Wohin wird Lenin zitiert? Ästhetisch-politische Bildhaftigkeiten Russlands

Ein Beispiel ikonographischer Kanonisierung


Seminararbeit, 2013

29 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Ikone und das Gewaltbild
2.1. Die moderne Ikone
2.2. Schlagbilder

3. Russland und die semantische Herrschaft
3.1 Die Ästhetische Kanonisierung des russischen Kultursinns
3.2. Das affektive Monopol der Herrschaft
3.3. Leninsche Bildhaftigkeit
3.4. „Die Überwindung der Sekundarität“

4. Die „Gol’dšteinbilder“
4.1.Das Pressefoto - Die Pressefotos?
4.2. Wo ist Trotzki? Das Gemälde als prädeformierte Fotografie?

5. Resümee

Literaturverzeichnis

Sekundärliteratur

Bildverzeichnis

1. Einleitung

Dass Kriege sowohl die Nationen im Kampf zusammenführen, als auch einen komplexen Impulsgeber und Rahmen für die abbildende fotografische Dokumentation und Fotobearbeitung liefern, zeigt sich auch am Beispiel des 5. Mai 1920 in Moskau: Lenin spricht, flankiert von Trotzkiund Kamenev, zu den Truppen der Rotgardisten. Grijgorij Gol’dštein schießt an diesem Tag mehrere Fotos, von denen eines Eingang in den zeitgenössischen Rezeptionshorizont fand und durch den Künstler Isaak Brodskij in die Kunst des sozialistischen Realismus[1] eingefügt wurde. Im Spannungsfeld der Wahrnehmung dieser Abbildungen, stehen zudem bearbeitete Abarten der Gol’dšteinfotografien.[2] In Bezug auf die zeitnahe Rezeption dieser Abbildungen, zeigt die wissenschaftliche Betrachtung keine eindeutige Perspektive. Im Hinblick auf die Nennung eines konkreten Bildstatus, schreibt David King: „Diese Fotografie, die von G.P. Goldstein stammt [...], ist wahrscheinlich das erste und sicher das berühmteste Beispiel der stalinistischen Retuschen. Das Original, das zu Lenins Lebzeiten und als Trotzki noch an der Macht war zum Kultbild wurde, ging um die Welt.“[3] Während King auf die Kanonisierung des Pressefotos und die politisch motivierten Umformungsprozess unter Stalin verweist, deutet Klaus Waschik auf die heute bestehende fehlerhafte Wahrnehmung, die im Spannungsverhältnis der rezeptiven Relationen zwischen Bildern und Abbildern zu suchen ist: „Vielleicht entwickelten sich diese Fotografien gerade deshalb zu Bild-Ikonen mit einem festen Platz in der Lenin-Ikonographie und damit im Kanon revolutionärer Herrscherbilder. Dies betrifft jedoch nicht alle Aufnahmen der Serie vom 5. Mai 1920, die wenigen ausgewählten nicht in Gänze und nicht zwingend als Fotodokumente.“[4] Angesichts dieser Positionen stellt sich die Frage nach dem Rezeptionskonzept, einer Vermittlungsabsicht und deren Transportelementen, d.h. bildimmanenten Mitteln und bildtranszendenten, symbolischen Bezügen, sowie den zeitgemäßen Kanonisierungsstrategien, die sich für den Zeitraum von 1920 bis zur vollen Etablierung von Stalins Herrschaft bis. ca. 1935 ergeben. Für die Beantwortung, stellt sich eine kultur- und kunsthistorische Analyse als Notwendigkeit dar. Ihr möchte ich nachkommen, in dem ich zunächst den traditionellen Ikonenhorizont und dessen Rezeptionsmöglichkeiten in Bezug auf die Visualisierung von Herrschaft offen lege um daran in Bezug auf das Medium der Fotografie einen modernen Rezeptionshorizont darzustellen. Im Anschluss möchte ich die Grundsätze russischer Herrschaftslegitimierung, sowie die Kanonisierungsprinzipien eines sich etablierenden totalitären Regimes herausarbeiten, um aus dem politischen Herrschaftswechsel von Lenin zu Stalin mögliche visuelle Strategien abzuleiten, die für die abschließende, übergreifende Bildanalyse geltend gemacht werden können. Letztendlich möchte ich mich mit der Frage auseinandersetzen, ob die Gol’dšteinfotografien einem der wissenschaftlichen Ansätze zuzuordnen ist, oder eine weiter gefasste Definition dafür gefunden werden muss. Ich komme vorab zu dem Schluss, dass eine einseitige Zuordnung diesem Bildkomplex nicht gerecht wird.

2. Die Ikone und das Gewaltbild

Mit der Ikone sind die etymologische Herkunft des Abbilds, sowie eine Vermittlerfunktion zwischen Übersinnlichem und Irdischem, verbunden.[5] Ihre Wirkkraft ist die eines mystischen Bezugs, d.h. die physische und psychische Erfahrbarkeit Gottes.[6] Sie ist Gegenstand manifester Verehrung und ein zentraler Punkt kultureller Identitätsvermittlung.[7] In dessen Bezug steht ebenfalls das ikonografische Zeichenverständnis, in dem Ausdruck und Inhalt eine Analogie formen.[8] Der Ausdruck ist das Abbild des Inhalts, wobei sich die Zeichenbedeutung hierarchisch aufbaut und achronisch angelegt ist.[9] Ikone und ikonisches Zeichen stehen außerhalb von historischem Bedeutungswandel und Interpretationen. Sofern eine Referenz auf die Ikone außerhalb der paradigmatischen Form der Religion erfolgt, kann also nur von einem säkularen Bildzitat gesprochen werden, dass sich durch den Rückgriff auf die religiöse Ikonografie (Formensprache) ausdrückt und die transportierten Zeichen mit einem Interpretationshorizont versieht. Die positive, d.h. heilsvermittelnde, Assoziation der Religion tritt besonders in jenen Momenten auf, die eine Bezugsrelation von Herrschaft und Gewalt innehaben: Im Hinblick auf den Erfahrungshorizont ist die „Veralltäglichung von symbolischer und praktischer Gewalt“[10] ein Charakteristikum von Massengewalt (Kriegen). Im Rahmen der Verdinglichung des Menschen erfolgt die Assoziation von Krieg /Gewalt mit der Idee von Sieg und Glück. Diese Ästhetisierung, d.h. die Aufwertung des Schreckens zum Schönen, legt eine Kompensationskraft offen, die der physischen Massengewalt eine Legitimationsgrundlage schafft und einen psychosozialen Stabilisator für das Individuum und für eine Gesellschaft darstellt.[11] Die gleichen Funktionen besitze, laut Brock, die Religion: „Das Religiöse entwendet dem Menschen die Gewalt und verwandelt sie in Transzendenz. Nur eine Transzendenz kann Gewalt legitimieren. […] Das Heilige ist die nach außen projizierte Gewalt des Menschen.“[12] Religiöse Transzendenz und Ästhetisierung bilden somit psychische Verfahren, die dem Menschen die Gewalt entwenden und verfremden. Gewalt und Krieg verlieren dann ihren Schrecken, wenn sie nicht mehr mit „dem Schrecklichen“ assoziiert werden. Dass die Abbildung von Gewalt, gleich welcher Art, nicht immer mit deren Verherrlichung verbunden ist, zeigen Elisabeth Oy- Marra[13], Veronika Darian[14] und Helmut Hartwig. Im Zentrum jener Darstellungen, die Gewalthandlungen am menschlichen Körper abbilden, stehe das Seherlebnis des Betrachters.[15] Je näher die Abbildung der Gewalt dem realen Gewaltakt entspricht, vermittelt sie einen ästhetischen Unmittelbarkeitszwang.[16] Somit wohnt dem „alten Gewaltbild“[17] die Funktion einer historischen Quelle inne, die einen dokumentarischen Blick auf den Gewaltakt zulässt. Die Gewaltdarstellung als bloße Gewaltabbildung aufzufassen, läuft allerdings der umfassenden Deutung zuwider. Ebenso ist das Verhältnis von Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt nicht explizit auf eine ideelle Überhöhung ausgerichtet, sondern kann antagonistisch als kritisches Beispiel herangezogen werden, um „die Missachtung von Kultur durch Barbarei“[18] zu demonstrieren.[19] Somit kann diese Darstellungsart auch jene kritisieren, die Gewalt im Sinne von Macht ausüben. Das Gewaltbild an sich steht folgerichtig immer im Kontext „inhaltlicher Gewaltdarstellung, formaler Machtausübung und bildimmanenter Macht“[20], d.h. Mimesis, Repräsentation und Rezeption von symbolischer Gewalt, die auf die sinnliche Erfahrung des Betrachters ausgeübt wird. Das einem Bild durch Gewaltdemonstration die Funktion einer Machtrepräsentation[21] innewohnt, beruht darauf, dass beide Parameter sich derselben funktionalisierten Zeichen bedienen, die nach dem rhetorischen Rezeptionsprinzip Überzeugung -Vergegenwärtigung- Überwältigung agieren.[22] Darian schreibt dazu: „Diese Funktionen aber verweisen auf der ersten Ebene auf eine Etablierung und Stabilisierung von Herrschafts- durch Beibehaltung von Wahrnehmungssystemen.“[23] Wenn Herrschaft und Macht durch Sehen und Rezeption gestärkt wird, kann gefolgert werden, dass die Destabilisierung etablierter Machtsysteme und Herrschaftswechsel über die Dekonstruktion bzw. Umwertung kulturell normativer Wahrnehmungs- und Zeichensysteme erfolgt.

2.1. Die moderne Ikone

Nicht zuletzt nennen wir heute jene Bilder Ikonen, die aus dem Bereich des Fotojournalismus stammen, also über einen ästhetischen Aussagewert verfügen und in der Regel mit einem konkreten historischen Ereignis in Verbindung gebracht werden. Stellt ein Betrachter eines Bildes einen konkreten Zusammenhang zu einem Ereignis her, so handelt es sich in erster Linie um eine erfolgreich geleistete Verknüpfung, die über die Medien etabliert wurde.[24] Reinold Viehoff bestätigt in diesem Kontext jenen Bildern einen kanonischen Charakter, die über ästhetische Drastik verfügen und nach einem „Avantgarde-Muster“ etabliert wurden, d.h. somit die Grundlage für Bildzitate[25] geschaffen wird. Das Avantgarde-Muster folgt dem Prinzip der Serialität (Wiederholung) und referiert hierbei auf den einst von Viktor Šklovskij[26] formulierten Verfahrenscharakter der Kunst, deren Selbstzweck die Provokation menschlicher Wahrnehmung sei. Viehoff fokussiert allerdings auf den Automatismus der Wahrnehmung, der für die Kanonisierung eines Bildes bzw. Bildinhaltes eine Bedingung darstellt: „Unsere Wahrnehmung ist durch medial (und nicht-medial) vorgängige Wahrnehmungen auf Wiedererkennung als Zusammenspiel von Dargestelltem und Vorwissen angelegt, wir erkennen und nehmen bevorzugt wahr, was wir schon wiederholt im gleichen oder ähnlichen Kontext wahrgenommen haben und was wir entsprechend einordnen können.“[27] Das Avantgarde-Muster bzw. die Serialität wird aus unterschiedlichen Reproduktions- und Rezeptionsaspekten gebildet: „(1)(Re-) Inszenierung des Bildes in unterschiedlichen Teilkulturen, wobei sich die Ritualisierung des Bildes in Presse und/oder Fernsehen vollzieht, (2)(Re-)Inszenierung durch Kunst, Theater, Film, die zur Mystifizierung des Bildes beiträgt, (3) Sekundäre Reproduktion in medialer Berichterstattung über die Kanonisierung des Bildes, (4)Verbreitung eines Bildes in Konsum- und Alltagskultur, (5)Tertiäre Reproduktion der ökonomischen Bildkanonisierung (6)Etablierung eines Bildes als Gegenstand von politischen und kulturellen Ritualen als Element ritueller Performanz, (7) Quartäre Reproduktion im quasi seriellen Medienblick auf solche Rituale“[28].

In Bezug auf die Goldsteinaufnahmen und deren Variationen, d.h. die Trozki-Retusche und die Bildkupierung, ist dies auf den ersten Hinblick kritisch zu werten. Jedoch charakterisiert Viehoff diese Punkte nicht als evolutionär-hierarisches Prinzip: Ein kanonisiertes Bild kann auch bei partieller Entsprechung vorliegen .[29] Dieser Ansatz ist indes weit gefasst, sodass die Gefahr besteht, wahllos Ikonen zu identifizieren. Dennoch sind auch hier Merkmale zu nennen, die auch einer traditionellen Ikonendefinition innewohnen: Rezeption, Wiederholung der Form und die symbolische Verknüpfung (auch politisch-kulturell). Weiterhin muss in Bezug auf die Goldsteinfotos der Ausbau eines totalitären Regimes mitberücksichtigt werden, als dass hier die Intentionalität der Bilder in den Fokus rückt. Die Besonderheit des Fotos liegt indes in seiner Medialität begründet, die sich nicht nur als Kanal des ästhetischen Gefüges, sondern auch als Vermittler einer Spur, d.h. Beleg- und Dokumentationsintention ist. Laut Viehoff könne diese Intention nicht genau belegt werden[30], jedoch muss angesichts der Medienform und dem politischen Kontext der frühen Sowjetunion davon ausgegangen werden, dass Intentionalität ein zentrales Charakteristikum der Goldsteinaufnahmen darstellt.

2.2. Schlagbilder

Michael Diers betrachtet das Bild, genauer gesagt, die Fotografie prinzipiell als historische Kommunikationseinheit: „Die Fotografie übersetzt die politische Inszenierung, die im Ablauf des Zeremoniells selbst bereits wie ein Tableau vivant arrangiert ist, ins Bild und nobilitiert diesen Akt, indem es ihn festschreibt um ihn gleich darauf zu veröffentlichen.“[31] Das Foto hat, wie auch bei Viehoff, eine generelle Doppelfunktion eines „Bild- und Augenzeugenberichts“[32]: So wird das Pressebild nicht nur als Ergänzung zur Tagesberichterstattung[33], sondern auch als Dokumentation des Zeitgeschehens wahrgenommen. Politische wie ästhetische Aussage und Repräsentation einer bestehenden Ordnung, sind in diesem Analyseverfahren der Mediengattung „Foto“ zu eigen, ohne dass diese erst hergeleitet bzw. gesondert identifiziert werden müssen. Diers spricht zunächst vom öffentlichen Bild, d.h. einem Kommunikat, das den Charakter eines Gebrauchsgegenstands aufweist, als dass es den öffentlichen wie auch privaten Raum mit einer zeichengebundenen Appellfunktion versieht.[34] Das öffentliche Bild ist ein Schlagbild[35]. Es verfügt über eine hohe Umschlagszahl und wird in logischer Folge von einem großen Menschenkreis rezipiert und wahrgenommen.[36] Hier stehe nicht der Kunst- sondern der Bildcharakter selbst im Zentrum[37]: „Was vielfach als Trivialisierung und Entleerung der Hochsprache der Kunst erscheint, ist nur deren kalkulierte Übertragung in neue Zusammenhänge, ihre Umsetzung und Anwendung im Alltag – vielfach via Rückübersetzung.“[38] Diers fokussiert darauf, dass ein Schlagbild im wahrsten Sinne allen Regeln der Kunst folgt, d.h. auch über das fortbestehendende Charakteristikum der Wahrnehmungsprovokation verfügt. Das Schlagbild selbst ist ein Gewaltbild, das die Zeichen zwischen Herrschaft und Öffentlichkeit vermittelt und imstande ist eine Surrogatrealität herzustellen.[39] Angesichts der retuschierten und kupierten Variante der Goldsteinaufnahmen kommt die Künstlichkeit der historischen Realität über die Parameter der Zensur und der damnatio memoriae zum Tragen. Dennoch muss kritisch angeführt werden, dass Diers von einem Schlagbild ausgeht, sofern sich dessen ästhetisches, bildimmanentes Gefüge auf einen bereits etablierten Bilderkanon zurückbezieht.[40] Angesichts der frühen Sowjetunion, muss daher nicht nur gefragt werden, wie kanonisiert wird, sondern auch die Referenz des Kanons bzw. des kulturellen Zeichensystems mitbedacht werden. Letztendlich muss durch das Revolutionsjahr, den Bürgerkrieg und den Tod Lenins eine Reihe von politischen Zäsuren berücksichtigt werden, die als beeinflussende Faktoren in Bezug auf die Visualität (von Herrschaft) in Frage kommen. Diers wie auch Darian verweisen beide im weitesten Sinne auf die Verbundenheit von politisch-kulturellen Zäsuren und Zeichenkrisen.[41]

3. Russland und die semantische Herrschaft

[42]

Generell stellen der „Raum“ oder auch „Raumweite“ in Bezug auf Russland ein historisch kontinuierliches Merkmal dar, aus dem sich wie Sergei Medvedev darlegt von der Zaren bis in die Sowjetzeit, eine „atopische Kultur“[43] entwickelt, die sich vorwiegend an mentale dispositive Topoi binde. Dazu gehörten die Ungebundenheit des Raumes (Asien/ Europa), die Oppositionalität von Zivilisation und Wildnis, sowie die disproportionale Entgegenstellung von Rückstand und Fortschritt.[44] Die „Atopie“, das Fehlen eines Topos, d.h. einer Formkategorie, wird hier über gleichgestellte Parameter vermittelt. Eindeutigstes Merkmal dieser Atopie sei jedoch die Gegenüberstellung eines (Macht-)Zentrums mit kultureller Dominanz zu einer regierten Polypherie[45]. Die Herrschaft über den ungebundenen Raum bindet sich an eine Repräsentationskrise, die aus der Diskrepanz zwischen beherrschtem heterogenen Realterritorium (Polypherie) und der simulierten Raumhomogenität seitens der herrschenden Autoritäten entsteht.[46] Dabei assimiliert das Machtzentrum die Polypherie in symbolischer Form über das Erzeugen und die Verbreitung von Zeichen staatlicher aber auch kultureller Macht und Kontrolle. Medvedev schreibt hierzu: „Signs like „Russia“ and „empire“ hardly represented any feasible political, economic and ethnic reality at all; instead, they simulated it, serving as functions of other signs, as words that had to be written down in the blank spaces on the map.”[47] Kurzum, Russland ist ein Vielvölkerstaat, der mit einer kulturellen und machtpolitischen Dominanz der Russen als Nation vereinnahmt und aufrechterhalten wurde. Nation/Nationalität und Raumherrschaft wird konstruiert und entzieht dabei den Machthabern den Zugriff auf den Raum. Die „Repräsentationskrise“ definiert sich über die besagten „Potemkinschen Dörfer“ – über Machtzeichen ohne Referenz, denen ,als logische Vorraussetzung für Herrschaft und deren Legitimation, Referentialität gegeben werden muss.[48] An dieser Stelle ist auf die übergeordnete Raumbenennung “Eurasien“[49] zu verweisen, eine Wortschöpfung die in den 1920ern in Russland etabliert wurde. Die Kombination aus (Eigenen) und (Anderen) legt nahe, dass versucht wurde einen einheitlichen Herrschaftsraum zu generieren. Das Sozialismuskonzept Lenins war das Konzept einer Utopie der Modernisierung letztendlich „ein Synonym für die Europäisierung des alten Russland, und in diesem Verständnis war er eine Angelegenheit von Intellektuellen und aufgeklärten Stadtbewohnern, die vorgaben, im Namen von Arbeitern zu sprechen. Vom bäuerlichen Russland und von der asiatischen Peripherie des Imperiums hatten die bolschewistischen Führer nur verschwommene Vorstellungen. [...].“[50] Die Bolšewiki maßen sich selbst und ihre Herrschaft an der Überwindung der Heterogenität des Imperiums, dessen kulturelle Verschiedenheit eine Bedrohung darstellte, als dass miteinander konkurrierende Entwürfe des jeweilig anderen, „stets nur die Überlegenheit der eigenen Weltanschauung bestätigte.“[51] Im Zuge der Kampagne der nationalen Einwurzelung, wurde zunächst versucht, die lokalen Eliten an sich zu binden, damit dieser Modernisierungsanspruch durchgesetzt werde: Der neue zivilisierte Mensch nach europäischem Vorbild, „trug europäische Kleidung, er unterwarf sich dem Rhythmus des modernen Arbeitslebens, und er verachtete die Religion[...][52]. Erst als sich dieses Bild nicht durchsetzen ließ und die sowjetische Herrschaft durch den Wiederstand der Peripherie zu scheitern drohte, wurde das Konzept der Kulturrevolution[53] forciert, um „die konkurrierende Deutung zum Schweigen“[54] zu bringen. Sie war „die Deligitimierung des Anderen“[55] und forcierte eine einheitliche Basis, die transportierte Herrschaftszeichen nicht mehr hybridisierte[56]. „Für die Bolševiki kam es darauf an, dass sich das Bewusstsein der Untertanen von Altem leerte und mit Neuem füllte. Der neue Mensch war einer, der nur in solchen Vergangenheiten lebte, die die Bolschewiki eigens für ihn entworfen hatten. Er vergaß.“[57] Die Umformung des Kulturgedächtnisses muss also als politische Grundaussage verstanden werden.

[...]


[1] Lauer, Reinhard: Geschichte der Russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000.

[2] vgl. dazu King, David: Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulation in der Sowjetunion. Hamburg 1997. S. 66-71. Künftig: King. Besonders mit den Bildbeispielen von Waschik, Klaus: Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, S.1-15, Online-Ausgabe, 7 (2010), H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Waschik-1-2010, Künftig: Waschik:Virtual. Vgl. auch dazu Waschik, Klaus: Wo ist Trotzki? Sowjetische Bildpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er Jahren. S.252-259. In: Gerhard, Paul(H.g.): Das Jahrhundert der Bilder. Band 1: 1900 bis 1949. Bonn 2009.(=Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 772.) Künftig: Waschik: Trotzki. Die Problematik liegt in der Unterschiedlichen Ausweisung der Bildzitate begründet. King fokussiert auf das Verhältnis Vorläuferfoto-Pressefoto-Retusche (vom Vorläuferfoto wahrscheinliches Entstehungsdatum nach 1927)- Farbgemälde- kupiertes Bild . Waschik hingegen deutet auf die Ableitung Vorläuferfoto-Pressefoto-Farbgemälde- schwarz-weiß Veröffentlichung des Gemäldes- Retusche (Veröffentlichung in den 1960er Jahren) und kupiertes Bild ( ebenfalls ca. ab 1960)

[3] ebd.S.68

[4] Waschik, Virtual. S.2

[5] Büttner, Frank und Gottdang, Andrea (Hg.): Einführung in die Ikonografie. Wege zur Deutung von Bildinhalten. München 2006.S.30: „Das Wort Ikone geht auf das griechische είχώγ zurück, was so viel wie Bild oder Abbild bedeutet. Es bezeichnet […] das Kultbild der Ostkirche, dem kultische Verehrung, wie Kuss, Proskynese, Weihrauch- und Blumengaben zuteil wird.“

[6] Bornheim, Bernard: Ikonen. Augsburg 1990 (= Battenberg Antiquitätenkataloge), S.9: „Sie (die Ikone) hilft uns jenes tiefe Glaubensgeheimnis intuitiv zu erfassen, als dessen Bild gewordenen Ausdruck ein religiös verwurzelter Mensch sie erlebt: göttliche Natur in irdischer Gestalt.“

[7] Ebd. S.8ff

[8] Vgl. dazu Lotman, Jurij: Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst. Leipzig 1981.S.158ff

[9] Ebd. vgl. dazu auch den semantisch-syntaktischen Kulturcode ab dem 19. Jahrhundert in: ebd. S. 173: „[…] Daraus ergeben sich Betrachtungen zur Nichtzufälligkeit und organischen Strukturiertheit geschichtlicher Tatsachen und auch dazu, daß(sic) jede Beschreibung der Wirklichkeit mit den Begriffen einer vorgefaßten (sic) Theorie von vorherein zum Scheitern verurteilt ist – das System der Welt muß (sic)man aus der Beschreibung ihrer Struktur ableiten. Allerdings eröffnet gerade dies – nämlich die Vorstellung, daß (sic) ein Faktum außerhalb des Systems ein nicht existentes Faktum ist – weite Möglichkeiten für die „Versöhnung“ mit der Gewalt, die das Allgemeine über das Besondere, Geschichte über Staat, […] ausübte.

[10] Reimann: Der Erste Weltkrieg. S.35: „In erfahrungshistorischer Perspektive gilt die Veralltäglichung von symbolischer und praktischer Gewalt als wichtiges Signum des Ersten Weltkrieges.“ Er geht davon aus, dass der Erste Weltkrieg als kulturpolitischen Vorläufermodell für die Kriege des 20. Jahrhunderts zu werten ist. Dieses Beispiel der Verdeutlichung der Universalität der Banalisierung von (Massen-)Gewalt dienen.

[11] Brock, Bazon: Warum es keine Kriege mehr gibt. S.149-162. In: Krieg und Kunst. Hg. von Bazon Brock und Gerlinde Koschik. München 2002. S.152ff. Künftig: Brock.

[12] Ebd. S.154

[13] Oy-Marra, Elisabeth: Bildstrategien von Schrecken und Erlösung. Der geschundene Körper christlicher Märtyrer in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts. In Zenk, Martin u.a. (Hg.): Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien. Berlin 2007.(`= Reihe Historische Anthropologie Bd.34),S.249-274, Künftig: Oy-Marra: Bilderstrategien.

[14] Darian, Viktoria: Erlesene Bilder­ Repräsentationen in Zeiten souveräner Macht. S.171-182 In: Zenk, Martin u.a. (Hg.): Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien. Berlin 2007.(`= Reihe Historische Anthropologie Bd.34), Künftig: Darian.

[15] Ebd. S.176: „Diese Definition[…] weist darauf hin daß(sic)[…] die demonstrative Gewaltausübung, nicht ohne den Zeugen der Demonstration auskommt, wenn nicht sogar nicht stattfände, gäbe es diesen Zeugen nicht.

[16] Ebd. S.174: „ Es handelt sich erstens offenbar um die ästhetische Vermittlung von Gewalt- im Gegensatz zur Unmittelbarkeit einer realen Gewalttat- und zweitens um eine Repräsentation genau dieser Unmittelbarkeit, die für die Betrachtung entworfen ist.“

[17] Vgl. dazu Kapitelüberschrift „Alte Gewaltbilder“ in Hartwig, Helmut: Die Grausamkeit der Bilder. Horror und Faszination in alten und neuen Medien. Weinheim/Berlin 1986. S.37

[18] Oy-Marra: Bilderstrategien. S. 270: „Dem Betrachter wird vielmehr deutlich gemacht, dass diese verabscheuungswürdige Barbarei der Missachtung von Kultur zu verdanken ist.“

[19] Vgl. dazu Grumpelt-Maaß, Yvonne: Kunst zwischen Utopie und Ideologie. Die russische Avantgarde 1900-1935. Univ., Diss.—Mainz: St. Augustin 2001. Sie behandelt u.a. auch die Form der Ikone als Grundlage für die Diversifizierung der Formensprache der russischen Avantgarde. In Bezug auf den Untersuchungsraum, stellt dies ein Signum dar, dass nicht außer Acht gelassen werden sollte.

[20] Vgl. dazu Darian, S. 171: „ Die Phänomene 1. Der inhaltlichen Darstellung von Gewalt 2. Der formalen Ausübung von Gewalt und 3. Der immanenten Macht des Mediums Bild werden in dieser Reihenfolge zur Sprache kommen.“

[21] Ebd.S.173: „Denn eine besonders effektive Strategie der Erhaltung von Macht durch das Bild und ebenso der Wirkung einer immanenten Bildmacht ist mit Sicherheit der Rückgriff auf ein Sujet, an dem Macht über Menschen – denn es ist immer auch Macht über Körper – augenscheinlich wird: das Sujet der Gewalt, des Schreckens und des Todes.“

[22] Darian.S.176ff

[23] Ebd. S.178

[24] Viehoff, Reinhold: Programmierte Bilder. Gedanken zur ritualisierten Zirkelstruktur von Wahrnehmung und Inszenierung durch die Bild(schirm)medien. S. 113-131. In: Fischer, Ludwig (Hg.): Programm und Programmatik. Kultur- und medienwissenschaftliche Analysen. Konstanz 2005.S.114f. Künftig: Viehoff.

[25] Ein Bildzitat meint an sich wiederholbare und aufgreifbare ikonografische Formgehalte. Hierbei kann sowohl das gesamte Bild, als ästhetisches Wirkungsgefüge, als auch ein konkretes Detail in einem anderen Kontext aufgegriffen werden. Viehoff verdeutlicht diesen Mechanismus an den Bildern aus Abu Ghraib.

[26] Šklovskij, Viktor: Iskustvo kak priem. S.9-25.In: O teorii prozy. Moskva 1983.

[27] Viehoff, S.115

[28] vgl dazu Viehoff,S.117f

[29] vgl. Viehoff , S.119. Er verdeutlicht dies am Beispiel der Che-Guevara-Aufnahme von Alberto Diaz (1960).

[30] Viehoff, S. 119f: „Es ist offensichtlich, dass zahlreiche Handlungen des oben beschriebenen ritualisierten Zusammenhangs nicht mit der Intention ausgeführt werden, die Wahrnehmung des zeitgenössischen Publikums der Bilder „zu programmieren“, ebenso wenig kann sinnvoll angenommen oder gar sicher bewiesen werden, dass bei der Produktion oder Verarbeitung solcher Bilder immer die Intention vorherrscht, damit vorhergehende Bilder zu zitieren, ihre Wirkungsgeschichten fortzuschreiben und die Blicke der Betrachter zu disziplinieren.“

[31] Diers, Michael: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1997. S.21. Er betrachtet das Bild somit auch als historisch analysierbare Quelle. Künftig:Diers.

[32] ebd, S.21

[33] ebd. S.22: „Bild und Politik verschränken sich zu einem Kommunikationsverbund, den der Betrachter nachvollzieht. Das offizielle Pressefoto verlautbart gleich einem Kommunique Politik in Form eines Bildes, und als eine Presseerklärung wird es auch gelesen.“ Gemeint ist hier eine explizite Textergänzung die autonom ausgelesen wird.

[34] ebd. S.38f

[35] vgl. dazu Diers, S.7: „Dem Schlagwort, dass nicht selten eine Zeit oder Zeitströmung auf einen stimmigen, mitunter auch polemischen Begriff zu bringen vermag und in aller Munde ist, antwortet mit dem Schlagbild in ähnlicher Funktion eine ubiquäre, ganz auf Wirkung verlegte, eindrückliche Darstellung, seien es z.B. Spott-, Reklame- oder Pressebilder. Die Angriffslust, die als Assoziation in dem einen wie dem anderen Begriff mitschwingt, erwächst aus dem historischen Kontext, dem Gebrauch der Hieb- und Stichwaffen auf der Bühne, wo das Schlagwort seit dem 18. Jahrhundert in synonymer Verwendung mit der Bezeichnung Stichwort seinen Ort hat.“

[36] ebd., S.30: „Schlagbilder wie diese, deren massenhafte Verbreitung erst durch die technische Innovation möglich geworden war, liefen zuhauf auch in der Gegenwart um, in der die Techniken der Fotografie, der Autotypie und des Mehrfarbendrucks die Produktion, Umschlaggeschwindigkeit und Distribution von Bildern noch einmal um ein erhebliches Maß erweitert und beschleunigt hatten.“

[37] ebd, S.42f

[38] ebd, S. 43f

[39] ebd, S. 43: „In der Rezeption werden diese Produkte als Wirklichkeit erfahren und realisiert.“

[40] ebd, S. 25. Er gründet indes auf die Theorieansätze von Aby Warburg, der in seinen Analysen vorwiegend die Gestenform in den Mittelpunkt gestellt hat. Diers geht wie Warburg davon aus, dass Gesten paradigmatisch kanonisiert werden. Die Geste stellt dabei eine primäre Förderung von Herrschaftsidentifikation und –bestätigung dar.

[41] ebd, S.9f: „Epochen des politischen Umbruchs sind gewöhnlich auch Zeiten einer politischen Zeichen- und Bilderkrise, allemal im Zeitalter der (Bild-) Information[...]“

[42] Medvedev, Sergei: A general Theory of Russian Space: A gay Science and Rigorous Science, S.15-48. In: Smith, Jeremy (Hg.): Beyond the Limits. The Concept of Space in Russian History and Culture. Helsinki 1999. (=Studica Historica 62) Künftig: Medvedev

[43] Medvedev., S.18

[44] ebd. S.16ff

[45] ebd. S.17: “A Great Polyphery: Russian Space is a conglomeration of peripheries.”

[46] ebd, S.18: „In fact this is the basic dilemma faced by any extensive culture: the more you expand, the less you control.”

[47] ebd S.26

[48] ebd, S.25

[49] ebd, S.17

[50] Baberowski, Jörg: Repräsentaitionen der Ausschließlichkeit. Kulturrevolution im sowjetischen Orient. S.119-137. In: Baberowski, Jörg (u.a.) (H.g.): Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Frankfurt a.M./New York 2008. (=Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich, Bd.1), S.123. Künftig: Baberowski

[51] Baberowski, S.126

[52] Baberowski, S.132ff

[53] ebd. S.128

[54] ebd, S.127

[55] ebd. S.128

[56] vgl. dazu den Theorieansatz von Bhabha, Homi K.: The location of culture. London/New York. 1994. mit der treffenden Zusammenfassung von Rath, Gudrun: “Hybridität und Dritter Raum. Displacements postkolonialer Modelle, S.137-149. In: Eßlinger, Eva u.a. (H.g.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin 2010. S 140: „Indem Kulturen weder dem einen noch dem anderen entsprechen, werden dualistische Begriffe in Frage gestellt.”

[57]. Baberowski, S128

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Details

Titel
Wohin wird Lenin zitiert? Ästhetisch-politische Bildhaftigkeiten Russlands
Untertitel
Ein Beispiel ikonographischer Kanonisierung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
29
Katalognummer
V442587
ISBN (eBook)
9783668805149
ISBN (Buch)
9783668805156
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Russland, Lenin, Bridskij, Realismus, Sozialismus, Goldstein, Bildhaftigkeit, Ästhetik
Arbeit zitieren
Christina Schwigon (Autor:in), 2013, Wohin wird Lenin zitiert? Ästhetisch-politische Bildhaftigkeiten Russlands, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/442587

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