Mit der Industrialisierung und ihren langsam aufkeimenden technischen und medizinischen Möglichkeiten begann auch der gesellschaftlich flächenübergreifende Drang, Mittel und Wege zu erforschen dem Alter in seinem Verlauf Einhalt zu gebieten. Jedoch ist der Traum der ´ewigen Jugend´ kaum ein neuzeitliches Phänomen. Menschen aller Zeitalter philosophierten und befassten sich mit der Frage nach lebensverlängernden Möglichkeiten. In seiner steigenden Qualität und immer stärker werdenden und breit streuenden Intensität ist dieses Phänomen jedoch zunehmend als moderne Erscheinung zu betrachten. Alleine der Blick auf mediale Werbeinhalte und expandierender ´verjüngender´ Pharmakologie und Kosmetik zeigt zumindest den aktuellen Trend.
Kein Wunder, dass somit der Facettenreichtum des Alterns lange Zeit nur aus dem Bereich der medizinischen und pharmakologischen Forschung betrachtet wurde mit dem Ziel, den Vollbesitz der Kräfte möglichst lange erhalten zu können, Krankheit in ihre Schranken zu weisen, bis hin zur Suche nach Möglichkeiten einer erfolgreichen Verjüngung. Die professionelle Erforschung des Prozesses von Altern auf dem ebenso elementaren sozialen Bereich genießt dagegen erst wenige Jahrzehnte.
Spricht man heute von ´Altern´ und ´älteren Menschen´, so wird in der Regel der zeitliche Abschnitt nach dem Durchschreiten des 60. bis 65. Lebensjahres darunter verstanden. Dies bringt meist die Vorstellung mit sich, ältere Menschen als einheitliche Gruppe zu betrachten. Jedoch sollte auch hier bedacht werden, dass die unterschiedlich zu bewältigenden Aufgabenstellungen des späteren Lebensalters durchaus differieren. Steht beispielsweise im ersten Jahrzehnt nach dem konventionellen Berufsausstieg vielmehr die individuelle Problematik des ´ungewohnten Nichtstun´, der Neugestaltung der finanziellen Grundlage und der allgemeinen Umorientierung der bisherigen Lebensart etc. im Vordergrund so kristallisiert sich in Folgejahren eher eine Problemgestaltung durch Vereinsamung, Multimorbidität und Pflegeabhängigkeit heraus. Vor allem bei ätiologischen Betrachtungen depressiver Erscheinungsformen im Alter muss somit dem individuellen Status des alternden Menschen Beachtung entgegengebracht werden.
Gliederung
1. Einleitung
2. Depression im späten Alter – Einführung in die Thematik
2.1 Definitionskriterien nach ICD-10
2.1.1 Unipolare Verläufe
2.1.1.1 Unipolare Manien und manische Episode
2.1.1.2 Depressive Episode
2.1.1.3 Dysthymie
2.1.2 Bipolare Verläufe
2.1.2.1 Zyklothymien
2.1.3 Nicht näher bezeichnete affektive Störungen
2.2 Epidemiologische Betrachtung
2.3 Ätiologie der Depression im späteren Alter
2.3.1 Physiologischer Ursachenkomplex
2.3.1.1 Genetik
2.3.1.2 Neurobiologische Dynamik und Mechanismen
2.3.1.3 Altersspezifische Erkrankungen und Komorbidität
2.3.2 Psychologischer Ursachenkomplex
2.3.2.1 Biographie
2.3.2.2 Psychosoziale Faktoren und sozial-ökonomischer Ursachenkomplex
2.3.3 Persönlichkeitsmerkmale und Selbstbild
2.3.4 Zusammenspiel der vorgestellten ätiologischen Bereiche
2.4 Nähere Betrachtung der altersrelevanten syndromalen Erscheinungsformen von Depression
2.4.1 Organische Depression
2.4.2 Mittlere und schwere depressive Episode mit und ohne somatischen oder psychotischen Symptomen (ehemals endogene Depression)
2.4.3 Dysthymie (ehemals neurotische Depression)
2.4.4 Reaktive/ psychogene Depression
2.4.5 Übersicht der analogen Merkmale depressiver Störungsformen
2.4.6 Qualität der Depression alternder Menschen
2.5 Differentialdiagnostik bei altersspezifischen Depressionen
2.5.1 Depression und Demenz
2.5.2 Depression und Trauer
2.6 Therapie
2.6.1 Psychotherapeutische Aspekte im Hinblick auf kognitiv-verhaltenstherapeutische Intervention
2.6.2 Medikamentöse Therapie
3. Suizidalität und Sterberate
3.1 Motive und Qualität von suizidalem Verhalten im späteren Alter
3.2 Präventions- und Interventionsaspekte
3.3 Statistische Daten und Epidemiologie
4. Handlungsformen des sozialen Dienstes in der Vermeidung und Behandlung von Depressionen alternder Menschen in der stationären Altenhilfe
4.1 Belastungsmomente in stationären Einrichtungen
4.2 Psychosoziale Begleitung
4.2.1 Die Gewinnung Ehrenamtlicher als Prävention und Intervention
4.2.2 Angehörigenarbeit
4.3 Motivations- und Milieuarbeit
4.3.1 Biographisches Arbeiten
4.3.2 Tiere in Heimen
4.3.3 Einzel- und Gruppenaktivitäten, Gestaltung der Heimatmosphäre
5. Schlussgedanken zum Auftrag der begleitenden Sozialarbeit bei depressiven alten Menschen in stationärer Lebensart
1. Einleitung
Mit der Industrialisierung und ihren langsam aufkeimenden technischen und medizinischen Möglichkeiten begann auch der gesellschaftlich flächenübergreifende Drang, Mittel und Wege zu erforschen dem Alter in seinem Verlauf Einhalt zu gebieten. Jedoch ist der Traum der ´ewigen Jugend´ kaum ein neuzeitliches Phänomen. Menschen aller Zeitalter philosophierten und befassten sich mit der Frage nach lebensverlängernden Möglichkeiten. In seiner steigenden Qualität und immer stärker werdenden und breit streuenden Intensität ist dieses Phänomen jedoch zunehmend als moderne Erscheinung zu betrachten. Alleine der Blick auf mediale Werbeinhalte und expandierender ´verjüngender´ Pharmakologie und Kosmetik zeigt zumindest den aktuellen Trend.
Kein Wunder, dass somit der Facettenreichtum des Alterns lange Zeit nur aus dem Bereich der medizinischen und pharmakologischen Forschung betrachtet wurde mit dem Ziel, den Vollbesitz der Kräfte möglichst lange erhalten zu können, Krankheit in ihre Schranken zu weisen, bis hin zur Suche nach Möglichkeiten einer erfolgreichen Verjüngung. Die professionelle Erforschung des Prozesses von Altern auf dem ebenso elementaren sozialen Bereich genießt dagegen erst wenige Jahrzehnte.
Spricht man heute von ´Altern´ und ´älteren Menschen´, so wird in der Regel der zeitliche Abschnitt nach dem Durchschreiten des 60. bis 65. Lebensjahres darunter verstanden. Dies bringt meist die Vorstellung mit sich, ältere Menschen als einheitliche Gruppe zu betrachten. Jedoch sollte auch hier bedacht werden, dass die unterschiedlich zu bewältigenden Aufgabenstellungen des späteren Lebensalters durchaus differieren. Steht beispielsweise im ersten Jahrzehnt nach dem konventionellen Berufsausstieg vielmehr die individuelle Problematik des ´ungewohnten Nichtstun´, der Neugestaltung der finanziellen Grundlage und der allgemeinen Umorientierung der bisherigen Lebensart etc. im Vordergrund so kristallisiert sich in Folgejahren eher eine Problemgestaltung durch Vereinsamung, Multimorbidität und Pflegeabhängigkeit heraus. Vor allem bei ätiologischen Betrachtungen depressiver Erscheinungsformen im Alter muss somit dem individuellen Status des alternden Menschen Beachtung entgegengebracht werden.
Die Depressionsproblematik erfährt vor allem in der Institutionalisierung von betagten Personen eine wichtige Bedeutung. Der alte Mensch wird hierbei in ein meist stark reglementiertes System eingefügt, oftmals gegen seinen Willen und nicht selten mit den Folgen von Aktivitätseinbußen, Abnahme sozialer Kontakte sowie Zunahme von Isolation und Einsamkeitsgefühlen. Die physischen Folgen können sich in einer beschleunigten multimorbiden Gebrechlichkeit sowie erhöhter Sterblichkeit von Heimbewohnern zeigen. Zu den Gefahren der psychischen Folgen möglicher Institutionalisierungseffekte gehört letztlich auch die Depression, deren Leidensgewichtigkeit nicht selten durch die ´stille Unauffälligkeit´ der Betroffenen einer Gefahr unterliegt unterschätzt oder übersehen zu werden.
Blickt man ferner noch auf die weiteren breit gefächerten Konsequenzen, welche der Verlauf des Alterns mit sich bringt, so kann sich unweigerlich auch die Vorstellung aufdrängen, früher oder später eintretende depressive Erscheinungen seien folglich mehr oder weniger an diesen Prozess gekoppelt. Wohl gehören Depressionen mit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter (vgl. Hirsch 1992, S.9), doch stellen diese sich auch im direkten Vergleich häufiger ein als bei jüngeren Gruppen?
Und wie äußern sich Depressionen im Alter im Gegensatz zu depressiven Phänomenen in der jüngeren Bevölkerungsschicht? Wo liegen die zu beachtenden Unterschiede in der Qualität dieser affektiven Störungen bei jüngeren und älteren Menschen, auch in Anbetracht der Gefahr suizidaler Akte? Wie steht es um die Bedeutung der Beachtung dieser Störungen für die professionelle soziale Begleitung in der stationären Altenhilfe?
Die Beantwortung dieser vergleichenden und weiteren, direkt auf gerontologische Aspekte abgestimmten Fragestellungen, stellt die inhaltliche Grundlage dieser Arbeit dar.
2. Depression im späten Alter – Einführung in die Thematik
2.1 Definitionskriterien nach ICD-10
Das ICD-10 (International Classification of Diseases) und das DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) stellen die beiden größten international anerkannten Diagnosesysteme dar. In Deutschland legt jedoch v. a. das ICD-10 die verbindlichen Kriterien der zu nutzenden Diagnostik fest. (vgl. Hautzinger 2000, S. 5)[1]
Daher werde ich den Schwerpunkt bei der Vorstellung der Diagnosekriterien depressiver Erscheinungen auf die Klassifizierung durch das ICD-10 setzen. Beide Systeme, DSM-IV sowie ICD-10, stellen sich ferner in ihren diagnostischen Klassifizierungen innerhalb depressiver Phänomene als durchaus vergleichbar dar.
Das ICD-10 definiert den Begriff ´Altersdepression´ nicht direkt sondern klassifiziert depressive Erscheinungsformen allgemeingültig. Von einer Altersdepression kann jedoch gesprochen werden wenn ein Mensch erstmalig nach dem 60. Lebensjahr an einer depressiven Störung erkrankt. Abgesehen von dieser Differenzierung erhalten die Kriterien nach ICD 10 jedoch auch in der Diagnostizierung der Altersdepression volle Gültigkeit. (vgl. Hardtwaldklinik II 2005 [a], www.1-depression.de)
Störungen der Affektivität werden heutzutage meist eingeteilt in unipolare und bipolare Verläufe. ´Affektivität´ beschreibt das Erleben von Gefühlen. Entsprechend charakterisieren affektive Störungen Beeinträchtigungen des Empfindens in depressiver oder manischer Art. Zuzüglich des Schweregrades unipolarer und bipolarer Störungen besteht das Potenzial einer Entfaltung psychotischer Symptome. Diese können sich hierbei u. a. ausdrücken in:
- Schuld-, Sünd-, oder Verarmungswahn sowie Inhalte von Bestrafung und Halluzinationen meist verbaler Form in depressiven Phasen
- Unrealistische Gefühle von Wichtigkeit, Einmaligkeit, Unverletzbarkeit, der
Größe und auch des wahnhaften Geliebtwerdens in manischen Episoden
Im Folgenden werde ich die einzelnen Unterkategorien depressiver Störungen in ihren diagnostischen Kriterien nach ICD-10 vorstellen. Weiterführende Aspekte und eine tiefergehende Betrachtung des jeweiligen Krankheitsbildes in seinem Umfang und Erscheinungsbild wird in Punkt 2.4 ausdrücklicher beschrieben.
2.1.1 Unipolare Verläufe
Der Begriff der unipolaren depressiven Störungen beschreibt depressive Phänomene ohne das Eintreten manischer Phasen. Jedoch kommt es auch zu seltenen unipolar verlaufenden manischen Erscheinungsformen.
Unipolar verlaufende Depressionen finden sich als häufigste Form depressiver Erkrankungen wieder und weisen einen regelmäßigen Wechsel zwischen depressiver und neutraler Stimmung auf. Das ICD-10 teilt diese ein in ´depressive Episoden´ leichten, mittleren und schweren Grades sowie schwerem Grad zuzüglich psychotischer Symptome.
(vgl. Hautzinger2000,S.9/10)
2.1.1.1 Unipolare Manien und manische Episode
Unipolar verlaufende Manien, also sich wiederholende manische Episoden ohne depressive Phasen, werden im ICD-10 als bipolar klassifiziert. Treten diese jedoch als eine einzelne Phase auf, so klassifiziert sie das ICD-10 als einzelne unipolar verlaufende ´Manische Episode´.
Zu diesen zählen die Hypomanie und die Manie mit und ohne psychotische Symptome.
Die Hypomanie stellt dabei eine leichte Form der Manie dar. Sie ist v. a. gekennzeichnet durch eine anhaltende leicht gehobene Stimmung und Wohlbefinden in Verbindung mit gesteigerten Antrieb und Aktivität aber u. U. auch durch Reizbarkeit, Selbstüberschätzung und ´flegelhaftes´ Verhalten.
Bei der Manie kommt es hingegen zu einer stark übersteigerten Heiterkeit, ebenso stark übertriebener Selbsteinschätzung und allg. Enthemmung. Der erhöhte Rede- und Bewegungsdrang charakterisieren diese Störung ebenso wie Ideenflucht und Verschwendungssucht. Bedingt durch diese Symptomatik kommt es bei Betroffenen oft zu starken Aufmerksamkeitsdefiziten und entsprechender Ablenkbarkeit.
Starke Aggressionen können dabei mit wechselnder Heiterkeit in kurz aufeinander folgenden Phasen einhergehen. Manisch bedingte Aggressionen beschränken sich jedoch in aller Regel auf die verbale Art.
Bei zuzüglich psychotischer Beeinträchtigung kommt es meist zu Elementen von Größenwahn und verbalen Halluzinationen.
Eine manische Episode kann einen Zeitraum von Stunden bis Monaten einnehmen.
2.1.1.2 Depressive Episode
Depressive Episoden werden nach ICD-10 eingeteilt in leichten, mittleren und schweren Grad. Die verschiedenen Schweregrade definieren sich dabei durch die Anzahl der zu beobachtenden Symptome. Die verschiedenen Symptome setzen sich zusammen aus:
- Anhaltender gedrückter Stimmungslage
- Antriebs- und Aktivitätsverminderung
- Verminderung von Freude, Interesse und Konzentration
- Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls
- Schlafstörungen und entsprechender ´Ermattung´
- Appetitmangel
- Schuldgefühle sowie einhergehende Gefühle von Wertlosigkeit
- In schweren Fällen Suizidgedanken und Durchführung
Die Stimmungslage depressiver Episoden verharrt konstant und reagiert nicht auf den Einfluss äußerer Lebensumstände. Nicht selten wird eine solche Episode ebenfalls von körperlichen Symptomen begleitet wie psychomotorischer Gehemmtheit, Gewichtsverminderung oder Libidoverlust.
Die leichte depressive Episode kennzeichnet sich durch das Auftreten von zwei bis drei der beschriebenen Symptome, wobei das Aktivitätsvermögen der betroffenen Person weitestgehend erhalten bleibt.
Zur Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode sollten vier oder mehr der beschriebenen Symptome vorhanden sein, welche dem Betroffenen bereits größere Schwierigkeiten in der Alltagsgestaltung einherbringen.
Bei einer schweren depressiven Episode kommt es zu einem oder mehreren zusätzlichen Symptomen im Vergleich zum mittleren Schweregrad. Die Beschwerden besitzen quälenden Charakter, welche oftmals weitere somatische Krankheitszeichen mit sich führen. Auch treten in dieser Episode nicht selten Suizidgedanken und entsprechende Akte auf. In dieser Episode von Depression ist das Auftreten der Symptomatik in Verbindung mit psychotischen Elementen möglich wie starre Reaktionslosigkeit (Stupor), Halluzinationen und Wahnideen welche die normale Teilname am alltäglichen Leben aufgrund ihrer Schwere ausschließen. Die Gefahr einer Suizidhandlung wächst durch das Auftreten psychotischer Symptome in einen akuten Bereich ebenso wie eine Lebensgefährdung, vor allem im Alter, durch mangelnde Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme.
Die Klassifizierung der rezidivierenden depressiven Störung beschreibt die sich wiederholenden depressiven Episoden ohne das Auftreten von Manie. Jedoch kann es hier zu kurzen Phasen leicht gehobener Stimmung und Überaktivität im Sinne einer Hypomanie kommen, auch durch evtl. Verabreichung entsprechender Antidepressiva.
Bei einer Beobachtung von Manie muss jedoch eine Klassifizierung in eine bipolare affektive Störung vorgenommen werden.
Ebenso wie bei einer einzelnen Episode, können die sich wiederholenden Phasen depressiver Erscheinung von wenigen Wochen bis zu vielen Monaten hinziehen.
2.1.1.3 Dysthymie
Dystymien sind unipolar verlaufende, kontinuierlich existente und lang anhaltende Verstimmungen depressiver Art. Allerdings erweisen sie in ihrer Schwere nicht den Grad um in einer der oben genannten Kategorien depressiver Episoden eingegliedert werden zu können. Dennoch besteht die Möglichkeit einer sich, im dysthymischen Verlauf, kurzfristig zeigenden depressiven Krise. Diese klingt jedoch i.d.R. bald ab auf normalen dysthymischen Hergang.
2.1.2 Bipolare Verläufe
Bipolar verlaufende affektive Beeinträchtigungen, im Allgemeinen bekannt als manisch-depressive Störungen, charakterisieren sich durch regelmäßig wechselnde Phasen depressiver Niedergeschlagenheit (depressive Episode) und manischer Symptomatik.
Bipolare Verläufe affektiver Störungen sind jedoch im späten Alter als erstmalige Erscheinung eher selten anzutreffen und werden in aller Regel als ´verschleppte´ Affektstörung aus zurückliegenden Lebensphasen beobachtet. (vgl. Hautzinger, S. 9)
Unterteilt wird der Verlauf einer bipolaren Störung ähnlich wie bei den depressiven Episoden mit dem Unterschied der Eingliederung manischer Phasen wie unter Punkt 2.1.1.1 beschrieben und Differenzierung mit und ohne psychotische Erscheinungen (Wahn, Halluzinationen etc.). Die Dauer der einzelnen, sich austauschenden Episoden kann Stunden bis zu vielen Monaten anhalten aber ebenso rasant wechseln.
2.1.2.1 Zyklothymien
Das ICD-10 klassifiziert Zyklothymien nicht direkt zu den bipolaren affektiven Störungen (manische Depressivität). Sie weisen jedoch in ihrem Prozess einen bipolaren Hergang auf. So wechseln sich Episoden von depressiver Verstimmung mit Solchen von euphorischer Natur (Hypomanie), ohne dass diese in ihrem Schweregrad jedoch die Kriterien einer richtigen bipolaren Störung erfüllen. Ebenso wie Dysthymien stellen sie einen langfristigen Verlauf dar. Beobachtet werden zyklothyme Störungen oftmals bei Angehörigen von Betroffenen welche an einer bipolaren affektiven Störung leiden. Auch besteht die Gefahr eines schleichenden Prozesses von zyklothymischer Verstimmung zu einer richtigen bipolaren affektiven Störung.
2.1.3 Nicht näher bezeichnete affektive Störungen
Depression im Alter wird wie gesagt im ICD-10 nicht gesondert klassifiziert und umschrieben. Im Bereich der Altersdepression bekommen jedoch die dort als ´nicht näher bezeichneten´ Gemütsstörungen eine gewisse Relevanz. Sie besitzen i.d.R. eine weniger ausgeprägte Symptomatik. Vor allem nach dem 70. Lebensalter stellen sie mit knapp
18 % Prävalenz eine häufige Form depressiver Beeinflussung im Alter dar.
Diese ´nicht näher bezeichneten affektiven Störungen´ beschreiben eine Depressionsform die sich durch ihre gemischte Struktur divers bedingter, ineinander greifender Beeinträchtigungen des Gemüts kennzeichnet.
Dem zugrunde liegt die Problematik das bei alten Menschen die körperlich bedingten Depressionen zunehmen und sich nicht selten mit Depressionen anderer Ätiologie, wie reaktiven oder medikamentös induzierten affektiven Störungen überlagern bzw. vermischen. (vgl. Grond 2001, S. 36)
2.2 Epidemiologische Betrachtungen
Die Bestimmung der Verbreitung und Auftretenshäufigkeit depressiver Störungsbilder stellt sich im Gegensatz zu klar definierten Krankheitsbildern nicht ganz konfliktfrei dar.
Auch wenn ICD-10 und DSM-IV die notwendigen diagnostischen Kriterien zur Erfassung affektiver Störungen beschreiben, kann eine konkrete Unterscheidung der einzelnen Unterformen depressiver Phänomene oftmals nicht leicht erfüllt werden. So beinhaltet der Begriff der Depression, wie schon unter Punkt 2.1 ersichtlich, beispielsweise Manische Depressionen, Dysthyme Störungen, Dysphorien und Hypomanie etc.
Hinzu kommt der oftmals fließende Übergang einzelner Unterformen depressiver Erkrankungen. Depressionen stellen somit, aufgrund dieser zu berücksichtigenden Subformen, keine homogene Krankheitsgruppe dar. (vgl. Adam 1998, S. 19 ff.)
Im Folgenden werde ich mich daher bei der Vorstellung epidemiologischer Daten größtenteils auf die Gesamtheit der Verbreitung und Auftretenshäufigkeit von Depressionen im Allgemeinen, inbegriffen der Unterformen, beschränken, um einen gut überschaubaren Einblick in das Vorkommen von Depressionen im späten Alter zu ermöglichen. Einige differenzierte Daten zu Subformen der depressiven Erscheinungsformen bringe ich jedoch später in den jeweiligen Unterkapiteln der Einteilung depressiver Erscheinungsformen bei Punkt 2.4 mit ein.
Ferner muss zu der Vorstellung epidemiologischer Daten bedacht werden, dass eine exakte differenzierte Aussage der in diversen internationalen Feldstudien erfassten Verbreitung und Auftretenshäufigkeit (Prävalenz und Inzidenz) kaum beansprucht werden kann. Dies ergibt sich insbesondere durch die oben genannte Problematik und den sich unterscheidenden Vorraussetzungen der Erfassung sowie unterschiedlichen betreffenden (kulturellen) Populationen. Ferner spielt die Lokalisation der Erhebungen eine bedeutende Rolle, also ob z.B. Untersuchungen in ländlicher oder urbaner Umgebung erstellt wurden oder im stationären oder häuslichen Bereich. Altersgruppe, Geschlecht oder die Diagnose einer zuzüglichen Erkrankung besitzen ebenso prägenden Charakter. Auch bestehen allgemeinpsychiatrische Instrumente zur Erfassung von depressiven Formen meist aus verschiedenen Formen des Interviews und Selbstbeurteilungsfragebögen. (vgl. Knäuper 1994, S. 8) Diese sind für alternde Personen nicht selten schwer zu bewältigen aufgrund von Umfang und zeitlich intensiver Auseinandersetzung der inhaltlichen Komplexität dieser Instrumente. Aspekte wie das Alter des Interviewers spielen in das Antwortverhalten der betreffenden alten Menschen ebenso eine weitere Rolle wie Schichtzugehörigkeit der interviewten Personen. So beschreibt Adam dass alternde Menschen mit höher eingestufter Bildung weniger ´sozial erwünschtes Antwortverhalten´ anbieten als Gleiche niederen Bildungsstandes. (vgl. Adam 1998, S. 36 und 48/49)
Folglich verwundert es nicht, dass die erfassten Daten über die Epidemiologie von Depression im Alter nicht selten in unterschiedlichem Ausmaß differieren. Als Beispiel hierzu seien die amerikanischen ECA-Studien genannt, welche sich zu Zeiten ihrer Erhebung mit gravierender Kritik auseinander zu setzen hatten, aufgrund ihrer geringen aufgezeigten Depressionsraten im Gegensatz zu vergleichbaren Studien. (vgl. Adam 1998, S. 49)
Als zweite Quelle zu den standardisierten Methoden zur Erfassung der Depression im Alter stehen die eigenen psychiatrischen Diagnosen von Psychologen und Psychiatern. Auch beim Vergleich dieser, in unterschiedlicher Weise erbrachten Daten, ergeben sich Differenzen in der Verbreitung von depressiven Störungen. Die erhobenen und veröffentlichten Daten der Studien über Verbreitung und Häufigkeit von Depressionen im Alter sollten somit weniger als authentische Erfassung tatsächlicher Zahlen betrachtet werden sondern dienen eher als Anhaltswerte. Sie geben jedoch ohne Zweifel einen bedeutenden Einblick in die Prävalenz und bezeugen die Relevanz der Thematik von depressiven Störungen im Alter bewusst entgegen zu treten.
Betrachtet man nun die ermittelten allgemeinen Durchschnittswerte[2] der mannigfaltigen Untersuchungen so ergeben sich folgende Werte der Erhebungen durch standardisierte Instrumente:
Durchschnittliche Prävalenzrate depressiver Störungen
- 15,4 bis 16,1 % bei Personen >65
- 25 – 40 % in stationären Einrichtungen[3]
Durchschnittliche geschlechterspezifische Prävalenzrate depressiver Störungen bei Personen >65
- 9,7% Männer
- 17,3% Frauen
Durchschnittliche Prävalenzrate affektiver Psychosen[4] bei Personen >65
- 5,7%
- gemessen an 16% Gesamtrate à 1/3 aller depressiven Störungen im Alter
- 3,7% Prävalenz bei Frauen
- 1,7% Prävalenz bei Männern
Durchschnittliche Prävalenz bipolarer Depressionen bei Personen >65
- 1,6%
- 1,4% Prävalenz bei Frauen
- 1,0% Prävalenz bei Männern
Durchschnittliche Prävalenz schwerer depressiver Episoden mit somatischen bzw. psychotischen Symptomen (unipolar) bei Personen >65
- 1,6%
- 2,2% bei Frauen
- 1,3% bei Männern
Durchschnittliche Prävalenz neurotischer affektiver Störungen bei Personen >65[5]
- 7,6 % à mit 48% annähernd die Hälfte aller depressiven Störungen im Alter
- 8% bei Frauen
- 3,8% bei Männern
2.3 Ätiologie der Depression im späten Alter
Depressionen im Alter werden einerseits vor allem durch die degenerativen körperlichen Prozesse, wie Mulitmorbidität, ausgelöst. Zum anderen bedingen psychoreaktive Auslöser eine Depression, bedingt hierbei oft durch die negativ empfundene neuerliche Dynamik ihrer aktuellen und vergangenen Biographie, wie allg. Verlust- oder Verzichtserfahrungen. Letztendlich muss jedoch auch hier die genetische Empfänglichkeit derartiger Störungen bei der Frage ob es überhaupt zu einem Ausbruch depressiver Beeinträchtigung kommt, betrachtet werden. Vor allem aber ist es notwendig den sozialen Kontext innerhalb des Risikos einer affektiven Erkrankung im Alter mit ein zu beziehen, mit der Absicht ihr fachlich und menschlich gerecht entgegentreten zu können. (vgl. Fischer/ Hesse 1989, S. 50)
2.3.1 Physiologischer Ursachenkomplex
2.3.1.1 Genetik
Die genetische Bereitschaft des Körpers zur Entwicklung depressiver Störung besitzt nach heutigen Kenntnissen klare Bedeutung, v.a. im Feld der jüngeren Generationen. So ist eine genetische Prädisposition zur Veranlagung von Depression aus der Zwillingsforschung bekannt und Beobachtungen zeigen, dass häufig Angehörige von depressiven Personen ebenso zur Anfälligkeit selbiger Störungen neigen.
Ein eindeutiger wissenschaftlicher Befund zur klaren Bestätigung dieser Theorien konnte jedoch bislang noch nicht gewährleistet werden. Dabei spielt auch die noch bestehende Unklarheit über das Erlernen von depressivem Verhalten eine Rolle.
(vgl. Steinwachs 1992, S. 45 u. Bojack 2003, S. 24)
Deuten nun trotz allem gewisse Erkenntnisse auf den Einfluss genetischer Faktoren zur Entwicklung depressiver Störungen hin, so lässt sich jedoch im Gegenzug hierzu sagen, dass im Falle einer erstmalig im Alter auftretenden affektiven Störung die Erbanlagen mit zunehmender Lebensdauer eine umso geringer werdende Rolle spielen. Bruder nennt hierbei einen Rückgang von 20% (bei 20 Jährigen) auf 8 % (bei 60 Jährigen). (Bruder 1999, S. 349, Förstl 1999, www.zns-spektrum.com)
Dennoch besitzt die genetische Betrachtung der Problematik auch für das Alter bedeutsamen Charakter.
Hatte eine Person früher bereits des öfteren oder regelmäßig depressive Episoden zu verzeichnen, so ist auch die Möglichkeit genetischer Beeinflussung gegeben, so wie deren Relevanz für das späte Alter und dessen noch kommende Herausforderungen auch im Hinblick auf das ´verschleppen´ depressiver Störungen.
2.3.1.2 Neurobiologische Dynamik und Mechanismen
Die neurobiologischen Prozesse und Mechanismen sind ein Gebiet der Medizin das auch heutzutage allenfalls rudimentär erforscht ist. (vgl. Steinwachs 1992, S. 49)
Die komplexen Abläufe dieser neuralen Systeme in Bezug auf Einflussnahme bei affektiven Störungsbildern sollen hier auch nicht tiefgehender Gegenstand dieser Arbeit sein. Wichtig ist jedoch meiner Meinung nach Kenntnis über die Möglichkeit neuronaler Beeinträchtigungen als Ursache affektiver Störungen zu haben, vor allem in der Sozialarbeit stationärer Altenhilfen, beispielsweise unter Beachtung der in Betracht kommenden Konsequenzen individueller Medikation auf Nervenüberträgersysteme bei Behandlung anderer Erkrankungen.
Daher möchte ich hier zumindest in Ansätzen darstellen inwiefern die Funktionen der in Frage kommenden neuronalen Abläufe depressive Störungsbilder eventuell beeinflussen und hervorrufen können.
Depressive Störungen hängen nach Meinung vieler Neurologen möglicherweise mit einer Verminderung des Neurotransmitter Austausches von Noradrenalin und Serotonin zusammen. Diese beiden Botenstoffe des Gehirns besitzen eine große Bedeutung für die Gefühls- und Stimmungslage. Noradrenalin spielt eine wesentliche Rolle bei der Verarbeitung von Sinnesreizen und wirkt auf Gefühle. Ferner beeinflusst es den Ablauf der Schlafregulation.
Serotonin wirkt sich v. a. auf Gefühle und Stimmungen sowie die Impulsivität, Appetit und Sexualität aus. Ferner besitzt Serotonin Einfluss auf die Ausschüttung von Noradrenalin. Ein verminderter Serotoninspiegel zieht so folglich eine Herabsetzung des Noradrenalins mit sich.
Vor allem wird diese Annahme anhand der Wirkungsweise von Antidepressiva gestützt. Diese erhöhen die neurale Aktivität von Serotonin und Noradrenalin und verbessern hierdurch depressive Symptome wie Antriebsstörungen, Appetitlosigkeit oder Schlafstörungen. (vgl. Bojack 2003, S. 23/ 24, Fischer/ Hesse 1989, S. 52)
Weitere Forschungen und Thesen bezeichnen nicht nur Veränderungen des Ausstoße s von Neurotransmittern sondern auch entsprechende Ungleichgewichte diverser Botenstoffe und ihren Gegenspielern sowie Veränderungen der Rezeptorendichte und Sensibilität. (vgl. Steinwachs 1992, S. 46 ff.)
So nennt Steinwachs hierzu beispielsweise das sensible Gleichgewicht zwischen Noradrenalin und dem entsprechenden neuronalen Gegenspieler Acethylcholin. Diese beiden Systeme der Nervenübertragung „sind für die Beurteilung und emotional gefärbte Bewertung von Umwelteindrücken verantwortlich…“ und „...prägen den Attributionsstil, der für die Genese depressiver Entwicklungen bedeutend ist“. (Steinwachs 1992, S. 49)
Zum besseren Verständnis gibt die unten angeführte Tabelle einen Überblick über die betreffenden Transmitter und ihre bekannte Wirkungsfunktion.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
( Steinwachs 1992, S. 50, Tabelle 1)
Vollständigkeitshalber muss erwähnt werden, dass eine Depression ebenfalls durch die Gabe bestimmter Medikamente ausgelöst werden kann. Rezerpinhaltige Herz-Kreislauf Mittel wie Methyldopa aber auch andere wie ß-Blocker, Antibiotika, das Protein Interferon, Kortison sowie in seltenen Fällen auch Antiparkinsonmittel und verschiedene Schlaf-, Beruhigungs-, und Schmerzmittel sind risikobehaftete Mittel, welche sich begünstigend auf die Bildung depressiver Zustände auswirken können. (vgl. Ziervogel 2003, S. 16, Techniker Krankenkasse 1998, S. 19, Bojack 2003, S. 24 und Heuft 1992, S. 38)
Die Notwendigkeit der Einnahme von Medikamenten stellt im späten Alter i. d. R. einen kontinuierlich steigenden Verlauf dar. Billig gibt Beispiele aus eigener Praxis, in dem alte Menschen am Tag bis zu16 Medikamente in Form von über 40 Tabletten einnehmen müssen und stellt dabei zurecht die Frage wie viele Mittel ein Mensch realistisch betrachtet korrekt und optimal aufeinander abgestimmt einnehmen kann. Gerade bei dem oftmals im Alter sich kumulativ entwickelnden Medikamentenkonsum erhöht sich entsprechend das Risiko auftretender Nebenwirkungen. Dies liegt jedoch nicht nur an den Nebenwirkungen einzelner Medikamente. Hinzukommen unerwünschte Effekte, die die Kombination verschiedener gleichzeitig genommener Präparate mit sich führen.
So gehören auch depressive Störungen zu Begleiterscheinungen des Konsums und der Kombination verschiedener Medikamente. (vgl. Billig 1987, S. 24/ 25)
Dabei gilt es nun nicht die Einnahme von Medikamenten im Alter zu denunzieren. Diese stellen zweifelsohne ein unabdingbares Mittel im Alter und den zu behandelnden Erkrankungen dar. Jedoch sollte bei der Medikation immer ein Auge auf den Effekt geworfen werden um eventuellen Nebenwirkungen durch Anpassung oder Austausch des oder der Medikamente entgegen zu treten. Hier kommt v. a. auch dem sozial begleitenden Dienst in Heimen eine Schlüsselstelle zu, wachsam zu beobachten und Veränderungen im Gesamtbild einer betroffenen Person zu dokumentieren um entsprechend eingreifen und sich mit dem behandelnden Arzt auseinander setzen zu können.
2.3.1.3 Altersspezifische Erkrankungen und Komorbidität
Ein Differenzierungspunkt zu depressiven Erscheinungen von jungen und alten Betroffenen ist, dass sich depressive Störungen nicht selten bei alten Menschen hinter somatischen Beschwerden verbergen. Medical Tribune schreibt, dass ein Drittel aller Altersdepressionen sich hinter vorgeschobenen körperlichen Symptomen verstecken. (vgl. Medical-tribune 2004)
Dies können u. a. Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Verdauungsprobleme etc. oder auch Gefühle von ´Brustenge´ in unterschiedlicher Intensität und Qualität sein. Dies ist ein weiterer Punkt der die Diagnose einer Depression im Alter so erschwert. Die affektierten alten Menschen weisen dabei oftmals keine gesteigerten Zustände von Niedergeschlagenheit oder Trübseligkeit auf. So besteht die Gefahr, dass keine körperlichen Gründe der Beschwerden diagnostiziert werden können und Betroffene so oftmals einfach als hypochondrisch entlassen werden.
Bei einer Aufdeckung der Depression als kausalen Hintergrund somatischer Symptome, wäre die Symptomatik entsprechend behandelbar. (vgl. Billig 1987, S.12/ 13, Fischer/ Hess 1989, S. 50)
Die Problematik dieser akzentuierten Symptomatik der Depression im Alter wird in den Punkten 2.5 Differentialdiagnostik und 2.4.6 Qualität der Depressionen alter Menschen noch weiterer Gegenstand der Arbeit sein.
Häufig beginnt die Altersdepression jedoch auch mit einer körperlichen Erkrankung oder einsetzender Mulitmorbidität. Vor allem bei den im Alter oftmals chronischen Verläufen besteht ein erhöhtes Risiko zur Bildung einer Depression. Chronische Erkrankungen beeinträchtigen den betroffenen permanent und schwächen so die psychophysische Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft. Akute, nicht lebensgefährliche Krankheiten lassen Körper und Geist eher die Möglichkeit zur Regeneration nach ihrem Abklingen. Im Gegensatz dazu stehen die chronischen Krankheiten. Diese können in ihrem Verlauf und je nach Verfassung des betroffenen alten Menschen eine konstante Empfindung von Gefahr und Deprivation bedeuten und somit depressive Störungen begünstigen. Je nach Dauer undVerlauf besteht ebenso die Gefahr einer Verselbständigung einer aufgetretenen Depression, auch wenn die ursächliche körperliche Erkrankung nicht mehr aktuell ist. Als Beispiele seien Erkrankungen oder Behinderungen genannt wie Krebs, Amputationen, Herzkrankheiten, Morbus Parkinson oder auch Schlaganfälle und chronischer Schmerz, die oft als Auslöser depressiver Erscheinungen im Alter zugrunde liegen, allerdings nur einen Auszug der in Frage kommenden Krankheiten darstellen. (vgl. Blöink/ Husser 1991, S.419, Marcea 1986, S. 385, Ziervogel 2003, S. 14)
Krankheit bedeutet für den Alten Menschen vielmals nicht nur eine vorübergehende Einschränkung, wie es sich i. d. R. bei jüngeren kräftigen Menschen verhält. Es deutet sich für ihn nicht selten eine Gebrechlichkeit an, die sich wahrscheinlich nicht mehr rückgängig machen lassen wird. Krankheit ist somit häufig ein Hinweis für den alten Menschen, dass das Leben zu Ende geht. Dabei spielt die Schwere einer Erkrankung durchaus nur eine untergeordnete Rolle. Auch Erkrankungen welche keine direkte Lebensbedrohung darstellen können als ´vernichtend´ erlebt werden. Ein Brutplatz für sich herausbildende depressive Störungen.
Zusätzlich wirken Depressionen auf einen physischen Krankheitsverlauf wie ein Katalysator. Entsprechend wichtig wird eine Erkennung und Behandlung solcher Störungen bei gleichzeitiger körperlicher Erkrankung. (vgl. Billig 1987, S. 23 f., von Scheidt/ Eikelbeck 1995, S.124, Medical-tribune 2004)
Oft treten im Alter körperliche Krankheiten nicht einzeln sondern gebündelt auf. Die so genannte Multimorbidität stellt dabei einen besonderen Problemkreis um die Depression dar. So wurden in einer Bevölkerungsstudie 189 Probanden über 65 Jahre untersucht. Nach dieser Studie waren 32,2 % der getesteten Personen von drei oder vier Krankheiten beeinträchtigt, 19,4% an fünf oder sechs und 20,6% von mehr als sechs körperlichen Leiden beeinflusst. (vgl. Zierenberg 2003, S. 16)
Hier ergibt sich oftmals das Problem ob die Depression zuerst oder als Folge von körperlicher Krankheit auftrat. Nach Hautzinger beschreiben die meisten Betroffenen jedoch rückblickend das Auftreten der Depression nachfolgend zu den anderen Problemen. (vgl. Hautzinger 2000, S. 17)
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Häufigkeit depressiver Störungen bei bestimmten Krankheitsformen und Verläufen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
( Quelle: neuro24 )
2.3.2. Psychischer Ursachenkomplex
2.3.2.1 Biographie
Die Biologie eines Menschen formt sich auch durch seine Biographie. Die Erfahrung welche eine alternde Person in ihrem Leben in sich aufgenommen hat bildet nicht nur seine Erinnerungen. Der Mensch kann als bio-psycho-soziales Wesen verstanden werden. Körper, Geist und die individuellen sozialen Einflussfaktoren sind untrennbar miteinander verbunden. Entsprechend formt die Erfahrung der vielen zurückliegenden Jahre aber natürlich auch die aktuellen Erlebnisse und Eindrücke, sämtliche Eigenschaften des Menschen, auch die biologischen Gegebenheiten, mit. Das Alter stellt somit einen biographisch verankerten Prozess dar. (vgl. Billig 1987, S. 10, von Scheidt/ Eikelbeck, S. 92).
Natürlich gehören zur biographischen Betrachtung die Persönlichkeitsmerkmale unweigerlich dazu. Diese bekommen bei der Altersdepression jedoch eher eine gesteigerte Relevanz bei der Verschleppung von früheren depressiven Störungen in das höhere Alter hinein und weniger bei der Ersterscheinung im Alter. (vgl. von Scheidt/ Eikelbeck 1995, S. 125)
Entsprechend werde ich mich der Persönlichkeitsforschung im Bereich der Depression tiefergehend in Punkt 2.3.4 widmen.
Aufgrund der verankerten Biographie eines Menschen ist auch Vorsicht geboten pathogene Phänomene im Alter mit generalisierten Aussagen zu erfassen. Ein möglichst weitreichender Blick in die Erfahrungen der individuellen Person und den zugrunde liegenden Ereignissen und Erlebnissen ist unerlässlich um die Erfassung der Kausalität bestmöglich zu vervollständigen.
Depressionen im Alter werden also durch die erlebte Vergangenheit mitbestimmt.
So sollten bei der Betrachtung biographischer Facetten einige wichtige Einflussfaktoren nachgeforscht werden:
- Ein zurückliegender gesteigerter Grad an Konfliktsituationen und Spannungen
die schlecht verarbeitet oder gar nicht gelöst wurden durch die fehlende oder
scheiternde Auseinandersetzung dieser Herausforderungen
- Internalisierte Vermeidungstendenzen, d. h. es zeigt sich im biographischen
Verlauf eine Charakteristik der Übertragung von Verantwortung und
Herausforderungen auf Dritte. Dies begünstigt v. a. spätere Passivität und
Überforderung im Alter
- Allgemeiner Mangel an aktivem Vermögen zur konstruktiven
Auseinandersetzung der sich im Leben stellenden Hürden und Aufgaben
- Die Tendenz zur Entfaltung eines dysfunktionalen Selbstbildes mit der Prämisse
einer allgemeinen Unfähigkeit zur Bewältigung sich stellender Anforderungen
(vgl. Prahl/ Schroeter 1996, S. 30/ 31 u. 59/ 60)
Natürlich können solche biographischen Faktoren nicht unbedingt als alleinige Grundursache gelten. Der Entstehung einer Depression mag ein Komplex vieler ineinander greifender Aspekte zugrunde liegen. Allerdings beeinflusst die Biographie die Fähigkeit der betroffenen Person zur kompetenten Meisterung von Belastungen und erfahrener Deprivation, wie auch der Umgang mit Krankheit. So gibt sie u. U. auch Aufschluss darüber ob ein Mensch in seinem vergangenen Leben mit Krisen konstruktiv umgehen konnte und in der Lage war Lebensperspektiven anzugleichen, was angepasste Verarbeitungstendenzen im Alter begünstigt. Die Biographie gibt somit Aufschluss über eine reduzierte oder aber angemessene Fähigkeit belastende Erlebnisse und Zustände zu verarbeiten. Sie stellt damit ein wichtiges Instrument in der Ursachenforschung dar.
(vgl. Kruse/ Lehr 1989, S.26/ 27)
Die geschilderten biographischen Aspekte geben eine Umrahmung der zu beachtenden Thematik und können in ihrer psychosozialen Bedeutung noch weiter spezifiziert werden.
Vergangene und aktuelle Belastungssituationen werden auch als ´life events´ oder ´life change units´ bezeichnet. Diese können Wohnungswechsel, beispielsweise in ein Heim, Partnerprobleme- oder Verlust, Ausstieg aus der Arbeit, langwierige familiäre Konflikte aber auch Krankheit sein. Biographische life events lassen sich nach Bojack gliedern in somatische, reaktive und Entwicklungsfaktoren. (vgl. Bojack 2003, S. 24)
Da jedoch körperliche Aspekte bereits vorgeführt wurden, werde ich Solche in diesem Kapitel nicht mehr weitergehend behandeln, nur der Vollständigkeit halber auch die entsprechende mögliche somatische Ursächlichkeit in der Biographie eines Menschen erwähnen und mich v. a. den psychosozialen Aspekten in diesem Kapitel widmen.
Wichtige reaktive Faktoren sind:
- akute Verlusterlebnisse
- starke Orientierung auf wenige Bezugspersonen
- lebenszyklische Krisen
- Erkrankungen
- dauerhafte Konflikte
- wirtschaftliche Belastung
- Wohnsituation
(vgl. Bojack 2003, S. 25, Lehr 2000, S.178 ff.)
Reaktive Faktoren stellen also vergangene und aktuelle Phänomene dar, welche auf den Betroffenen eine pathogene Reaktion hervorrufen können. Sie spielen vor allem bei der Manifestierung einer reaktiven Depression eine Rolle. Dabei muss nicht von einem einzelnen Trauma als Auslöser der Störung ausgegangen werden. Oft steht ein Komplex sich addierender Ereignisse der Entwicklung einer affektiven Störung zugrunde. (vgl. Kruse 1989, S. 1)
Zu Entwicklungsfaktoren zählen:
- Gesteigert umsorgender Erziehungsstil
- Vergangene Verlusterlebnisse mit mangelhafter Auseinandersetzung und
Verarbeitung
- Persönlichkeitsstörungen
- Beeinträchtigung in der kognitiven Entwicklung
(vgl. Bojack 2003, S. 25)
Entwicklungsfaktoren stehen in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang und beschreiben, in ihrem Beginn oftmals lang zurückliegende, langfristig wirkende Prozesse.
Neurotischen bzw. psychogenen Depressionen liegen i. d. R. entsprechende Entwicklungsfaktoren zugrunde. (vgl. Heuft 1992, S. 31)
Betrachtet man nun die biographische Dimension in der Depressivität alternder Menschen so zeigt dieser Blick eine deutliche Relevanz bei der Erfassung und Begleitung der Betroffenen. Das vergangene soziale Umfeld erweist sich als ebenso wichtig wie das Aktuelle. Die Auseinandersetzung mit der Biographie affektiv beeinträchtigter alter Menschen sollte somit ein Grundsatz der Arbeit und Sorge mit Diesen sein.
2.3.2.2 Psychosoziale Faktoren und sozial-ökonomischer Ursachenkomplex
Die psychosozialen Faktoren welche das Auslösen affektiver Störungen begünstigen oder sogar bewirken können sind weit gefächert und vielfältig. Dies mag vor allem an der Subjektivität liegen der jeder Einzelne von uns unterlegen ist. Es ist daher kaum möglich das flächenübergreifende Feld sozio- und psychopathologisch wirkender Umstände abzudecken. Es existieren jedoch einige Hauptfaktoren, welche als begünstigendes oder auslösendes Faktum wiederholt eine relevante Rolle spielen.
[...]
[1] Die Inhalte dieses Kapitels beziehen sich auf das diagnostische Klassifizierungssystem ICD-10, sofern nicht anders angegeben.
[2] Die angeführten Daten beziehen sich auf: Adam, depressive Störungen im Alter, 1998, sofern nicht anders angegeben
[3] http://www.psychiatriegespraech.de/sb/depression/depr_epid.php
[4] schwere depressive Episoden in uni- und bipolarem Verlauf
[5] hierunter fallen affektive Störungen wie Dystymia, Dysphorie, Zyklothymie etc.
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