Spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES) bei mehrsprachigen Kindern

Diagnostik und Intervention


Epreuve d'examen, 2018

94 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1 Einleitung

2 Mehrsprachigkeit in Deutschland
2.1 Mehrsprachigkeit – Begriffsbestimmung
2.2 Zum aktuellen Migrationsgeschehen in Deutschland
2.3 Bedeutung sprachlicher Intervention bei mehrsprachigen Kindern

3 Zweitspracherwerb
3.1 Grundlagen
3.2 Prozesse im Zweitspracherwerb
3.3 Formen von Mehrsprachigkeit
3.3.1 Simultaner Erwerb
3.3.2 Sukzessiver Erwerb

4 Spezifische Sprachentwicklungsstörungen
4.1 Definition und Abgrenzung zu anderen Störungsbildern
4.2 Symptome
4.3 Prävalenz und Ursachen
4.4 Störungsbild bei mehrsprachigen Kindern
4.4.1 Allgemeine Merkmale
4.4.2 Symptome und deren klinische Relevanz

5 Diagnostik
5.1 Problemstellung
5.2 Empfehlungen zur Best Practice der Diagnostik im mehrsprachigen Kontext
5.3 Überblick über diagnostische Ziele und das allgemeine Vorgehen
5.4 Anamnese
5.5 Testverfahren zur Überprüfung der Erstsprache
5.6 Testverfahren zur Überprüfung der Zweitsprache
5.7 Informelle Verfahren zur Überprüfung der Erst-und Zweitsprache
5.7.1 Beobachtung der Sprachfähigkeiten
5.7.2 Kriterium-orientierte Verfahren
5.8 Verfahren zur Sprachverarbeitung
5.8.1 Überprüfung des auditiven Arbeitsgedächtnisses
5.8.2 Dynamische Methoden
5.9 Zwischenfazit

6 Intervention
6.1 Einführung
6.2 Müssen beide Sprachen in der Intervention berücksichtigt werden?
6.3 Unterscheidet sich die Intervention bei mehrsprachigen Kindern im Gegensatz zu monolingualen Kindern?
6.4 Elternberatung und -training
6.5 Bilingual orientierte Interventionsansätze
6.5.1 Induktiver Ansatz
6.5.2 Bilingualer Ansatz
6.5.3 Cross-linguistischer Ansatz
6.5.4 Die Kontrastoptimierung
6.6 Monolingual orientierte Interventionsansätze
6.6.1 Die Kontextoptimierung
6.6.2 Der Wortschatzsammler
6.7 Schlussfolgerungen für den sprachheilpädagogischen Unterricht
6.8 Weitere Grundprinzipien unterrichtsintegrierter Intervention

7 Fazit und Ausblick

8 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Ein Mädchen namens Sümeyye wächst in einer Familie auf, in welcher ausschließlich Türkisch als Familiensprache gesprochen wird. Als Sümeyye 3 Jahre alt ist, besucht sie den deutschen Kindergarten, wo sie das erste Mal intensiveren Kontakt zur Mehrheitssprache Deutsch erfährt. Ein Jahr später besteht sie einen standardmäßig durchgeführten Sprachtest nicht, sodass bei ihr ein Sprachförderbedarf im Deutschen festgestellt wird. Auch nach zweijähriger Sprachförderung weist sie noch sprachliche Schwierigkeiten auf und die Einschulung rückt beunruhigend näher. Es besteht der Verdacht, dass bei Sümeyye eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) vorliegt. Um einen Anspruch auf therapeutische Maßnahmen oder einen sonderpädagogischen Förderbedarf zu rechtfertigen, muss dies allerdings durch eine umfassende Diagnostik geprüft werden (Motsch 2011, 5).

Fälle wie der von Sümeyye sind in Deutschland keine Seltenheit. Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen mit mehr als einer Sprache auf (Chilla et al. 2013, 7). Derzeit beträgt der bundesweite Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ca. 30-35%, wobei die Zahlen in Westdeutschland und Ballungsgebieten teilweise deutlich höher ausfallen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 161). Dementsprechend steigt auch der Anteil an mehrsprachigen Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen, etwa einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung. So geht Scharff Rethfeldt (2017b, 18) davon aus, dass bundesweit ca. 173.600 aller unter 10-jährigen Kinder mit Migrationshintergrund von einer SSES betroffen sind.

Dabei stellen mehrsprachige Kinder und insbesondere solche mit Beeinträchtigungen in der Bildungssprache Deutsch eine vulnerable Gruppe dar, welche hinsichtlich ihrer Chancen im deutschen Bildungssystem und ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benachteiligt sind (Haberzettl 2014, 3; Hasselhorn & Sallat 2014, 28). Mehrsprachige Kinder sind im Vergleich zu einsprachig aufwachsenden SchülerInnen in niedrigeren Bildungsgängen signifikant überrepräsentiert, werden häufiger auf Förderschulen verwiesen und verlassen die Schule häufiger ohne Abschluss (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 7; Haberzettl 2014, 3).

Hier kommt SprachheilpädagogInnen im schulischen Setting die bedeutende Aufgabe zu, Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern rechtzeitig zu erkennen und von Sprachauffälligkeiten bzw. anderen Störungsbildern zu differenzieren. Nur durch eine adäquate Differenzialdiagnostik kann eine SSES festgestellt und wichtige sprachtherapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Auf diese Weise können schulische Benachteiligungen reduziert sowie die berufliche, gesundheitliche und soziale Chancengleichheit gewährleistet werden (Scharff Rethfeldt 2017a, 186). Allerdings gestaltet sich die Feststellung einer SSES im mehrsprachigen Kontext im Gegensatz zu monolingualen Kindern deutlich komplizierter, da u.a. für mehrsprachige Kinder keine normierten Testverfahren vorhanden sind und typische Prozesse des Zweitspracherwerbs mit den Symptomen einer SSES verwechselt werden können (Scharff Rethfeldt 2017a, 176-180).

Ausgehend von dieser Problemlage soll sich die vorliegende Arbeit zum Thema „Spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES) bei mehrsprachigen Kindern: Diagnostik und Intervention“ mit zwei zentralen Fragen beschäftigen: a) Wie kann eine SSES bei mehrsprachigen Kindern diagnostiziert und von einer Sprachauffälligkeit differenziert werden? und b) Wie gestaltet sich die Intervention bei mehrsprachigen Kindern mit SSES ?. Zusätzlich soll diskutiert werden, welche der vorgestellten Konzepte zur Diagnostik und Intervention für das schulische Setting bzw. für den Einsatz im sprachheilpädagogischen Unterricht geeignet sind.

Dazu soll das 2. Kapitel anfangs den Begriff „Mehrsprachigkeit“ genauer definieren und anschließend auf das aktuelle Migrationsgeschehen in Deutschland sowie die Bedeutung sprachlicher Interventionsmaßnahmen für die schulische Teilhabe mehrsprachiger Kinder eingehen.

Das 3. Kapitel widmet sich dem Zweitspracherwerb. Zu Beginn werden hierbei die Grundlagen des Zweitspracherwerbs und die sprachlichen Prozesse, welche bei Zweitsprachlernern typischerweise auftreten, genauer beleuchtet. Anschließend werden der simultane und sukzessive Zweitspracherwerb betrachtet, indem für beide Formen der Mehrsprachigkeit die aktuellen Forschungsergebnisse zu den Erwerbsverläufen auf den Ebenen der Aussprache, des Wortschatzes und der Grammatik dargestellt werden.

Das 4. Kapitel beschäftigt sich mit dem Störungsbild der spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES), welches zunächst definiert und von anderen Störungsbildern abgegrenzt wird. Im weiteren Verlauf erfolgt eine kurze Beschreibung der Symptome, Prävalenz und Ursachen einer SSES. Anschließend werden die allgemeinen Merkmale einer SSES bei mehrsprachigen Kindern erläutert und herausgestellt, welche Symptome sich im mehrsprachigen Kontext als klinische Marker einer SSES eignen bzw. welche Symptome keine sicheren klinischen Marker darstellen.

Im 5. Kapitel soll die Frage behandelt werden, wie eine SSES bei mehrsprachigen Kindern festgestellt und von einer Sprachauffälligkeit (aufgrund ungünstiger Sprachentwicklungsbedingungen) differenziert werden kann. Zu Beginn werden die Herausforderungen bei der Diagnostik mehrsprachiger Kinder erläutert und internationale Empfehlungen zur Best Practice der Diagnostik im mehrsprachigen Kontext dargelegt. Im Anschluss daran werden die derzeit verfügbaren diagnostischen Konzepte, um eine SSES bei mehrsprachigen Kindern zu ermitteln, vorgestellt und hinsichtlich ihrer Eignung für den Einsatz im schulischen Setting reflektiert.

Das 6. Kapitel befasst sich mit den Interventionsmöglichkeiten bei mehrsprachigen Kindern mit SSES. Zunächst erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Fragen, ob in der Intervention beide Sprachen des Kindes berücksichtigt werden sollten und inwiefern sich die Intervention mehrsprachiger Kinder von einer Intervention im monolingualen Kontext unterscheidet. Anschließend wird die Rolle die Eltern bei der Intervention näher beleuchtet. Im Hauptteil des Kapitels erfolgt eine Darstellung von bilingual orientierten Interventionsansätzen sowie von monolingualen Konzeptionen, welche auch für mehrsprachige Kinder positiv evaluiert wurden. Diese werden hinsichtlich ihrer Einsetzbarkeit im sprachheilpädagogischen Unterricht diskutiert und ausgewertet. Zuletzt werden Schlussfolgerungen für den sprachheilpädagogischen Unterricht abgeleitet und störungsübergreifende Grundprinzipien einer unterrichtsintegrierten Intervention erläutert.

2 Mehrsprachigkeit in Deutschland

2.1 Mehrsprachigkeit – Begriffsbestimmung

Bislang liegt keine Übereinstimmung vor, wie Mehrsprachigkeit zu definieren ist (Kannengieser 2015, 414). Scharff Rethfeldt (2017a, 171) leitet aus den international kontrovers diskutierten Begriffsbestimmungen folgende Definition ab: „Als mehrsprachig (auch: bilingual) gilt, wer mehr als eine Sprache versteht und verwendet“. Ähnlich konstatiert der Duden (o.J.) den Begriff als die „Fähigkeit, mehrere Sprachen zu sprechen“. Chilla (2015, 95) hingegen fokussiert anstelle der Produktion den sprachlichen Input: „bilinguale Kinder und Jugendliche sind Individuen, die während der dynamischsten Phase ihrer kommunikativen Entwicklung regelmäßigen Input in (mindestens) zwei Sprachen erhalten“.

Zusätzlich lässt sich die Mehrsprachigkeit anhand verschiedener Parameter weiter ausdifferenzieren: Hinsichtlich des Alters bei Erwerbsbeginn wird zwischen simultaner Mehrsprachigkeit, bei welcher von Geburt an zwei Sprachen erlernt werden und sukzessiver (konsekutiver) Mehrsprachigkeit, bei welcher die Zweitsprache (L2) später als die Erstsprache (L1) erworben wird, unterschieden. Das Niveau der Sprachbeherrschung kann dabei sehr divergent ausfallen: es reicht von sprachlich-kommunikativen Basisfertigkeiten in der Alltagskommunikation bis zu akademischen Sprachfähigkeiten in institutionellen Kontexten (Kannengieser 2015, 414). Häufig wird eine Sprache besser beherrscht und bevorzugt, was sich im Laufe des Lebens wandeln kann. Diejenige Sprache, in welcher das Kind mehr Input erhalten hat, ist meist auch die dominante (Chilla 2015, 95; Tracy 2008, 51). Überdies setzt Mehrsprachigkeit das ununterbrochene Weiterführen der L1 voraus (Kannengieser 2015, 415). Nicht zu verwechseln ist die dauerhafte Zwei- oder Mehrsprachigkeit mit der „Fremdsprachigkeit“, welche zeitlich begrenzt vorliegt (z.B. Urlaub, schulischer Fremdsprachunterricht) (Kannengieser 2015, 414).

Zusammengefasst zählt Kannengieser (2012, 410) zu mehrsprachigen Kindern folgende Gruppen: "Kinder aus zweisprachigen Familien ohne Migrationshintergrund", "Kinder, deren Familien eingewandert sind, die im Aufenthaltsland geboren sind.", "Kinder, die selbst die Migration erleben bzw. erlebt haben", "Kinder von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten", "Kinder von Flüchtlingen und Asylsuchenden", "Alleinstehende minderjährige Flüchtlinge" sowie "Kinder aus Familien, die aus anderen als beruflichen oder ökonomischen Gründen eingewandert sind“.

Fest steht, dass Mehrsprachigkeit kein statisches Konstrukt ist, sondern als dynamischer und komplexer Prozess anzusehen ist, „der neben einem Kontinuum von Sprachfähigkeiten in den einzelnen Sprachen vorrangig dem Einfluss des sozialen Umfeldes, der Interaktionspartner und dem individuellen Lebensentwurf, sowie der Zeit unterliegt“ (Scharff Rethfeldt 2017a, 171). Die mehrsprachigen Lebenswelten können sehr heterogen ausfallen und es ist nicht davon auszugehen, dass im Elternhaus des Kindes ausschließlich die Herkunftssprache gesprochen wird. So können in einer Familie mehrere Familiensprachen, wie z.B. Türkisch, Kurdisch und zusätzlich Deutsch, gesprochen werden (Jeuk 2018, 18). Chilla (2015, 95) macht insbesondere im diagnostischen und sprachtherapeutischen Kontext darauf aufmerksam, mehrsprachige Kinder nicht als homogene Gruppe anzusehen, da sie hinsichtlich der beteiligten Sprachen, Herkunftsländer, Spracherfahrungen usw. stark divergieren und damit verschiedenste Bedürfnisse der Intervention bestehen.

Überdies ist nicht anzunehmen, dass Mehrsprachigkeit einen Ausnahmezustand darstellt (Tracy 2008, 49). Vielmehr gehört sie in vielen Gesellschaften zum kommunikativen Alltag und betrifft weltweit die Mehrheit aller Kinder (Tracy 2008, 59). Auch, wenn diese Denknorm noch verbreitet ist, entspricht eine territoriale, von anderen Sprachen vollkommen unberührte Monolingualität nicht der Realität (Kannengieser 2015, 414; Tracy 2008, 49). Trotz dessen müssen sich mehrsprachige Personen hinsichtlich ihrer Sprachkompetenzen immer wieder erklären und rechtfertigen (Tracy 2008, 59). Häufig werden bei zweisprachigen Kindern Deutschkenntnisse vorausgesetzt, die monolingualen Kindern entsprechen. Wie lange und in welchem Umfang diese Kinder bereits Kontakt mit der deutschen Sprache hatten, wird dabei allzu oft außer Acht gelassen (Scharff Rethfeldt 2017a, 173). Auch die Bildungssysteme orientieren sich häufig an einer monolingualen Norm (Kannengieser 2015, 414). Dabei birgt Mehrsprachigkeit keinerlei kognitive Nachteile – höchstwahrscheinlich ist gar das Gegenteil der Fall (Haberzettl 2014, 5).

2.2 Zum aktuellen Migrationsgeschehen in Deutschland

Auch in Deutschland ist Sprachenvielfalt mit ca. 150 verschiedenen Sprachen allgegenwärtig (Kannengieser 2015, 414). Als Hauptursache für Mehrsprachigkeit zählt in Deutschland die Zuwanderung. So gibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für das Jahr 2015 17,1 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund an (BAMF 2015a, 159). Damit besitzt ca. jeder fünfte Deutsche und ein Drittel der unter zehnjährigen Kinder einen Migrationshintergrund (BAMF 2015b, 11).

Ein zunehmender Faktor für Migration stellt die Flucht dar. Laut dem Bericht der UNO-Flüchtlingshilfe (UNHCR) sind weltweit 65 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR 2016, 15), wobei Deutschland im internationalen Vergleich auf Platz acht der Aufnahmeländer liegt. In den Jahren 2015 und 2016 verzeichnete Deutschland einer der höchsten Wachstumsraten an Asylsuchenden (UNHCR 2016, 41) – allein im Jahr 2015 wurden ca. 890.000 Asylanträge gestellt (BAMF 2015b, 2). Als Hauptherkunftsland der MigrantInnen gilt Syrien „mit 326.872 Zuzügen (15,3 % aller Zuzüge)“ (BAMF 2015a, 32), gefolgt von Rumänien (10 %) und Polen (9,2 %). Als weitere Herkunftsländer (unter 5 %) sind Afghanistan, Bulgaren, Italien, Irak und Albanien zu nennen (BAMF 2015a, 32).

Im Zuge dieser Entwicklungen kommen neue Herausforderungen auf SprachheilpädagogInnen und andere sprachliche Fachkräfte zu. Mit der steigenden Zahl mehrsprachiger Kinder steigt auch der Bedarf an sprachtherapeutischen Maßnahmen und entsprechend qualifizierten Fachkräften (Scharff Rethfeldt 2017a, 170-171). Im Zuge tragischer Fluchterlebnisse sind die Kinder zudem nicht selten von seelischen Wunden und Traumata betroffen (Chilla et al. 2016, 306). „Kinder mit Fluchterfahrung stellen eine vulnerable Gruppe dar, insbesondere, wenn für eine gesunde Kindesentwicklung relevante protektive Faktoren wie ein schützendes und unterstützendes familiäres Umfeld fehlen“ (Scharff Rethfeldt 2017a, 174). Folgen der problematischen Lebenslagen sind u.a. Entwicklungsstörungen, Bindungsstörungen und Kommunikationsstörungen (z.B. Mutismus). Häufig hatten die Kinder, bevor sie nach Deutschland kamen, keinen Kontakt zur Zielsprache Deutsch und stehen der Herausforderung eines erfolgreichen Deutscherwerbs gegenüber (Scharff Rethfeldt 2017a, 174). Um die Kinder hierbei bestmöglich zu unterstützen und im Falle einer SSES oder anderen Sprachstörung mit angemessenen Interventionsmaßnahmen zu versorgen, sind „pädagogische Fachkräfte [..] aufgefordert, alle Kinder, und ganz besonders diejenigen mit Extremerfahrungen, wie sie auf der Flucht vor Krieg und Gewalt gemacht wurden, sprachlich und kommunikativ zu fördern“ (Chilla et al. 2016, 311).

2.3 Bedeutung sprachlicher Intervention bei mehrsprachigen Kindern

Es ist unumstritten, dass in Deutschland gute sprachliche Kompetenzen für alle Kinder die Grundlage von Bildungs- und Berufserfolg und prädestinierend für gesellschaftliche, soziale und gesundheitliche Teilhabe sind (Ronninger et al. 2016, 135-136). Das bedeutet für Kinder, welche aufgrund eines mehrsprachigen Erwerbs und/oder Sprachstörungen die Bildungssprache Deutsch nicht ausreichend beherrschen, ein höheres Risiko für Bildungsmisserfolg. Folglich ist unabhängig von den kognitiven Leistungen eine gefährdete gesellschaftliche Teilhabe wahrscheinlich (Hasselhorn & Sallat, 2014, 28).

Insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund sind in Deutschland von Bildungsbenachteiligung betroffen: in niedrigeren Bildungszweigen sind Migrationskinder signifikant überrepräsentiert und werden deutlich zu häufig auf die Förderschule verwiesen (Haberzettl 2014, 3). Laut Bildungsbericht (2016) verlassen SchülerInnen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu monolingualen SchülerInnen die Hauptschule doppelt so häufig ohne Abschluss erreichen dreimal seltener die Hochschulreife (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 7). Kinder mit nicht-deutscher Erstsprache werden häufiger als sprachförderbedürftig eingestuft und verspätet eingeschult (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 5). Zudem zeigen mehrsprachige Kinder im Bildungssystem häufig erhebliche Sprachrückstände im Deutschen, was eher durch Hintergrundvariablen als durch kognitive Defizite oder die Mehrsprachigkeit verursacht wird (Engel de Abreu 2016, 52; Heimler 2018, 7-8).

Diese Chancenungleichheit ist in bestimmten Mechanismen des deutschen Schulsystems begründet, welches Gogolin et al. (2005, 3) zufolge primär monolingual ausgerichtet ist. So bildet die deutsche Sprache in Unterrichts- und Lernprozessen „gleichzeitig Medium, Unterrichtsgegenstand und Wissensträger“ (Sallat et al. 2014, 22). Die Ansicht, dass Monolingualität den Normalfall und Mehrsprachigkeit eine Bedrohung darstellt, wird Gogolin et al. (2005, 1-2) zufolge immer noch im Schulsystem vertreten. Die Ressourcen von Mehrsprachigkeit und die verschiedenen sprachlich-kulturellen Hintergründe werden hingegen nicht ausreichend berücksichtigt (Haberzettl 2014, 4).

Ein benachteiligender Mechanismus des deutschen Schulsystems ist bspw. die Vergabe von Schullaufbahnempfehlungen beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule, welche den schulischen Werdegang prädestinieren. Die Empfehlungen werden wenig an den tatsächlichen Leistungen, sondern stark am potentiellen Unterstützungspotential des Elternhauses und den sprachlichen Fähigkeiten der Kinder gemessen (Solga & Dubrowski 2012, 57). Weiterhin kompensiert das deutsche Schulsystem soziale Ungleichheiten nicht ausreichend, wodurch sozial-schwache Kinder schlechtere schulische Voraussetzungen besitzen. So stehen ggf. weniger materielle Ressourcen zur schulischen Unterstützung, ein geringes kulturelles Kapital und ein anregungsärmeres Umfeld zur Verfügung (Solga & Dubrowski 2012, 64-66). Dies betrifft besonders mehrsprachige Kinder, welche in sozial schwachen Gruppen überproportional häufig vertreten sind (Jeuk 2018, 17).

Hieraus wird deutlich, dass alle ein- und mehrsprachigen Kinder mit sprachlichen Beeinträchtigungen von Bildungsbenachteiligung bedroht sind. Kommt die Merkmalskombination Migrationshintergrund und soziale Deprivation hinzu, ergibt sich eine umfassende Gefährdungssituation. Umso bedeutender ist die Förderung der sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten, um Benachteiligungen abzubauen sowie die berufliche, gesundheitliche und soziale Chancengleichheit zu gewährleisten (Sallat et al. 2014, 14; Scharff Rethfeldt 2017a, 186). Besonders wichtig ist es, mögliche Sprachentwicklungsstörungen rechtzeitig in einer Differentialdiagnostik auszuschließen bzw. im Falle der Diagnose möglichst schnell adäquate Interventionsmaßnamen einzuleiten (Scharff Rethfeldt 2017a, 186).

3 Zweitspracherwerb

3.1 Grundlagen

„Es besteht inzwischen allgemeiner Konsens darüber, dass alle Kinder, darunter auch Kinder mit spezifischen Spracherwerbsschwierigkeiten, die Fähigkeit besitzen, mehr als eine Sprache zu lernen“ (Engel de Abreu 2016, 45). Dabei beginnt der Erwerb mehrerer Sprachen weitaus früher als mit den ersten Worten: Bereits Säuglinge verarbeiten aus dem Input die zentralen sprachcodespezifischen Merkmale und Strukturen der Umgebungssprache und sind in der Lage, den Sprachcode der Mutter anhand der Sprachmelodie zu erkennen sowie die einzelnen Sprachen zu unterschieden (Scharff Rethfeldt 2013, 86). Ab dem Alter von 8 Monaten beginnen die Kinder, sich auf die Artikulation der jeweiligen Erstsprachen zu spezialisieren, sodass man mitunter bereits unterscheiden kann, in welcher „Sprache“ das bilinguale Kind die Lautfolgen produziert (Jeuk 2013, 56). Auf diese Weise werden bereits nach den ersten drei bis vier Jahren die wesentlichen Regeln der Grammatik in allen Sprachen der Welt beherrscht (Motsch 2013, 259).

Haberzettl (2014, 5) bezeichnet den mehrsprachgien Erwerb als „Erfolgsmodell“ und fordert, dass diese Erkenntnis endlich in Bildungs- und Erziehungsinstitutionen Einzug halten muss. So erfolgt die Sprachentwicklung mehrsprachiger Kinder im Durchschnitt nicht langsamer als bei einsprachigen Kindern (Engel de Abreu 2016, 48; Haberzettl 2014, 5-6). Es liegt bei mehrsprachigen Kinder weder ein verspäteter Sprechbeginn, noch eine Überforderung oder ein erhöhtes Risiko für eine Sprachentwicklungsstörung vor (Engel de Abreu 2016, 48). „Das Sprachsystem ist hoch flexibel und unser Gehirn kann unter den richtigen Bedingungen ohne Probleme eine Mehrzahl an Sprachen aufnehmen und verarbeiten“ (Engel de Abreu 2016, 51).

Überdies kann Mehrsprachigkeit die kognitive Entwicklung positiv beeinflussen. So ermittelten Adesope et al. (2010, 207) bei einer Datenanalyse von 63 Studien, dass Mehrsprachigkeit mit einer verbesserten Aufmerksamkeitskontrolle, Arbeitsgedächtnisleistungen und metasprachlichen Bewusstheit einhergeht. Ursächlich hierfür könnte die vermehrte Nutzung der exekutiven Funktionen bei mehrsprachigen Kindern sein (z.B. bei der situativen „Deaktivierung“ nicht verwendeter Sprachen) (Engel de Abreu 2016, 52). Derart positive Effekte konnten auch bei mehrsprachigen Kindern mit SSES festgestellt werden (Engel de Abreu 2016, 50).

Ob sich die Sprachkompetenzen unauffällig entwickeln und welche der Sprachen besser beherrscht bzw. mehr verwendet wird, hängt von vielerlei Einflussfaktoren ab. Jeuk (2008, 37-38) nennt als Einflussfaktoren 1. die Motivation, die Sprache zu lernen, 2. die Fähigkeit bzw. Sprachvermögen, wozu „die Intelligenz, das [..] Sprachwissen, Lernerfahrungen, [..] Lernstrategien, Reflexivität und Impulsivität sowie das Alter“ zählen (Jeuk 2008, 38) und 3. die Gelegenheit bzw. der qualitative und quantitative Umfang des Inputs (Jeuk 2008, 38). Holler-Zittlau (2007, 39) nennt ergänzend die „Bedingungen der Migration“ bzw. den Aufenthaltsstatus, die „Persönliche soziale Integration“, „Wohnsituation, Familieneinkommen“, das Lebensumfeld, „soziale Schichtzugehörigkeit“ und „Bildungshintergrund der Eltern“. Vor allem der Einfluss des Inputs auf die sprachliche Entwicklung ist als besonders hoch anzusehen, was u.a. in einer Studie von Leseman et. al. (2007, 334-335) belegt werden konnte. Scharff Rethfeldt (2013, 123) betont, dass die Einflussfaktoren nicht statisch sind, sondern sich das ganze Leben lang wechselseitig beeinflussen. Die zentralen Einflussfaktoren des Mehrspracherwerbs führt sie in folgender Grafik zusammen (2017a, 171):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1, Einflussfaktoren des Mehrspracherwerbs, Scharff Rethfeldt 2017a, 172.

3.2 Prozesse im Zweitspracherwerb

Beim Erlernen einer Zweitsprache ergeben sich durch die Erwerbsprozesse sprachliche „Fehler“, welche charakteristisch für den L2-Erwerb sind und nicht als Symptom einer SSES zu werten sind (Kannengieser 2015, 416). So wird davon ausgegangen, dass zwischen den Sprachen „Interlanguageeffekte“ bzw. eine gegenseitige Beeinflussung stattfindet. Beispielsweise übertragen Kinder mit portugiesischer L1 die starre Ordnung der Subjekt-Verb-Ergänzung „ihrer Erstsprache ins Deutsche: „Danach der Affe isst eine Banane““ (Schmidt 2014a, 21). Wichtig ist, diese Sprachmischungen nicht als Defizit, sondern als Kennzeichen eines kompetenten und kreativen Umgangs mit Sprache zu sehen (Schmidt 2014a, 21). Dementsprechend konnte eine aktuelle Studie von Zeynep (2018, 36) zeigen, dass ein Sprachenwechsel kindliche Erzählungen nicht negativ beeinflusst, sondern bewusst und als effektive kommunikative Strategie eingesetzt wird.

Die „Fehler“ im Zweitspracherwerb machen es in der Diagnostik besonders schwierig, zwischen natürlichen und pathologischen Abweichungen in der L2 zu unterscheiden, sodass die Gefahr von Fehldiagnosen hoch ist (Scharff Rethfeldt 2013, 140). Umso wichtiger sind die Kenntnisse seitens des Fachpersonals zu physiologischen und pathologischen sprachlichen Prozessen im mehrsprachigen Kontext. Zu den „gewöhnlichen“ Prozessen des Zweitspracherwerbs zählen:

1. Formelhafte Ausdrücke, die in ihrer „grammatikalische[n] Komplexität über dem ansonsten erreichten Spracherwerbsniveau liegen“ (Kannengieser 2015, 416) (z.B. „Weißt-du-was?“, „Verstehst-du?“) (DaZ-Portal o.J.).
2. Interferenzen: der Transfer sprachlicher Strukturen, Formen und Regeln von einer Sprache in die andere, wobei „Dauer und Ausprägung [..] individuell verschieden“ sind (Holler-Zittlau 2007, 41). („z.B. Übertragung des Satzbaumusters: „Wenn ich habe kein Geld, …“) (Kannengieser 2015, 417).
3. Borrowing, d.h. das Entleihen von Einzelworten aus Sprache A in Sprache B „als Kompensationsstrategie, solange der Wortschatz noch begrenzt ist“ (Holler-Zittlau 2007, 41).
4. Code-Switching: der situationsabhängige Wechsel zwischen den Sprachen , wobei die Kinder durchaus in der Lage sind, beide Sprachen zu trennen (Holler-Zittlau 2007, 42). Vielmehr ist das Code-Switching eine produktive Strategie, um je nach Kontext/Kommunikationspartner die angemessenere bzw. besser beherrschte Sprache zu wählen (Jeuk 2013, 43). Zudem wird durch die Strategie die soziale Identität geformt (z.B. der Sprachwechsel bei deutsch-türkischen Jugendgruppen, um sich mit bestimmten Gruppenmitgliedern zu solidarisieren) (Tracy 2008, 53).
5. Code-Mixing: das „Mischen der Sprachen, das vom Umfang her über ein einzelnes Wort hinausgeht“ (Kannengieser 2015, 417) (z.B. der Ausdruck: „ Sie hat eine diş fırçası “ (Zahnbürste) (Jeuk 2013, 43) eines Kindes mit Türkisch als L1). Solche Sprachmischungen, welche durch die L1 beeinflusst sind, sind nicht als Gefahr für den L2-Erwerb zu werten, sondern als „systematische(s) Bemühen der Lernenden, sich verständlich zu machen und ihre kommunikativen Ziele zu erreichen“ (Jeuk 2013, 46).

3.3 Formen von Mehrsprachigkeit

Grundsätzlich wird zwischen dem simultanen und sukzessiven Erwerb zweier Sprachen unterschieden. „Beim simultanen Spracherwerb werden zwei oder mehrere Sprachen parallel erworben“ (AWMF 2011, 21, Herv. i. Orig.). Beim sukzessiven Erwerb (auch: konsekutiver oder Zweitspracherwerb) wird die L2 erst nach dem Einstieg in den Erstspracherwerb erlernt (Kannengieser 2012, 411). Dies trifft auf die meisten mehrsprachigen Kinder in Deutschland zu (Rothweiler 2006, 157). Ab welchem genauen Zeitpunkt von simultanem oder sukzessivem Erwerb gesprochen wird, ist bislang umstritten (Kannengieser 2015, 415). Ebenso können die beiden Formen häufig in der Praxis nicht klar voneinander getrennt werden, etwa wenn sukzessiv mehrsprachige Kinder „bereits vor dem vermeintlichen Beginn des Zweitspracherwerbs informelle Sprachkontakte mit dieser Sprache hatten“ (Berg 2014, 105). Überdies lassen sich durch diese Unterscheidung noch keine Rückschlüsse über die entsprechenden sprachlichen Fähigkeiten ziehen, sondern lediglich über die Erwerbsabfolge. Ein individuelles Profil ergibt sich aus der Identifikation des/der SprecherIn mit der Sprache, der emotionalen Einstellung sowie der Qualität des Inputs und den übrigen Einflussfaktoren (Kannengieser 2015, 415).

Im Folgenden wird als wichtiges Hintergrundwissen für die Diagnostik mehrsprachiger Kinder der simultane und bilinguale Erwerb einer Zweitsprache erläutert und typische Probleme, welche beim Erwerb auftreten können, dargestellt.

3.3.1 Simultaner Erwerb

Die Voraussetzung, um von simultanem Erwerb zu sprechen, ist, „dass das Kind in beiden Sprachen einen regelmäßigen ausreichenden Input erhält“ (Kannengieser 2015, 418). Dies garantiert nicht, dass beide Sprachen gleichbleibend und im gleichen Maße beherrscht werden. Sofern jedoch in beiden Sprachen ausgeglichene Inputbedingungen bestehen, können die Kinder dasselbe Sprachniveau eines monolingualen Kindes erwerben. Ob der simultane Zweitspracherwerb einen Erwerbsbeginn ab der Geburt oder innerhalb der ersten drei Jahre voraussetzt, ist derzeit noch umstritten (Kannengieser 2015, 415; Scharff Rethfeldt 2013, 112). Chilla et al. (2013, 23) sprechen hier von einem Erwerbsbeginn bis zum 2. Lebensjahr.

Idealerweise sprechen die wichtigsten Bezugspersonen (meist Vater und Mutter) ihre jeweilige Muttersprache mit dem Kind. Es kann aber auch der Fall vorliegen, dass die Familiensprache und gesellschaftliche Umgebungssprache sich zwar unterscheiden, das Kind aber von Beginn an Kontakt mit der Umgebungssprache hat (Chilla et al. 2013, 23).

Simultaner L2-Erwerb überfordert Kinder nicht. Im Gegenteil wissen die Kinder „bereits zum Zeitpunkt ihrer ersten Wortkombinationen [..], dass sie es mit verschiedenen Sprachen zu tun haben, auch wenn sie diese manchmal intensiv mischen“ (Tracy 2008, 125). Der Erwerb verläuft im Großen und Ganzen entsprechend der Meilensteine der einzelnen Sprachen, es bestehen nur kleinere Unterschiede zu monolingualen Kindern (Tracy 2008, 125).

Hinsichtlich der Aussprache können die Kinder bereits sehr früh die Laute beider Sprachen diskriminieren. In der ersten Lallphase bestehen noch keine Hinweise auf Bilingualismus, da nicht die auditive, sondern die taktil-kinästhetische Wahrnehmung im Vordergrund steht. In der zweiten Lallphase hingegen können bereits sprachbezogene Muster beider Sprachen auftauchen (Kannengieser 2015, 418-419). Beim Lauterwerb kann es zu physiologischen Prozessen beider Sprachen kommen, aber auch zu sprachübergreifenden („z.B. Vorverlagerung von Velaren in beiden Sprachen“) (Kannengieser 2015, 419). Phonetische Fehlbildungen werden in beiden Sprachen realisiert, vorausgesetzt, die Laute sind in beiden Sprachen vorhanden (Fox-Boyer & Salgert 2014, 118).

Im Wortschatzbereich werden erste Wörter etwas später realisiert als bei monolingualen Kindern (Chilla et al. 2013, 23). Zu Beginn der Lexikonentwicklung vermischen simultan-bilinguale Kinder für gewöhnlich die Wörter beider Sprachen ("initial mixing“) (Kannengieser 2015, 419). Diese Mischungen, wie z.B. „ bitte-please “ (Tracy 2008, 115), sind allerdings kein Hinweis auf ein Defizit (Tracy 2008, 106). Beim späteren Wortschatzspurt entwickeln sich in der Regel zwei (oder mehr) mentale Lexika. Dabei wird ein Begriff zunächst nur in der L1 oder der L2 gelernt („z.B. das Wort Honig nur in der L1, das Wort Hausaufgabe nur in der L2“) (Scharff Rethfeldt 2013, 86). Diese werden anfangs komplementär auf verschiedene Situationen angewendet, wobei sich später ein situationsunabhängiges mentales Lexikon entwickelt. Die Gesamtzahl der Worte entspricht denen eines monolingualen Kindes, dies gilt jedoch nicht für den einzelsprachlichen Wortschatz. Aus diesem Grund können Wortschatztests (z.B. der WWT 6-10, Glück 2011) nicht anhand der monolingualen Normen ausgewertet werden, sondern bedürfen einer qualitativen Betrachtung (Kannengieser 2015, 419-420).

Im Grammatikerwerb simultan-bilingualer Kinder bestehen gegenüber monolingualen Kindern zeitliche Erwerbsunterschiede sowie vorübergehende Interferenzen und Instabilitäten, in qualitativer Hinsicht unterscheidet er sich jedoch nicht von monolingualen Kindern (Kannengieser 2015, 420). Beim Erwerb grammatischer Strukturen ist von Transfereffekten zwischen den Sprachen auszugehen: so kann einerseits eine grammatische Struktur in der Sprache A bewirken, dass die äquivalente Struktur in der Sprache B schneller erlernt wird, andererseits können sich die Einzelsprachen durch sprachcodespezifische Unterschiede so beeinflussen, dass bestimmte grammatische Strukturen erst später erworben werden (Chilla et al. 2013, 24).

3.3.2 Sukzessiver Erwerb

Um den sukzessiven Erwerb einer Zweitsprache präziser zu erfassen, hat sich die weitere Unterscheidung zwischen frühem, spätem und erwachsenem Zweitspracherwerb durchgesetzt (Haberzettl 2014, 6; Kannengieser 2015, 415). Die Frage, ob eine weitere Abgrenzung zwischen jugendlichem und erwachsenem L2-Erwerb vorzunehmen ist, bedarf weiterer Forschung (Haberzettl 2014, 6).

Die Altersgrenze, ab wann ein früher Zweitspracherwerb vorliegt, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Während Berg (2014, 105) und Haberzettl (2014, 6) von einem Erwerbsbeginn bis zu 4 Jahren sprechen, nennt Kannengieser (2015, 415) die Grenze von 6 Jahren und Scharff Rethfeldt (2013, 112) lediglich den vorpubertären Zeitraum. Dass eine weitere Abgrenzung zwischen frühem und spätem L2-Erwerb sinnvoll ist, belegen Chilla (2015, 96) zufolge erste Untersuchungen, welche „deutliche qualitative und quantitative Unterschiede im Erwerb simultan-bilingualer (AoO 0–2 Jahre), früh sukzessiv-bilingualer (AoO ca. 2–4 J.) und spät sukzessiv-bilingualer (AoO 6–8 J.) Kinder“ zeigen. Um die Altersgrenzen in der Literatur zu konkretisieren und deren Relevanz zu prüfen, bedarf es dementsprechend einer weiteren wissenschaftlichen Betrachtung.

Fest steht, dass der frühe Zweitspracherwerb in seiner Struktur vergleichbar mit dem Erstspracherwerb verläuft und zu einem hohen Sprachniveau vergleichbar mit dem eines Muttersprachlers führt (Haberzettl 2014, 7; Kannengieser 2012 411; Tracy 2008, 154). Kannengieser (2015, 420) vertritt in Übereinstimmung mit verschiedenen Untersuchungen die These, dass der frühe Zweitspracherwerb eine „ Variante des doppelten Erstspracherwerbs “ (Herv. i. Orig.) darstellt. So zeigen sich vor allem beim Syntaxerwerb Gemeinsamkeiten mit Erstspracherwerb: diese werden „implizit, mit vergleichbaren Etappen, mit ähnlichen Übergangsgrammatiken und […] mit gleichem Erfolg“ (Kannengieser 2015, 420) angeeignet. Andererseits treten auch Probleme beim Erwerb des Genus, der Nominalflexion, von Präpositionen und textlichen Kompetenzen auf. Laut Kannengieser (2015, 421) widerspricht dies der These allerdings nicht, denn diese Bereiche sind „im Deutschen von Formenvielfalt und Irregularitäten geprägt“ und hängen vom Input ab.

Wird die L2 hingegen im Verlauf der ersten Grundschuljahre erworben, ähneln sich die Erwerbsprozesse zunehmend denen Erwachsener und es muss mehr Lernaufwand aufgebracht werden (je später der Erwerb, desto ähnlicher) (Tracy 2008, 154). Haberzettl (2014, 7) vermutet als Grund dafür, dass die kritische Phase für den Spracherwerb, in welcher die Kinder sprachliche Reize besonders gut aufnehmen und verarbeiten können, bereits vergangen ist. Fest steht, dass auch der spätere kindliche L2-Erwerb in den meisten Fällen erfolgreich und zügig verläuft (Haberzettl 2014, 8). Haberzettl (2014, 8) macht in einer Übersicht verschiedener Studien zur freien Sprachproduktion von L1 und L2-Lernern sogar deutlich, dass die L2-Lerner in manchen Bereichen (z.B. der Erwerb der Verbzweitstellung in Hauptsätzen) einen schnelleren Erwerb als L1-Lerner zeigen.

Im Folgenden sollen die Kennzeichen und Probleme des sukzessiven Zweitspracherwerbs auf den einzelnen sprachlichen Ebenen als wichtiges Hintergrundwissen für die Differenzialdiagnostik näher erläutert werden:

Aussprache: Der Bereich der Aussprache hat bislang in der Literatur und Forschung eine eher kleine Rolle eingenommen, was laut Kannengieser (2015, 421) darauf hinweist, dass der Erwerb der Aussprache keinen großartigen Problembereich für L2-Lerner darstellt.

Für den phonologischen und phonetischen Erwerb des Deutschen benötigen die Kinder ca. 12 bis 18 Monate, wobei eine konkrete Abfolge der Lautaneignung bislang nicht beschrieben ist. Sofern die Laute im Phoneminventar beider Sprachen vorkommen, zeigen sich Fehlbildungen (z.B. ein Sigmatismus) auch in beiden Sprachen (Döll 2012, 46; Kannengieser 2015, 421). In einer Studie von Ünsal und Fox-Boyer (2002) zum Lautspracherwerb konnte festgestellt werden, dass phonologische Prozesse sich sprachenspezifisch zeigen, aber auch Prozesse vorkommen, welche bei monolingualen Kindern in der jeweiligen Sprache nicht auftreten (Ünsal & Fox-Boyer 2002, zit. nach Kannengieser 2015, 421).

[...]

Fin de l'extrait de 94 pages

Résumé des informations

Titre
Spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES) bei mehrsprachigen Kindern
Sous-titre
Diagnostik und Intervention
Université
Justus-Liebig-University Giessen  (Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung)
Note
1,0
Auteur
Année
2018
Pages
94
N° de catalogue
V444903
ISBN (ebook)
9783668822832
ISBN (Livre)
9783668822849
Langue
allemand
Annotations
Mots clés
Sprachentwicklungsstörungen, Mehrsprachigkeit, Diagnostik, Therapie, Förderung, Intervention, Zweisprachigkeit, Zweitspracherwerb, Sprachstörung, Sprachheilpädagogik, Sprachtherapie
Citation du texte
Franziska Bitterlich (Auteur), 2018, Spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES) bei mehrsprachigen Kindern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/444903

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