Die erste Frage ist die nach der richtigen Frage. Heiner Müller, „Philoktet“. Warum? An wen diese Frage: an den Leser/Zuschauer; an Heiner Müller? Die Antwort ist wohl bei beiden die gleiche: Weil man damit nicht fertig wird. Dabei ist die Antwort ebenso vielschichtig wie die Frage. Der Stoff, den Müller wählte, war nicht bewältigt, die Form nicht und die Situation, in deren Kontext „Philoktet“ entstand, ohnehin nicht. In nahezu notwendiger Konsequenz ist auch die Rezeption des Stückes – trotz einiger eindrucksvoller Versuche – bisher nicht zu einem Verständnis des Dramas gelangt, das es erlaubte, „Philoktet“ in die beruhigende Mottenkiste eines still gestellten Kanons einzulagern. Auch wenn Heiner Müller ohnehin zu den meistdiskutierten deutschsprachigen Autoren gehört, scheint man doch bezüglich der meisten seiner Stücke inzwischen zu befriedigenden Interpretationen gelangt, die sich nach und nach als literaturwissenschaftliche Gemeinplätze durchsetzen. Einzig ideologisch problematische Stücke wie „Mauser“ und „Der Horatier“ sind noch ernsthaft umstritten – und „Philoktet“. Die dringlichste von allen Fragen, die dieser Arbeit Motor und zugleich oberste Instanz sein soll lautet: Was wollen wir heute mit diesem Text? Und: was können wir mit ihm (tun/wollen)? Denn angesichts der offensichtlichen zeitlichen und ideologischen Distanz, die er mitbringt, muss er sich, gerade als Theatertext, auf seine Aktualität hin befragen lassen. Der Verfasser dieser Arbeit stellt diese Frage nicht ohne die Hoffnung, eine grundlegende Anschlussfähigkeit des Textes festzustellen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- I. „Daß ich nur schreibend über die Dinge komme!“
- Prozess 1 - Das Interview als Fortführung offener, prozessualer Textpraxis
- Prozess 2- Das fremde Material oder: der Dialog mit den Toten
- Prozess 3-Selbstbearbeitung
- Prozess 4 - Der Widerspruch ungebrochen auf die Bühne geworfen
- II. Ehrlos ehrlich – Ehrabschneider?
- 1. DDR als Material
- 2. Die, kritische Solidarität\" mit der DDR
- 3. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
- III. Geschichte
- 1. Der historisch-materialistische Gemischtwarenladen: Karl Marx
- 2. Der eilige Kunde: Die DDR
- Exkurs: Heiner Müller als Marxist wider Willen
- 3. Der unzufriedene Lehrling: Müller oder: Die Reklamation
- (I) Geschichte als Katastrophe oder Ein Trümmerhaufen
- (II) Gegen den Starrsinn
- (III) Der (alternative) historische Materialismus oder Konstruktives Eingedenken
- Einschub: Posthistoire und Stillstand
- (IV) Der Messianismus des historischen Materialismus und die Utopie
- (V) Die utopischste Kunst - das Theater
- Exkurs: Gespenster
- IV. Mythos
- 1. Mythos als diskursive gesellschaftliche Praxis
- 2. Zur Tradierung des Mythos in der Literatur
- 3. Die Mythenrezeption in der DDR im Anschluss an Karl Marx
- 4. Zu Heiner Müllers Mythenrezeption
- V.,,Philoktet\"
- 1. Die Forschung
- 2. Vorgänger und Verhältnisse
- 3. Der lange Weg durch die Produktion
- 4. Figuren(potenziale)
- (I) Neoptolemos
- (II) Philoktet
- (III) Odysseus
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit Heiner Müllers Theaterstück „Philoktet“ und untersucht dessen Aktualität und Bedeutung im Kontext von Müllers prozessualem Textverständnis und seinem Verhältnis zur Geschichte und zum Mythos. Sie analysiert das Stück als konstruktiv-erinnerndes Modell für den Umgang mit Geschichte und als Beispiel für Müllers mythisches Erfahrungs- und Denkmodell.
- Heiner Müllers Textverständnis und die Bedeutung des Interviews als Fortführung offener, prozessualer Textpraxis
- Die Rolle der DDR und des historischen Materialismus in Müllers Werk
- Die Rezeption des Mythos in Heiner Müllers Werk und die Bedeutung des Mythos als Denkmodus und Konfliktmodell
- Die Aktualität von Müllers „Philoktet“ im Kontext der heutigen Gesellschaft
- Die Analyse des Dramas „Philoktet“ als heuristisches (Kunst- und Denk-)Modell
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die zentrale These der Arbeit vor: die Modellhaftigkeit von „Philoktet“ bezieht sich sowohl auf die inhaltliche Ebene als auch auf die formale Gestaltung. Das erste Kapitel untersucht Heiner Müllers Textverständnis und zeigt die Bedeutung des Interviews als Fortführung offener, prozessualer Textpraxis auf. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Rolle der DDR und des historischen Materialismus in Müllers Werk. Das dritte Kapitel analysiert die Rezeption des Mythos in Heiner Müllers Werk und die Bedeutung des Mythos als Denkmodus und Konfliktmodell. Das vierte Kapitel untersucht die Aktualität von Müllers „Philoktet“ im Kontext der heutigen Gesellschaft. Das fünfte Kapitel analysiert das Drama „Philoktet“ als heuristisches (Kunst- und Denk-)Modell.
Schlüsselwörter
Heiner Müller, Philoktet, Theater, Geschichte, Mythos, DDR, historischer Materialismus, Textverständnis, Modellhaftigkeit, Aktualität, Rezeption, Tragödie, Prozessualität, Interview, Kunst, Denkmodell, Konfliktmodell, Erfahrung
- Citar trabajo
- Matthias Zimmermann (Autor), 2007, "Die Wunde immer noch". Zu Heiner Müllers Theater als konstruktiv-erinnerndem Umgang mit Geschichte im mythischen Erfahrungs- und Denkmodell, in Auseinandersetzung mit der Tragödie am Beispiel von "Philoktet", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/449137