereiche des menschlichen Handelns, unter anderem Kunst, Musik und Wissenschaft, beschränkt. Dabei verdeutlicht beispielsweise die einfache Sprachverwendung den kreativen Prozess. Die Wörter, die wir beim Sprechen oder Schreiben verwenden, sind uns bereits bekannt und unsere Gedanken sind auch nicht immer neu. Doch die Zusammenstellung der Wörter, die Abfolge der Sätze, sind neu. Trotzdem können wir uns miteinander verständigen. Dies ist eine kreative Fähigkeit, aus den uns bekannten Wörtern Sätze und Geschichten zu machen und zu verstehen. (vgl. Brodbeck 1997: o.S) Laut Nachmanovitch sei jede Unterhaltung eine Form von Jazz. (Nachmanovitch 2008: 27)

Die Kreativität ist somit nichts, was als Fähigkeit erst hervorgebracht werden müsste oder was nur wenigen Genies vorbehalten ist. Sie ist bei jedem Menschen vorhanden. Bereits Säuglinge nehmen Reize aus ihrer Umwelt auf und verarbeiten sie zu ihren ganz eigenen emotionalen und intellektuellen Formen. Von Anfang an komponieren wir uns unsere eigene Welt. Zahllose Handlungen, Denkformen oder Verhaltensweisen im Alltag sind durchzogen mit kreativen Lösungen, wenn auch nach Art und Inhalt sehr differenziert. Das Leben selbst bedeutet, kreativ zu sein. Diese Fähigkeit aktualisiert sich bei unterschiedlichen Tätigkeiten und je nachdem wie wir sie pflegen, bleibt sie bis ins hohe Alter bestehen. (vgl. Holm-Hadulla 2014: 70)

Dennoch kann unsere Kreativität durch äußere Einflüsse, Ängste und Gewohnheiten eingeschränkt und verhindert werden, was ich im weiteren Verlauf aufzeigen werde. (vgl. Brodbeck 1997: o.S)

2.1 Die Primäre Kreativität

Abraham Maslow, Psychologe und Mitbegründer der Humanistischen Psychologie, war eine bedeutende Person, im Versuch die Kreativität zu verstehen. Er unterschied zwischen primärer und sekundärer Kreativität. Sekundäre Kreativität ist das, was die meisten Menschen demonstrieren, die in einer bestimmen Domäne tätig sind und von der Beurteilung und Anerkennung ihres Umfelds abhängig ist. (vgl. Adams 2004: 217) Sie entspricht den meisten gängigen Definitionen der heutigen Zeit, einem nutzenorientierten Ansatz, also Kreativität als Mittel zum Zweck. Dies bedeutet vor allem gesellschaftlich Nützliches Schaffen und sichtbare Ergebnisse. (vgl. Brunner 2008: 9)

Die primäre Kreativität, um die es in dieser Arbeit vorrangig geht, entstammt, laut Maslow, unserem primären, tiefen Selbst. Bei Kindern ist diese auf natürliche Weise vorhanden, bei vielen Erwachsenen jedoch stark blockiert.

In einer von Maslow selbst durchgeführten Studie stellte er fest, dass eine große Zahl der untersuchten Menschen hochgradig kreativ war, ohne über ein besonderes Talent in Bereichen, die gemeinhin mit Kreativität in Verbindung gebracht werden, verfügten oder Genies waren. Sie waren jedoch hochgradig kreativ in ihrer Fähigkeit sich selbst zu verwirklichen und in ihrem Alltag originell und erfinderisch. Maslow begann das Wort Kreativität auf viele Aktivitäten und Einstellungen außerhalb jener Kategorien anzuwenden, denen die kreative Eigenschaft für gewöhnlich zugeschrieben wird, wie beispielsweise der Literatur, Kunst oder Wissenschaft. Er unterschied nun zwischen der talentbezogenen Kreativität, die üblicherweise mit Kreativität assoziiert wird, und der von ihm so bezeichneten Selbstverwirklichungskreativität (primäre Kreativität), die sich in allem was wir tun, in gewöhnlichen und alltäglichen Handlungen, gleichermaßen manifestieren kann.

Maslow erkannte gewisse Gemeinsamkeiten in den Eigenschaften sich selbst verwirklichender Menschen, die in ihren alltäglichen Handlungen ein hohes Maß an Kreativität erkennen ließen. Er erkannte, dass diese Leute spontaner, ausdrucksfreudiger, natürlicher und in ihrem Verhalten weniger kontrolliert und angepasst waren, als der Durchschnitt. Sie waren ungehemmter und weniger selbstkritisch. (Adams 2004: 217f.) „Diese Fähigkeit, Ideen und Impulse unverklemmt auszudrücken und ohne die Angst, sich vor anderen lächerlich zu machen, erwies sich als wesentlicher Aspekt der sich selbst verwirklichenden Kreativität.“ (Maslow zit. nach Adams 2004: 219) Darüber hinaus zeigten sie weniger Angst vor Unbekanntem und Rätselhaftem und fühlten sich sogar davon angezogen.

Maslow sah eine Verbindung zwischen den kreativen Handlungen und der inneren Integration ihres Selbst. „In dem Maße, wie Kreativität aufbaut, verbindet, vereint und integriert, hängt sie von der inneren Integration des betreffenden Menschen ab.“ (Maslow zit. nach Adams 2004: 219) Dies führte er zurück auf ihr relatives Fehlen von Furcht, sowohl vor der Meinung anderer, als auch vor inneren Gedanken und Impulsen und ihrer Akzeptanz für ihr inneres Selbst. Vergleichspersonen hingegen, die weniger Kreativität in ihren Handlungen erkennen ließen, wehrten laut dem Humanisten vieles von dem, was in ihrem Inneren lag, ab. Sie würden mehr kontrollieren, blockieren, verdrängen und unterdrücken. Darüber hinaus würden sie ihr inneres Selbst ablehnen und dies auch von anderen erwarten. Hierdurch, erklärt er, „verliert ein Mensch […] viel, denn diese Tiefen sind zugleich Quelle all seiner Freuden, seiner Fähigkeit zu spielen, zu lieben, zu lachen und, was uns am meisten interessiert, kreativ zu sein.“ (Maslow zit. nach Adams 2004: 219)

3 Warum kreativ sein?

Der kreative Entdeckungsprozess, der immer mit einer Neuschöpfung verbunden ist, gehöre, laut Csikszentmihalyi, dem Erfinder des Flow-Phänomens, und all seinen kreativen Befragten, zu den erfreulichsten Aktivitäten überhaupt. Dieser Prozess enthält alle Bedingungen für den Flow-Zustand. (vgl. Csikszentmihalyi 2015:166f.)

Dieser mentale Zustand des Flow ist mit einem enormen Glücksgefühl verbunden. (vgl. Brunner 2008: 28)

Kreativ zu sein, stärkt unser Selbstwertgefühl. Wir können stolz auf das sein, was wir geschaffen haben. Darüber hinaus, entwickeln wir durch Kreativität das Gefühl „wir selbst zu sein“. Der Kunsttherapeut Martin Schuster weiß: „[...] man kann Kreativität einsetzen, um die seelische Gesundheit zu verbessern.“ (Schuster 2016: 66) Allein das Bewusstsein, neben konventionellen Lösungen auch originelle und kreative zu suchen, führe zu mehr Selbstsicherheit. Hat man einmal mit einer kreativen Leistung ein Problem gelöst, kann dies ein überwältigendes und selbstwertstärkendes Gefühl sein und zur Bereitschaft und Lust führen, mehr Probleme auf neue Weise zu lösen. (vgl. ebd.: 66)

Eine Reihe wissenschaftlicher Studien zeigen, dass kreatives Gestalten die menschliche Entwicklung, sowohl bei Kindern, jungen Erwachsenen, als auch bei Älteren, positiv beeinflussen kann. Es stellt eine wichtige Ressource für unsere persönliche und soziale Gesundheit dar. Laut Rainer Holm-Hadulla, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, bedarf es von frühester Kindheit an, einer Förderung und Anerkennung unserer kreativen Leistungen. (vgl. Holm-Hadulla 2014: 70) „Kreativität ist […] kein schöner Luxus, sondern eine lebenswichtige individuelle und gesellschaftliche Aufgabe.“ (Ebd.: 71)

Laut den Humanisten stellt Kreativität eine Reaktion auf elementare Bedürfnisse des Menschen dar. Ihnen zufolge sind Menschen kreativ, um zu wachsen, Konflikte zu lösen und sich selbst zu verwirklichen. Darüber hinaus brauchen wir die Fähigkeit zur Kreativität um uns an wechselnde Umweltbedingungen anpassen zu können und nicht zu erstarren, was ich im Kapitel der Tagträume nochmal aufgreifen werde. (Adams 2004: 67)

4 Wie entsteht Kreativität?

In den folgenden drei Kapiteln werde ich klären, wie kreatives Denken überhaupt zustande kommt und wie wir es durch gezielte Mußezeiten und Tagträume fördern können.

4.1 Das Default Mode Netzwerk (DMN)

Aus neurobiologischer Sicht kann man Kreativität als „Neuformierung von neuronal gespeicherten Informationen“ bezeichnen. (Holm-Hadulla 2014: 69) Wie geschieht dies?

Der Neurologe Marcus Raichle stellte 1998 bei Studien mit dem Kernspintomografen fest, das bestimmte Hirnareale bei seinen Probanden aktiver wurden, sobald die Testpersonen aufhörten, zielgerichtet zu denken.

Dies war die Entdeckung des Default Mode Netzwerks (DMN), auch Ruhezustandsnetzwerk genannt. (vgl. Schnabel 2010: 118f.) Es setzt sich aus einer Reihe posteriorer (hinten), medialer (mittig) , anterior-medialer (vorne mittig) und lateral-parietaler (beidseitig am oberen Hinterkopf) Gehirnregionen zusammen, die beim Nichtstun, Schlafen und Tagträumen aktiv werden. Die einzelnen Regionen sind durch Knotenpunkte miteinander verbunden und ergeben somit ein ganzes Netzwerk. (vgl.Smart 2014: 66f.) Unser Gehirn ist während vermeintlicher Denkpausen also nicht weniger aktiv, als wenn wir hochkonzentriert sind und Probleme lösen, lesen oder reden. (vgl. Ernst 2011: 93f.)

Das meiste neuronale Treiben in unserem Denkorgan hat nichts mit dem Empfangen und Beantworten von Reizen oder dem Steuern von Bewegungen zu tun. Nur eine von 10.000 Nervenverbindungen in unserer Großhirnrinde leitet In- und Output weiter, der weit überwiegende Teil der Verknüpfungen dient dem internen Signalaustausch. Sogar in Hirnteilen, in denen vermeintlich nur Sinneseindrücke verarbeitet werden, überwiegt der interne Austausch. Laut dem Neurophysiologen Lars Muckli stammen mehr als 90 Prozent der Signale, die die primäre Sehrinde empfängt, nicht, wie vielleicht vermutet, von den Augen, sondern aus anderen Cortexregionen. Das, was wir sehen, hören, schmecken, oder tasten, ist nicht einfach das, was uns die Sinne melden, sondern das, was das Gehirn daraus macht. Dabei stellt es ununterbrochen Hypothesen auf und bewertet diese anhand der eintreffenden Sinnesdaten. (vgl. Ayen 2016:139-141)

Im DMN werden Eindrücke verarbeitet, Erinnerungen verknüpft und neue Ideen bereitgestellt. Es überprüft frühere Lösungsversuche und bastelt an der Synthese neuer, kreativer Ansätze. (vgl. Ernst 2011: 92f.) Es unterstützt somit die Selbsterkenntnis, das autobiografische Gedächtnis, soziale und emotionale Vorgänge, sowie die Kreativität und hilft dabei, Gelerntes zu verarbeiten.

Wissenschaftler interpretieren die Aktivität im DMN als einen Blick nach innen, als Gedanken, die sich frei und ungebunden innerhalb der eigenen mentalen Landschaft bewegen. Wer losgelöst von äußeren Reizen vor sich hin träumt, setzt damit große Kapazitäten im Gehirn frei, um ungehemmt assoziieren zu können. Im Default-Modus kann unser Kopf mühelos und in scheinbar unzähligen Variationen Gedankenverbindungen knüpfen. Nur dadurch ist es möglich, Sinneseindrücke zu sinnvollen Gedanken zu formen oder mit bereits bestehendem Wissen in Verbindung zu bringen. Das DMN bildet sozusagen die neuronale Basis für inspiriertes, schöpferisches und kreatives Denken. (vgl. Döring/Mittelstraß 2017: 89f.)

Ebenfalls spielt das DMN eine Rolle bei der Metakognition, also dabei, wie wir uns selbst sehen, wenn wir bewusst Tagträumen. Einer der besten Wege um sich besser kennenzulernen sei somit, sich einen ruhigen Ort zu suchen und gedanklich eine Weile abzudriften. (vgl. Smart 2014: 68f.) Darüber hinaus versucht unser Gehirn im DMN unser soziales Leben in der Realität zu verarbeiten und zu ordnen. Beispielsweise indem wir uns in Gedankenspielen in andere Menschen hineinversetzen und versuchen ihre Absichten zu verstehen und deren Perspektive einzunehmen. Der Psychologe Heiko Ernst spricht von einer Art Trainingslager für soziale Interaktion. Laut ihm sei das DMN essentiell, um das Navigieren in der sozialen Umwelt zu beherrschen und Erinnerungen, Fantasien und Szenarien miteinander abzugleichen, um zwischen Innen und Außen zu vermitteln. (vgl. Ernst 2011: 96) Durch das Aktivieren dieses Hirnnetzwerks wird die gedankliche Handbremse gelöst und unser Denken bekommt frischen Wind. Laut dem Psychologen Steve Ayen könne man dann natürlich auch über Unwissenheit, begangene Fehler und verpasste Chancen stolpern. (vgl. Ayen 2016: 150f.) Dennoch sei ein gesunder Leerlaufmodus geradezu lebenswichtig für unsere geistige Gesundheit. Wir versichern uns im Leerlauf unbewusst unserer Geschichte und der eigenen Identität und würden so die Grundlage für unser Selbstgefühl legen, so Schnabel. (vgl. Schnabel 2010: 119ff.) Auch Ernst hält den default mode für wichtig: „Tagträume sind kein Luxus, keine Kür, sondern Pflichtübungen des menschlichen Bewusstseins.“ (Ernst 2011: 97)

Wenn es zu ungewöhnlichen Aktivitäten im DMN kommt, kann dies auf geistige Erkrankungen hinweisen. Bei Schizophrenie beispielsweise weist das DMN Hyperaktivität und Hyperkonnektivität auf, wodurch die Unterscheidung zwischen Fantasie und Wirklichkeit schwerfallen kann. Bekanntlich liegt zwischen Genialität und Wahnsinn ein schmaler Grad. Hier finden wir eine mögliche Erklärung dieser Aussage, denn ein gut funktionierender default mode unterstützt unsere Kreativität immens, ein überaktiver hingegen, lässt uns das Gefühl zur Wirklichkeit verlieren. (vgl. Smart 2014: 78)

4.2 Inkubation

Inkubation wird von Neurowissenschaftlern und Psychologen als das unbemerkte Ausarbeiten von Ideen und Lösungen im Gehirn bezeichnet, quasi als das ausbrüten (= lt. incubare) von Ideen. (vgl. Döring/Mittelstraß 2017: 82) Sie findet dann statt, wenn wir nicht bewusst und aktiv an der Problemlösung arbeiten und unser DMN aktiv ist. (vgl. ebd.: 96) Wenn wir an einem Problem arbeiten und mittendrin eine Pause machen, kann unser Gehirn im Tagtraum-Modus weiter daran arbeiten.

Jonathan Schooler hat in einer Studie die Arbeitsweise von Schriftstellern und Physikern untersucht. Dabei stellte er fest, dass 40 Prozent der Ideen die diese Menschen entwickelten, entstanden sind, als sie nicht mit dem eigentlichen Problem beschäftigt waren, sondern etwas gänzlich anderes taten, wobei sie Tagtraum-Phasen hatten. (vgl. ebd.: 100f.) Andererseits hat Schooler Hinweise dafür gefunden, dass es einen negativen Zusammenhang zwischen hoher Aufmerksamkeit und Kreativität gibt. (vgl. ebd.: 103)

Genialen Einfällen geht natürlich eine Zeit intensiven Nachdenkens voraus. Allerdings folgt das bewusste denken oft nur den bekannten und ausgetretenen Pfaden und wer allzu verbissen nach einer Lösung sucht, würge seine Kreativität regelrecht ab. Laut Wissenschaftler Ulrich Schnabel werde es dann Zeit, sich der Weisheit des DMN zu überlassen. Denn wenn der äußere Input fehlt, kann das Gehirn auf einen riesigen Schatz an gespeichertem Wissen zurückgreifen. (vgl. Schnabel 2010: 121f.)

„Wirklich schöpferische Einfälle kommen uns am ehesten dann, wenn wir sie nicht mit aller Macht zu erzwingen versuchen“ wusste laut Schnabel schon der Dichter Sait-Pol-Roux. So entstehen neue Gedanken und manchmal unerwartete Geniestreiche ganz von selbst. (vgl. ebd.: 22)

4.3 Tagträume

Tagträume sind der Stoff, aus dem unsere Kreativität entsteht. (vgl. Ernst 2011: 63) Sie sind bildhaft erlebte, mit Träumen vergleichbare Phantasievorstellungen und Imaginationen, die im Wachzustand erlebt werden. Sie können entweder bewusst herbeigeführt werden und sind meist willentlich steuerbar, oder sie stellen sich durch Unaufmerksamkeit und nachlassende Konzentration von selbst ein. Die Aufmerksamkeit entfernt sich beim Tagträumen von äußeren Reizen und Einflüssen und wendet sich der Innenwelt zu. (vgl. Stangl 2017: o.S.) Bis zu 50 Prozent unserer Denkarbeit verbringen wir mit Tagträumen. (vgl. Döring/Mittelstraß 2017: 101)

Laut Sigmund Freud seien die Triebkräfte der Tagträume unsere unbefriedigten Wünsche. So wie das Spielen der Kinder vom Wünschen dirigiert werde, seien auch die Luftschlösser und Tagträume der Erwachsenen Wunschbilder, in denen eigensüchtige, selbsterhöhende und erotische Wünsche eine Ersatzbefriedigung fänden. (vgl. Ernst 2011: 16f.) Im Kern eines Tagtraumes wird fast immer eine Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit erkennbar: eine Frustration, eine Sehnsucht, ein Nicht-haben-können oder ein Verlangen nach Veränderung. Sie sind ein wichtiges Instrument emotionaler Selbstregulierung in Lebenssituationen, die wir momentan noch nicht verändern können und verschaffen uns Trost, Sicherheit, Hoffnung und Genuss. Wir distanzieren uns von der Außenwelt und erproben, idealisieren oder kompensieren, was uns in der Realität beschäftigt und werden dadurch erst realitätstüchtig. (vgl. ebd.: 22f.)

„In den alltäglichen Tagträumen figurieren wir als das, was wir sind, plus etwas, das wir kreativ hinzufügen.“ (ebd.: 25) Laut Heiko Ernst versuchen wir fast immer unser Selbstbild zu unseren Gunsten zu retuschieren, es abzurunden oder zu verschönern. Wir gestalten es erträglicher, indem wir störende Macken verdecken oder uns bestimmte positive Attribute dazudenken. In unseren Tagträumen schaffen wir es zu Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit. (vgl. ebd.: 25ff.) Sie bieten uns einen Proberaum, in dem wir Gefühle durchleben und Impulse ausführen dürfen, die wir uns in der Realität aus guten Gründen verbieten. Wenn wir beispielsweise verletzt wurden oder uns gedemütigt fühlen, können wir in der Fantasie zurückschlagen. (vgl. ebd.: 32)

Häufig wird ein Tagtraum durch äußere Anstöße in Gang gesetzt, durch Außenreize, bei denen wir hellhörig werden, weil sie unsere Wünsche und Bedürfnisse tangieren. (vgl. ebd.: 50) Doch rufen wir uns häufig selbst zur Ordnung wenn wir bemerken, dass wir träumen. Wir reagieren irritiert und teilweise sogar beschämt, wenn wir bemerken welche irrealen und „unreifen“ Szenarien sich in unseren Köpfen abspielen. Anders als für die Träume der Nacht, fühlen wir uns für unsere Tagträume verantwortlich und denken, wir würden sie selbst in Szene setzen. Unpassende Wünsche, sexuelle Begierden, aggressive Impulse, Rachevorstellungen oder Großtaten, die uns die Bewunderung der Anderen einbringen, werden von unserem bewussten Ich unterdrückt oder zumindest ausgeblendet und geheim gehalten. (vgl. ebd.: 14-19)

Laut Ernst machen Tagträume den Kern unserer Persönlichkeit aus und seien in reinster Form Abbild unseres Charakters.

Sie enthüllen die Stärken und Schwächen, die geheimsten Sehnsüchte und Ängste eines Menschen.

Selbst die flüchtigsten und absurdesten Tagträume seien ein individueller Ausdruck seines Geistes und seiner Seele. (vgl. ebd.: 100)

Durch die Fähigkeit zu Gedankenexperimenten und Reflexion habe die Spezies Mensch laut Ernst wesentliche Überlebensvorteile. Die Fähigkeit bildhaft zu denken, ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Intelligenz und Kreativität. Denn Intelligenz meint vor allem die Fähigkeit, sich an veränderliche Umstände erfolgreich anzupassen und die aus Veränderung entstehenden Prozesse kreativ zu lösen. (vgl. ebd.: 52) „Die Fähigkeit zur bildhaften Vorstellung begründet alle schöpferischen Fertigkeiten des Menschen […].“ (ebd.: 54)

In Tagträumen begeben wir uns in eine innere Parallelwelt, die eine Gegenwelt zur äußeren Realität bereithält. In dieser stellen wir uns immer wieder vor, wie das Leben sein könnte oder wie es sein sollte, welche Rolle wir in unserem Leben noch spielen könnten. Selbst der simpelste Tagtraum, der uns über eine langweilige Situation hinwegträgt, ist im Kern ein Gegenentwurf zum Bestehenden und an sich schon ein kreativer Akt. Tagträume können den Charakter von Utopien gewinnen, wenn sie nur ausdauernd und detailliert genug geträumt werden. (vgl. ebd.: 189)

Der Psychologe Jerome Singer war einer der ersten Wissenschaftler, der den Zustand des Tagträumens in konkreten Zusammenhang mit kreativem Denken, Problemlösungen, Neugier, Entscheidungsfindung und einer erhöhten Fähigkeit zur Assoziation stellte. Er nannte es das 'positive, konstruktive Tagträumen' (Singer zit. nach Döring/Mittelstraß 2017: 86) und beschrieb damit die schöpferische und zukunftsweisende Ausrichtung der Tagträume. (vgl. Döring/Mittelstraß 2017: 86)

Damit sich verschiedene Eindrücke zu neuen Ideen formen können, ist ein stetes Wechselspiel zwischen bewusstem, zielgerichtetem Denken und der Aktivität des DMN nötig. Findet das DMN sinnvolle und nützliche Zusammenhänge, erzeugt es ein erkennbares Signal und die Idee tritt ins Bewusstsein. Im bewussten Denken kann der neue Einfall genauer betrachtet, abgewogen und weiterentwickelt werden. Laut einer vieldiskutierten Hypothese vereint das Tagträumen bereits Aktivitäten des DMN und des aktiven Denkens im stetigen Wechsel. Unsere Tagträume laufen also möglicherweise zielorientierter ab, als bisher vermutet. (vgl. ebd.: 94f.)

Laut Freud gibt es eine besondere Sphäre, in der es eine Aussöhnung zwischen Lust- und Realitätsprinzip, also zwischen Wunsch und Wirklichkeit, gibt, und zwar die Kunst. Die neuen Wahrheiten die der Künstler erschafft, entstehen zwar unter Zuhilfenahme des Realitätsprinzips und gründen auf einem Stück Wirklichkeit, doch können sie ohne den Stoff der Träume und Tagträume, also ohne die Fantasie, nie entstehen. Ohne „unreife“, halluzinatorische oder verrückte Ideen gäbe es keine Kunst, keine Musik und auch keine Wissenschaft, also keine Kreativität. In dem bildhaften Denken und in der Vermittlung zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Psyche und Realität hat die menschliche Kreativität ihren Ursprung. (vgl. Ernst 2011: 58ff.)

In einem Versuch von Jonathan Schooler sollten seine Probanden möglichst viele Nutzungsweisen für einen Ziegelstein finden. Wenn man ihnen zwischendurch eine einfache Aufgabe stellte, die zum Tagträumen anregt, kamen sie auf mehr Lösungen als Vergleichsgruppen, die ohne Unterbrechung nachdachten. Darüber hinaus beobachteten er und seine Kollegen, dass Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizitstörungen, von denen bekannt ist, dass sie viel tagträumen, außerordentlich kreative Lösungen für bestimmte Aufgaben finden konnten. (vgl. Schooler nach Bengsch 2012: o.S)

4.3.1 Menschen die ihre Tagträume aktiv nutzten

Der Tagtraum kann gezielt zur Produktionsbedingung von kreativen Werken genutzt werden. Von Frank Kafka beispielsweise ist verbürgt, auch durch Briefe und Tagebücher, dass er sowohl die nächtlichen Träume, als auch die Tagträume, als Quelle und Stilmittel nutzte. (vgl. Ernst 2011: 174)

Der Schriftsteller Karl May verarbeitete etliche Demütigungen, im Grunde das völlige Scheitern seiner bürgerlichen Existenz durch Fantasien. Als Sträfling rettete ihn seine lebendige Imagination vor Verzweiflung und Selbstmord. Er notierte sich die Inhalte seiner Tagträume, die später zur Grundlage von dutzenden Romanen wurden. Ernst Bloch schrieb über Karl May und dessen Werk: „Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will.“ (Bloch zit. nach Ernst 2011: 186) Mays Leben ist die Geschichte einer grandiosen Selbstrettung, gestützt auf die Kreativität seiner Tagträume. Im Tagtraum lässt sich das Erlittene umgestalten in eine allgemeingültige, berührende Geschichte, in ein Kunstwerk. Generationen von Jugendlichen konnten sich in die May'schen Gegenwelten flüchten und bekamen eine gigantische Projektionsfläche für ihre eigenen Tagträume von Abenteuer, Ruhm, Rache und Rechtfertigung. (vgl. Ernst 2011: 188)

[...]

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Details

Titel
Kreativität als Lebenseinstellung. Wie wir unser kreatives Potenzial entdecken
Autor
Jahr
2018
Seiten
64
Katalognummer
V441952
ISBN (eBook)
9783956876622
ISBN (Buch)
9783956876646
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kreativität, Inkubation, Default Mode Network, Tagträume, intrinsische Motivation, Spiel, Serendipität, Langeweile, Unkonventionalität, Wahrnehmungs-und Denkblockaden, Emotionale Blockaden, Urteile, Institutionen, primäre Kreativität, Entstehung unserer Kreativität, Kreativität nutzen, Selbstverwirklichung
Arbeit zitieren
Mara Reder (Autor:in), 2018, Kreativität als Lebenseinstellung. Wie wir unser kreatives Potenzial entdecken, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/441952

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