Die katalanische Identitätsproblematik im Roman "El amante bilingüe" von Juan Marsé


Bachelorarbeit, 2014

53 Seiten, Note: 2,6


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung

2.) Definitionsproblematik einer katalanischen Identität
2.1) Sprachidentität als Nationalidentität
2.2) Sprachliche Situation in Katalonien

3.) Analyse
3.1) Situierung des Romans im Gesamtwerk
3.2) Identitätsverlust des Protagonisten
3.2.1) Herkunft, Kindheit und Bedeutung der Sprachwahl des Protagonisten
3.2.2) Die Verwandlung zum xarnego
3.2.3) Die Rolle der xarnegos in Katalonien
3.3) Sinnbilder und Metaphern der katalanischen Kultur
3.3.1) Walden 7
3.3.2) Seine Frau Norma und die Villa Valentí
3.3.3) Der Straßenmusikant
3.4) Schauplatz Barcelona
3.5) Übereifer der Katalanen

4.) Fazit

5.) Literaturverzeichnis

1.) Einleitung

Der katalanische Autor Juan Marsé, 1933 geboren in Barcelona, widmet sich in seinem Roman „El amante bilingüe“ einem der prägnantesten Konflikte der katalanischen Gesellschaft. Oberflächlich betrachtet scheint es sich bei der Frage nach Identität nicht um ein Problem zu handeln, da es verschiedene Kriterien gibt, die jedem eine Identität zuweisen, ohne das darauf bewusst Einfluss genommen werden kann. Gemeint sind in diesem Fall Kriterien wie Geburts- oder Heimatort, Herkunft der Eltern, sowie landestypische Tugenden. Marsé demonstriert in seinem Werk, dass es sich hierbei um ein komplexeres Thema handelt. In einer Gesellschaft als integriert und akzeptiert zu gelten, liegt oftmals nicht bei dem Individuum selbst, sondern wird von weiteren sozialen Faktoren beeinflusst. Diese Annahme bildet die Ausgangsthese für die folgende Analyse. Inwiefern ist es einem Individuum möglich die eigene Identität zu beeinflussen?

Die kritische und zugleich satirische Darstellung des Autors, die die Sprachpolitik Kataloniens im Fokus hat, zeigt auf, dass diese durchaus ihre repressiven Züge hat.[1]Daher liegt der Analyse eine Betrachtung der sprachlichen Situation in Katalonien seit dem Tod Francos zugrunde, sowie eine Darstellung der katalanischen Identitätsproblematik, die aus den Folgen der Geschichte resultierte. Der Roman rückt das Kriterium der Sprache bei der Frage nach Identität in den Fokus.

Marsé ordnet sich mit seinen Werken in die Kategorie der Romane über die Nachbürgerkriegszeit ein und verarbeitet persönliche Erfahrungen und Erinnerungen in seinen Geschichten. Auffallend im Roman „El amante bilingüe“ ist bereits die Namenswahl des Protagonisten. Bei Juan Marés handelt es sich um ein Anagramm, gebildet aus dem Vor- und Zunamen des Autors selbst. Ebenso der Name Faneca, der das zweite Ich des Protagonisten repräsentiert und im Laufe der Erzählung den Charakter dominiert, steht in Verbindung mit dem Autor. Sein ursprünglicher Name Juan Faneca Roca änderte sich bedingt durch eine Adoption durch das Ehepaar Marsé. Das Geburtsjahr des Protagonisten und des Autors ist identisch und lässt Spielraum für Vermutungen nach weiteren Parallelen zwischen den beiden Biographien.

In der spanischen Nationalismusdebatte herrscht ein weiterhin bestehendes Problem bei der Zuordnung derjenigen katalanischen Autoren, die fast ausschließlich auf Kastilisch publizieren. Offiziell werden ihre Werke nicht zur katalanischen Literatur gezählt, obgleich der Hauptaustragungsort des Geschehens Katalonien ist.[2]

Juan Marsé wurde im Jahr 2001 mit demPremio Nacional de Literatura, demPremio Nacional de la Crítica, sowieim Jahr 2008 mit demPremio Cervantesausgezeichnet. Bei demPremio Cervanteshandelt es sich um den wichtigsten Literaturpreis in der spanischsprachigen Welt und ist dort ähnlich angesehen, wie der Literaturnobelpreis. Außerdem erhielt er im Jahr 2002 dieCatalan Gold Medal for Cultural Merit.

„El amante bilingüe“ ist nicht das einzige Werk des Autors, indem er persönliche Erfahrungen verarbeitet. In „Ultimas tardes con Teresa“ (1966) setzt er sich vor dem Hintergrund der Studentenunruhen in den späten 50er Jahren mit dem Universitäts- Arbeiter- und Milieu der Picaresca auseinander. In „Si te dicen que caí“ (1973) finden sich ebenfalls autobiographische Elemente wieder und bilden eine Verbindung mit der Lokalhistorie von Barcelona und Erlebnissen der Nachkriegszeit. Bei „Un día volveré“ (1982) und „Ronda de Guinardó“ (1984) handelt es sich um Fortsetzungen.[3]

Die katalanische Identitätsproblematik findet jedoch in „El amante bilingüe“, dem Ausgangswerk für die folgende Analyse, den prägnantesten Ausdruck. Der Protagonist befindet sich nach dem Betrug seiner Ex-Frau in einer Identitätskrise und scheint alleine nicht in der Lage, sich zu definieren. Obwohl er sich seiner katalanischen Wurzeln bewusst ist, gelingt es ihm nicht von derburguesa barcelonesaakzeptiert zu werden.

Die Thematik gibt auch im aktuellen Zeitgeschehen Anlass zur Diskussion, da die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens auch im Laufe der Zeit nicht abgenommen haben. Das Werk ist auch aktuell Forschungsgegenstand in der Literaturwissenschaft und bildet den Ausgangspunkt für die Betrachtung des Konflikts auf mehreren Ebenen. Im Rahmen dieser Arbeit steht die Hypothese inwiefern sich die katalanische Identitätsproblematik in dem Roman widerspiegelt im Vordergrund. Der Aufbau der Analyse stützt sich daher primär auf den Protagonisten und seinen mentalen Verfall, sowie die daraus resultierende Verwandlung zum charnego. Weitere Elemente die den Konflikt reflektieren, erhalten ebenfalls eine gesonderte Betrachtung, da sie das gesamte Spektrum der Problematik aufzeigen. Gemeint ist das Appartement der Eheleute in Walden 7, Marés Rolle als Straßenmusikant und die besondere Stellung Norma Valentís. Barcelona als Schauplatz des Romans erhält ebenfalls eine eingehende Ausführung, um den Konflikt auf geografischer Ebene zu beleuchten. Desweiteren lassen sich neben den biographischen Einflüssen des Autors auch Wertungen erkennen, die in dem letzten Kapitel „Übereifer der Katalanen“ aufgezeigt werden.

Eine genaue Betrachtung des Werks auf sprachwissenschaftlicher Ebene ist nicht Teil der Arbeit, da der Schwerpunkt auf dem historischen Kontext des Romans und den daraus hervorgegangenen Auswirkungen auf das Individuum liegt. Das Ziel der Arbeit ist es, die katalanische Identitätsproblematik zu erläutern und ihre Darstellung im Roman „El amante bilingüe“ auf allen Ebenen herauszuarbeiten.

2.) Definitionsproblematik einer katalanischen Identität

Obwohl die Verfassung von 1978 eine regionalistische und keine förderalistische Lösung der Autonomiefrage vorsah, sollte der Begriff „Nationalität“ ursprünglich den Basken, Katalanen und Galiciern vorbehalten bleiben, da diese sich von den übrigen Spaniern nicht nur historisch, sondern auch sprachlich-kulturell und teilweise ethnisch unterscheiden.[4]Während des Franco-Regimes kam es zu vielfältigen Repressionsmaßnahmen, die die sprachlich-kulturelle Identität dernacionalidades históricasauszulöschen versuchten.[5]Die Rede ist hier von massenhaften „Säuberungen“ in den Verwaltungen und öffentlichen Institutionen, sowie der Zerstörung von Zeugnissen der Regionalkultur und dem Verbot vom Gebrauch der Regionalsprache bei Behörden und in der Öffentlichkeit. Außerdem versuchte man den wirtschaftlichen Einfluss beider Gebiete einzudämmen, indem man die Regionen zu hohen Steuerabflüssen verpflichtete, die die Entwicklung des weniger industrialisierten Spaniens fördern sollten.[6]Die politische Dezentralisierung und der daraus resultierendeEstado de lasAutonomías, war also die Antwort auf die immer stärker hervortretenden Regionalismen nach dem Tod Francos (1975).[7]Die erste gebildete demokratische Regierung unter Ministerpräsident Adolfo Suárez (1977) entschloß sich also in fast allen Teilen des Staatsgebietes „durch Gesetzesdekrete vorläufige Autonomieregime [...] (preautonomías) einzurichten.“[8]Dass das Baskenland und auch Katalonien hier eine Vorreiterposition einnahmen, unterstreicht erneut ihren besonderen Status. Um den Redemokratisierungsprozess zu beschleunigen, begann man mit der Wiederherstellung derGeneralitatund der Einrichtung desConsejo General del País Vasco.[9]Außerdem hatten sie den Vorteil, dass sie ihren in der Vergangenheit bereits manifestierten Autonomiewillen nicht erneut zum Ausdruck bringen mussten.[10]Während dertransiciónkam es in dennacionalidades históricaszu einem explosionsartigen Anstieg des regionalen Bewusstseins, welches auch in den 80er Jahren auf einem hohen Niveau verbleiben sollte.[11]Katalonien besitzt dabei auf der politischen Dimension, also bei der Bevorzugung des Begriffs Nation gegenüber dem Begriff Region, höhere Werte als das Baskenland.[12]

Dennoch besteht bis heute eine Definitionsproblematik der katalanischen Kultur. Was macht eigentlich die katalanische Kultur aus? Inwiefern untscheidet sich diese vom Rest Spaniens?

2.1) Sprachidentität als Nationalidentität

Die Folgen der jahrelangen Unterdrückung und der anhaltende Unabhängigkeitskampf der Katalanen, zeigen sich nach wie vor in den Bestrebungen der Region, sich von anderen Nationen – allen voran Spanien – abzugrenzen.[13]Bereits seit der Industrialisierung hatte Katalonien einen ökonomischen Vorsprung gegenüber den anderen spanischen Regionen zu verbuchen, woraus eine eigene Bewusstseinsbildung resultierte. Im 19. Jh. bestanden klassenübergreifende nationale Bündnisse von Bourgeoisie, Industrie und Wirtschaft sowie Arbeiterschaft zugunsten des Katalanismus. Das wesentlichste Zugehörigkeitsmerkmal, ungeachtet der organisatorischen Heterogenität, formte die Sprache als nützliches Kommunikationsmedium. Sie war nicht bloß Symbol.[14]Es ist also bloß eine logische Schlussfolgerung, dass der katalanische Nationalismus gerade mit der Einheit der Sprache argumentiert und sich dabei vom spanischen Staat und seiner die Nationalsprache in den Mittelpunkt stellenden Kultur- und Sprachpolitik abgrenzt.[15]

Die Sprache als einziger greifbarer Inhalt nimmt daher die Vorreiterposition im nationalistischen Diskurs Kataloniens ein. Die Topoi, die in der „volksüblichen Definition des katalanischen Seins“ genannt werden, grenzen diese Kultur nicht unbedingt von anderen europäischen Kulturen ab (Sinn für Demokratie, „europäischer“ Charakter, Fleiß, Kreativität, Selbstverantwortung) – ebenso wenig wie einige folkloristische Verweise auf katalanische Bräuche und Tänze.[16]

Dass die Sprache im Fokus des nationalistischen Diskurses steht, zeigt der folgende Ausschnitt aus einer Rede des Politkers Jordi Pujol, Präsident der Generalitat von 1980 – 2003. In seiner Rede kommt deutlich zum Vorschein, dass nicht länger zwischen Identität, Nation und Volk unterschieden wird. („[…] la llengua catalana, és un element bàsic de la nostra identitat, del nostre ésser com a poble. He dit algun cop, emprant la fórmula d’un filòleg basc, que el català és el nervi de nostra nació.”[17])Die Darstellung der Sprache als Kern der Kollektivität und der Identität jedes Einzelnen definiert also auch die Identität der Individuen. Diese Annahme impliziert die Gleichsetzung von Sprach- und Kulturidentität.[18]Pujol zieht hier eine klare Grenze zum baskischen Nationalismus und spricht davon, alle Katalanen als Bestandteil Spaniens eng mit der Idee der europäischen Regionen zu verbinden und nicht in einem Territorium zu vereinen.[19]Zum Thema Katalanismus äußert er sich wie folgt: „Katalonien ist eine Nation, und zwar mit allem, was dieser Begriff beinhaltet: historische Vorläufer, geographische Grenzen,Sprache, eigenes Recht, eigene Lebensweise, Tradition und Zukunftspläne.“[20]

Als Folge der jahrelangen Unterdrückung, geht die Sprache also als Schlüsselsymbol des katalanischen Nationalismus hervor. Zu diesem Schluss kam auch Katherine Woolard in ihrer Studie:Double Talk – Bilingualism and the Politics of Ethnicity in Catalonia. („Catalan speakers themselves used the „Catalan“ label almost exclusively to refer to Catalan speakers:”[21])

Unter dem Kapitel „La reconstrucción cultural“ fasst der katalanische Soziolinguist Vallverdú die Bedeutung der Sprache für den katalanischen Nationalismus wie folgt zusammen:

„Uno de los factores clave de la reconstrucción nacional es, sin duda alguna, la normalización lingüística del catalán. La lengua es la señal más visible de una comunidad nacional: además, de llevar a cabo la función socialmente integradora de medio de relación, es la expresión de una cultura, no entendida como un producto homogéneo y estático, ya sedimentado por la tradición, sino como un proyecto heterogéneo, pluriforme y dinámico que, partiendo de la tradición, recoge las inquietudes y aspiraciones culturales de los hombres y mujeres de hoy. Un concepto dinámico e integrador de la cultura como el que formulamos comporta sobre todo la necesidad de un eje vertebrador que, en Cataluña, sólo puede encontrarse en la lengua catalana.”[22]

Aina Moll, katalanische Linguistin und Mitglied der „Grup Català de Sociolingüística“, schrieb 1981 in einem in El País veröffentlichten Artikel mit dem Titel „La normalización del catalán“:No es posible ser catalán y recahzar la lengua de Cataluña. Todo catalán, independientemente de su origen étnico y linguistic, debe aceptar el catalán como lengua propia del país y común a todos sus habitantes.[23]

Bis heute konzentriert sich der Unabhängigkeitskampf also im Wesentlichen auf die Bewahrung und Verteidigung der Regionalsprache und –kultur. Im Baskenland hingegen operiert die Geheimorganisation ETA, die durch Gewalt- und Terroraktionen die Zentralregierung in erhebliche Bedrängnis bringt.[24]

2.2) Sprachliche Situation in Katalonien

Bis heute verwendet die katalanische Forschung viel Mühe darauf, das ganze Ausmaß der repressiven Sprachpolitik während des Franco-Regimes zu erfassen. Denn sie ist nicht nur für den sprachlichen, sondern auch für den bis heute vorherrschenden Kampf um die Unabhängigkeit verantwortlich. Das Jahr 1975 wird als Stunde Null der katalanischen Sprachpolitik bezeichnet. Die drei darauf folgenden Jahre markierten einen gesellschaftlichen und politischen Aufbruch („transición“) und stellten eine Überbrückung bis zum Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 1978 dar.[25]

In der Verfassung von 1978 wurden die Grundlagen der Sprachenpolitik für das nationale Territorium festgelegt:

La Constitución Española [1978], Título Preliminar, Artículo 3

1.) El castellano es la lengua española oficial del Estado. Todos los españoles tienen el deber de conocerla y el derecho a usarla.
2.) Las demás lenguas españolas serán también oficiales en las respectivas Comunidades Autónomas de acuerdo con sus Estatutos.
3.) La riqueza de las distintas modalidades lingüísticas de España es un patrimonio cultural que sera objeto de especial respeto y protección.[26]

Obgleich des Inkrafttretens der Verfassung, bezeichnet Vallverdú die sprachliche Situation in Katalonien im Jahr 1981 - sechs Jahre nach dem Tod Francos - als gänzlich unbefriedigend und in einigen Bereichen unmerklich.

„A partir de 1976, con el fin de la dictadura franquista e el inicio del proceso democratizador en el Estado español, se ha experimentado una mejora general de las condiciones objetivas hacia el camino de la normalización lingüística. Ahora bien, debe señalarse que esta mejora de las condiciones todavía no ha dado resultados plenamente satisfactorios y que, en algunos casos, el avance ha resultado casi imperceptible.”[27]

Im Jahr 1983 folgte dieLlei de Normalització Lingüística (a Catalunya), welche das Katalanische sowohl in der öffentlichen Verwaltung, in den Massenmedien, auf allen Unterrichtsebenen, als auch im alltäglichen Leben manifestierte.[28]Der Gebrauch des Katalanischen sollte dadurch konkretisiert werden. Außerdem wurden in der Debatte um diedrets lingüísticsdrei weitere Aspekte angesprochen, die fortan im Fokus standen. Es ist die Rede von dernormalització, einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen Katalanisch und Kastilisch, sowie der Wahrnehmung und Umsetzung dieser Angelegenheit durch dieGeneralitat. Die Sicherung der Kenntnis und des Gebrauchs des Katalanischen konzentrierte sich auf den öffentlichen Bereich, private Unternehmen waren hiervon jedoch ausgenommen.[29]Im katalanischen Parlament können theoretisch beide Sprachen gebraucht werden, dementgegen wird in der Praxis ausschließlich Katalanisch gesprochen.[30]

Allerdings gab es bereits vor 1983 Bestrebungen, in Form einer speziellen Verwaltungsbehörde (Direcció General de Política Lingüística), die die Sprachpolitik und daraus resultierende Gesetzgebung durchführen sollte.[31]

Während der Bereich der Justiz als „Stiefkind der Normalisierung“[32]betrachtet wird, hat sich der Gebrauch des Katalanischen in der theologischen Fakultät und ihren Instituten in Barcelona in der Lehre, sowie im internen und externen Schriftverkehr konsequent durchgesetzt.[33]Ein weiterer wichtiger Meilenstein in der neueren katalanischen Sprachgeschichte war die Publikation desDiccionari de la llengua catalana,im Oktober 1995, seitens desInstitut d’Estudis Catalans (IEC).[34]

3.) Analyse

Die Geschichte von Juan Marés ist die eines Mannes, der von seiner Frau betrogen und verlassen wurde. Bei ihr handelt es sich um die Tochter eines wohlhabenden, katalanischen Großindustriellen, namens Norma Valentí. Marés erwischt seine Frau in flagranti mit einem andalusischen Immigranten, einem „charnego/murciano“, der sich als Schuhputzer in Barcelona niedergelassen hat. Für den gehörnten Ehemann gibt es daher nur eine Lösung, um seine Frau zurück zu gewinnen: Er muss sich selbst in einen „charnego“ verwandeln. Diecharnegoshaben einen besonderen Platz in der katalanischen Geschichte und tragen ihren Teil zu eben dieser Identität bei. Auch wenn die schleichende Verwandlung des Autors anfangs wie ein Scherz auszusehen vermag, so wird doch schnell deutlich, dass die neue Identität ihn zusehens vereinnahmt und schließlich sein altes Ich vollständig verdrängt. Schon bald findet er sich als Straßenmusikant mit seinem Akkordeon auf den Straßen Barcelonas wieder. Die Auswahl seiner gespielten Stücke ist auch hier nicht willkürlich und soll im Folgenden genauer erläutert werden. Das Appartement des Paares in „Walden 7“, erbaut von dem katalanischen Architekten Bofill, stellt ein weiteres Sinnbild für den mentalen Verfall des Protagonisten dar. Der Roman ist in zwei Teile aufgeteilt, wobei jeder Teil zwanzig Kapitel umfasst. Der erste Teil enthält zwei Bücher („El día que Norma me abandonó“/“Fu-Ching, el gran ilusionista“), die vom Protagonisten selbst verfasst sind und seine Erinnerungen vor dem Vergessen bewahren sollen. Der zweite Teil des Romans enthält ebenfalls ein solches Buch („El pez de oro“). Diese insgesamt drei Bücher sind an seine Ex-Frau Norma gerichtet und gelangen durch Faneca in ihren Besitz. Schließlich endet Marés, gescheitert an dem Versuch seine Frau wiederzuerlangen, auf den Straßen Barcelonas als verwirrterTorero enmascaradoohne eigene Identität.

3.1) Situierung des Romans im Gesamtwerk

Juan Marsé nutzt das Motiv der Schizophrenie im metaphorischen Sinne „to represent and critique post-Franco Barcelona, a city in search of its own identity.”[35]Mit viel Ironie und Sarkasmus stellt Juan Marsé diesen allgegenwärtigen Konflikt der katalanischen Gesellschaft aus verschiedenen Blickwinkeln dar. Seine kritische Grundhaltung gegenüber der „innerspanischen Sprachproblematik“ kommt hierbei zum Ausdruck.[36]Desweiteren kann das Werk als Produkt einer heterogenen katalanischen Kultur bezeichnet werden, oder „quizá sería mejor describirlo como un producto de culturas catalanas.“[37]Neuschäfer bezeichnet den Roman außerdem als Satire auf den Sprachchauvinismus in Katalonien.[38]

Der Autor selbst hat die Franco-Ära in Barcelona als Kind miterlebt und schafft daher ein authentisches Bild von den damaligen Zuständen. Dass er selbst, trotz katalanischer Herkunft, auf Spanisch publiziert ist nicht selbstverständlich und er wurde dafür zuweilen kritisiert. Marsé äußert sich dazu wie folgt:

„Aunque vivo en Cataluña, vivo la cultura catalana, pero no se me admite muy bien. Pero tampoco del otro lado, porque soy un escritor catalán que escribe en castellano. Escribo en castellano, pero soy catalán… Bueno, pues bien, esa posición que estoy entre medias es la más cómoda para mí: puedo disparar a un lado y a otro. Puedo criticar a unos y a otros, puedo ponerlo todo en solfa, que es una de las funciones del escritor.”[39]

Dieser Umstand dürfte mit seiner Herkunft und sprachlichen Prägung in Verbindung stehen. Während er in der Schule ausschließlich in Kastilisch unterrichtet wurde, so sprach er Zuhause und mit seinen Freunden vorzugsweise Katalanisch. Seine Romane reflektieren daher denlinguistic mixmit dem er selber aufgewachsen ist.[40]

Die Idee für den Roman kam dem Autor im Gespräch mit seiner Nichte Rosa Sender, die als Psychologin in Barcelona arbeitet, und Ana María Moix. Sender erzählte ihm von einem ihrer Patienten, der aus einer gut situierten katalanischen Familie stammte und eines Tages anfing, sich wie eincharnegozu kleiden und zu verhalten. Er sprach dabei nicht ausschließlich Kastilisch, sondernandaluz. Dies gelang ihm, zur Verwunderung seiner Familie, mit einer bemerkenswerten Perfektion.[41]Nach einer Weile vermutete die wiederum, dass ihr Sohn verrückt geworden sei. „Y se [le] quedó la imagen de este hombre anhelando ser otro, cambiar de lengua y de aspecto y tal vez de identidad.”[42]Die Psychologin diagnostizierte folgendes: “[...] como medida de rechazo al catalanismo de los padres - esta persona había creado un personaje, se lo había creído y estaba viviendo dentro de ese personaje, que era todo lo contrario de lo que sus padres amaban.”[43]

Marsé selbst bezeichnet diesen Fall als erste „Idee“ für seinen Roman. Er übertrug die Schizophrenie des Individuums „a la esquizofrenia cultural y lingüística de Barcelona.“[44]Der Protagonist ist zu Beginn der Handlung – 1975 – bereits 37 Jahre alt. Sein Alter entspricht also der Länge des Franco-Regimes und bekräftigt „this allegorical coupling in which Marés is read as Catalonia.“[45]

3.2) Identitätsverlust des Protagonisten

Bei der Analyse des Protagonisten spielt bereits die Widmung des Romans und das Zitat zu Beginn des ersten Kapitels eine wichtige Rolle. Die Widmung („[…] para mis otros padres y mi otra hermana, al otro lado del espejo.”[46]) verweist anhand des Adjektivs „otro“ und dem Bild des „espejo“ auf das Motiv der „dualidad“, welches während der gesamten Erzählung präsent ist.[47]

Das im Epigraph angeführte Zitat von Antonio Machado („Lo esencial carnavalesco no es ponerse careta, sino quitarse la cara.“), greift diese Idee ein weiteres Mal auf und verbindet es mit dem Karnevalsmotiv, welches ebenfalls im gesamten Roman präsent ist.[48]

Außerdem manifestiert das Zitat zu Beginn des Romans die Annahme, dass es sich bei dem Protagonisten um einen waren Identitätverlust und nicht bloß um einen Identitätswechsel handelt. Antonio Machado bezeichnet dies als die Kunst, beziehungsweise das Essentielle am Karneval. Es ist nicht ausreichend bloß eine andere Rolle anzunehmen, sondern das Ziel ist es, sie zu leben und die eigene Identität für einen gewissen Zeitraum abzulegen. Genauso ergeht es dem Protagonisten Marés im Roman. Während sein zweites Ich, dercharnegoFaneca, immer mehr in den Vordergrund tritt, verblasst die Ausgangsfigur Marés im Verlauf der Erzählung.

Bevor die Entfaltung zu Faneca abgeschlossen ist, repräsentiert Marés weitere Identitäten (el charnego teléfonico/el pordiosero/la araña que fuma/el hombre enmascarado/el limpiabotas). Das dadurch entstehende Durcheinander verstärkt die Idee der Unkonformität der Figur[49]. Es wird nicht weiter von Juan Marés gesprochen, „sino de acuerdo a quien esté representando.“[50]

[...]


[1]Neuschäfer, Hans-Jörg (Hrsg.):Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler 2011, S.433.

[2]Vgl.: Neuschäfer 2011, S. 432.

[3]Vgl.: Ebd., S.433.

[4]Vgl.: Bernecker, Walther L.: „Zwischen „Nation“ und „Nationalität“: Baskenland und Katalonien“, in:Aus Politik und Zeitgeschichte. Spanien36-37 (2010), bpb, S.16.

[5]Vgl.: Hildenbrand, Andreas: „Regionalismus und Autonomiestatut“, in: Bernecker Walther L./Dirscherl, Klaus (Hrsg.):Spanien heute. Politik Wirtschaft Kultur, Frankfurt a. M.: Vervuert Verlag 1998, S.103.

[6]Vgl.: Bernecker, Walther L.:Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck 2012, S.243.

[7]Vgl.: Hildenbrand 1998, S.101.

[8]Vgl.: Ebd., S.104.

[9]Vgl.: Ebd., S.104.

[10]Vgl.: Hildenbrand 1998, S.106.

[11]Vgl.: Hildenbrand 1998, S.109.

[12]Vgl.: Ebd., S.111.

[13]Vgl.: Süselbeck, Kirsten: „Sprache, Nation und Identität im sprachpolitischen Diskurs Kataloniens“, in:Zeitschrift für romanische Philologie122 (2006), S.655.

[14]Vgl.: Gergen, Thomas:Sprachgesetzgebung in Katalonien. Die Debatte um die „Llei de Política Lingüística“ vom 7. Januar 1998, Tübingen: Niemeyer 2000 (=Beihefte zur Schrift für romanische Philologie, 32),S.35.

[15]Vgl.: Dietzel, Uwe:Das Katalanische – eine Regionalsprache im Zeitalter der Globalisierung, Hamburg: Kovač 2009, S.94.

[16]Vgl: Süselbeck 2006, S.655f.

[17]Pujol, Jordi: “Qué representa la llengua a Catalunya? Palau de Congressos de Montjuïc, Barcelona, 22.03.1995”, in: Jordi, Pujol (Hrsg.):Paraules del President de la Generalitat. Gener – desembre 1995, Barcelona: Generalitat de Catalunya 1996, S.174.

[18]Vgl.: Süselbeck 2006, S.666.

[19]Vgl.: Gergen 2000, S.35.

[20]Ebd., S.35.

[21]Woolard, Kathryn A.:Double Talk. Bilingualism and the Politics of Ethnicity in Catalonia, California: Stanford University Press 1989, S.40.

[22]Vallverdú, Francecs:El conflicto lingüístico en Cataluña: historia y presente, Barcelona: Ed. Península 1981, S. 87.

[23]Moll, Aina: Por la normalización linguistic de Cataluña. Serie de artículos de Aina Moll, Barcelona: Dep. de Cultura i Mitjans de Comunicació de la Generalitat Catalunya 1981, S.6.

[24]Vgl.: Bernecker 2010, S.15.

[25]Vgl.: Münch, Christian H.:Sprachpolitik und gesellschaftliche Alphabetisierung, Frankfurt am Main: Lang 2006, S.23.

[26]Constitución Española, www.noticias.juridicas.com (27.7.2014).

[27]Vallverdú 1981, S.95.

[28]Vgl.: Gergen 2000, S.22.

[29]Vgl.: Ebd., S.22.

[30]Vgl.: Ebd., S.28.

[31]Vgl.: Ebd., S.29.

[32]Ebd., S.31.

[33]Vgl.: Gergen 2000, S.30f.

[34]Vgl.: Ebd., S.31.

[35]Grothe, M.: “Cultural Schizophrenia in El Amante Bilingüe”, in:Hispanic Journal19,1 (1998), S.157.

[36]Vgl. Herschung, Gerd:Realität und Fiktion im modernen spanischen Roman: Terenci Moix, Maruja Torres und Juan Marsé, Aachen 2001, S.161.

[37]King, Stewart: “Desempeñar papeles y la desmitificación cultural en El amante bilingüe de Juan Marsé”, in:Espéculo.Revista de estudios literarios12 (1999), S.7.

[38]Vgl. Neuschäfer 2011, S.433.

[39]Pérez Manrique, Ana: “Entrevista a Juan Marsé: Entorno a El amante bilingüe, in:Confluencia: revista hispánica de cultura y literature25,1 (2009), S.130.

[40]Vgl.: Clark, R: “Juan Marsé, in:Twentieth-century Spanish fiction writers(2006), S.162.

[41]Vgl.: Sotelo Vázquez, Adolfo: “Historia, discurso y polifonía en El amante bilingüe de Juan Marsé”, in:Cuadernos Hispanoamericanos488 (1991), S.142.

[42]Sotelo Vázquez 1991, S.142.

[43]Pérez Manrique 2009, S.125.

[44]Ebd., S.125.

[45]Vgl.: Grothe 1998, S.158.

[46]Marsé, Juan:El amante bilingüe, Stuttgart: Klett 2010, S.9.

[47]Vgl.: Pasetti, María Pía: “Fragmentación y dualidad en El Amante bilingüe de Juan Marsé”, in:Cuadernos para investigación de la literatura hispánica36 (2011), S.372.

[48]Vgl.: Ebd., S.373.

[49]Vgl.: Pasetti 2011, S.375.

[50]Ebd., S.375, Z.4f.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Die katalanische Identitätsproblematik im Roman "El amante bilingüe" von Juan Marsé
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Institut für Romanistik)
Note
2,6
Autor
Jahr
2014
Seiten
53
Katalognummer
V442831
ISBN (eBook)
9783668806658
ISBN (Buch)
9783668806665
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Identitätsproblematik, katalanisch, spanisch, juan marse, indepedencia, region autonoma, carnival, conflicto de lengua, franco
Arbeit zitieren
Master of Arts Nadine Vetter (Autor:in), 2014, Die katalanische Identitätsproblematik im Roman "El amante bilingüe" von Juan Marsé, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/442831

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