Die Kindsmordproblematik und die Strafrechtsreform im 18. Jhd. im Kontext der "Kindermörderin"


Presentación (Redacción), 2003

13 Páginas, Calificación: 1,2


Extracto


Die Kindsmordproblematik und die Strafrechtsreform im 18. Jhd.

Dieses Referat soll versuchen, einen Einblick in die Hintergründe von Wagners „Kindermörderin“[1] zu geben. Warum war das Kindsmordmotiv ein so beliebtes in der deutschen Literatur des Sturm und Drang? Wie konnte es geschehen, dass der Kindesmord mit Wagner für mehr als ein Jahrhundert zum Paradigma der Tragödie wurde?

Einleitend ist zu sagen, dass im 18. Jahrhundert, mit der „Geburt des freien Menschen“[2] zusammenhängend, überall in Europa für ein menschenwürdigeres Dasein gekämpft wurde. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Kampfes ist dann eben auch das Streben nach einer milderen Strafrechtspflege. Nicht jeder europäische Staat beschränkte sich dabei jedoch auf die Fälle der Kindermörderinnen, die Interessen trifteten auseinander. So ging es in Frankreich um die ungerecht harte Bestrafung des Diebstahls oder in England um das schlechte Gefängniswesen. Wieso in Deutschland das Kindsmordmotiv? In ihm zeigt sich am deutlichsten die Gleichheit der Stoffe und Motive der Dichter des Sturm und Drangs. Denn nicht nur Wagner befasste sich mit diesem Motiv in seiner „Kindermörderin“, bei Goethe finden wir den Stoff in der „Gretchentragödie“[3], bei Lenz in seiner Erzählung „Zerbin oder die neuere Philosophie“[4], bei Schiller in seinem Gedicht „Die Kindesmörderin“[5]. Verwandte oder sehr ähnliche Stoffe finden sich bei Lenz im „Hofmeister“[6] und den „Soldaten“[7] oder bei Schubart in seinem Gedicht „Das schwangere Mädchen“[8], diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Fast alle diese Dichter betrieben juristische Studien und vertraten die Denkrichtung des Determinismus. Daher ist der Mensch von innen und außen vorherbestimmt, wonach dann auch Sünden und Verbrechen in einem milderen Licht erscheinen. Der Verbrecher handelt also in einem, von der Gesellschaft mitproduzierten, Wahn. Außerdem gaben die zahlreichen Hinrichtungen der damaligen Zeit den Ausschlag, man griff zur Feder, um seiner Entrüstung hierüber Luft zu machen. Dabei wirkten alle aufeinander ein, da sie in ständigem Briefkontakt standen, außerdem waren ihre Wohnorte nicht weit voneinander entfernt.

Die literarischen Stoffquellen für das Kindsmordmotiv waren a) das Puppenspiel, b) das Bänkelsängerlied und c) das Volkslied. Puppenspiel und Volkslied dürften bekannt sein, zum Bänkelsängerlied ist zu sagen, dass es sich hierbei um erschütternde Tagesereignisse handelt, die der Bänkelsänger, auf einer Bank stehend, wiedergibt. Dies geschah meist an öffentlich stark frequentierten Orten. Bei Wagner stößt man auf zwei literarische Quellen: Das Motiv des verabreichten Schlaftrunks entnahm er dem Volkslied, das Freudenhaus aus Richardsons Roman „Clarisse Harlowe“. Außerdem schien das Verbrechen geradezu ideal, um die Rückständigkeit der damaligen Verfassung und Justiz, sowie deren Grausamkeit zu verdeutlichen. Denn, nach den Vertretern Sturm und Drangs hat der Verführer die größte Schuld am Verbrechen und eben dieser läuft frei herum, wird niemals verurteilt werden.

Es muss betont werden, dass die Bewegung für eine mildere Strafrechtspflege vor allem von der literarischen Seite ausging, will man Juristisches erfahren, findet man viel zum Thema Kindsmord, jedoch wenig über die Bewegung für eine menschlichere Bestrafung desselben. Einiges kann man der Dissertation des Schweizers J. Wehrli, „Der Kindesmord“[9], entnehmen. Der erste, der die Strafrechtsbewegung in Verbindung mit der Literatur betrachtete war Erich Schmidt in seiner Wagner- Biografie[10].

Wenden wir uns nun dem ersten gossen Thema des Referates zu und betrachten wir die historische Seite des Themas:

Die Menschen leben in Armut, während an den meisten Fürstenhöfen der pure Luxus vorherrscht. Den Großteil der Steuern, um diesen Luxus zu bezahlen, gaben die Bauern und Bürger ab. Wie wir schon erfahren haben, waren die Offiziere und Soldaten damals besonders berüchtigt, sie waren zur Ehelosigkeit gezwungen. Somit stellten sie eine ständige „Gefahr“ für die Bürgerstöchter dar, zumal sie ja auch bei bürgerlichen Familien einquartiert wurden, denn Kasernen existierten noch nicht.

Friedrich der Große beschrieb die damalige Zeit so:

„Edelleute und Bauern waren geplündert, gebrandschatzt, ausgezehrt worden von soviel verschiedenen Heeren, derart, dass ihnen nur das nackte Leben und elende Lumpen geblieben waren, um ihre Blöße zu bedecken. Kein Kredit, um auch nur für die täglichen Bedürfnisse aufzukommen, die die Natur erheischt; keine Polizei mehr in den Städten: an Stelle des Geistes der Billigkeit und der Ordnung war niedrige Selbstsucht und anarchische Selbsthilfe getreten; Finanzkammern und Gerichte hatten die Arbeit einstellen müssen bei dem häufigen Einbruch so vieler Feinde; das schweigen der Gesetzte hatte im Volk die Lust an der Ausschweifung entfesselt und daraus war eine allgemeine Jagd nach Gewinn um jeden Preis entstanden: der Edelmann, der Bauer, der Pächter, der Kaufmann, der Fabrikant, alle steigerten den Preis ihrer Werte und Waren nach belieben und schienen nur zu arbeiten auf ihren gegenseitigen Ruin.“[11]

Die damalige Strafrechtspflege erfüllte eine Doppelrolle: Einerseits war sie Vergeltung für das ausgeübte Verbrechen, eine Art Rache im Namen des Volkes, andererseits sollte sie vor allem abschreckend wirken und musste daher besonders hart und grausam ausfallen. An eine Art Rehabilitation des Verbrechers im heutigen Sinne wurde damals nicht gedacht. Die Todesstrafe war alltäglich:

„Mit den hinzutretenden Verschärfungen nahm die Hinrichtung folgenden Lauf: nachdem der Delinquent die ordentliche und außerordentliche Folter erduldet und sodann öffentliche Kirchenbuße geleistet hatte, wurde er im Hemde auf einem Karren zum Richtplatz geführt. Dort angelangt wurde er auf einem drei bis vier Fuß hohen Schafott, welches den zur Hinrichtung erforderlichen Pferden Platz bieten musste, auf dem Rücken liegend, mit eisernen Fesseln angebunden. Die Waffe, mit der er sein Verbrechen begangen hatte, wurde ihm in die Hand gegeben und diese mit Schwefel abgebrannt. Dann riß man ihm mittels Zangen Stücke Fleisch aus der Brust, den Armen und den Schenkeln und träufelte eine Mischung von flüssigem Blei, Öl, Pech, Wachs und Schwefel in die Wunden. Hierauf band man um seine Arme und Beine Stricke, deren Ende an die Pferde befestigt wurden, die ihn auseinander reißen sollten. Anfangs ließ man diese Pferde nur mit geringer Kraft, dann aber mit aller Gewalt ziehen. Leisteten die Bänder und Kapseln der Gelenke zu großen Widerstand, so wurden sie durchschnitten. Schließlich schleppte jedes der vier Pferde ein Glied des Unglücklichen fort, dessen Rumpf in einen brennenden Holzstoß geworfen wurde. Die Asche wurde in alle Winde zerstreut.“[12] Dies ist zwar eine Beschreibung der Todesstrafe in Frankreich, sie lief jedoch in Deutschland ganz ähnlich ab.

Wie genau wurde der Kindmord bestraft? Was waren seine Ursachen?

Heute unterscheidet man drei verschiedene Formen der Kindstötung:

a) psychotische Störungen der Mutter nach der Geburt
b) Der Mord aufgrund von sexuellen Besitzwünschen, Eifersucht gegen den sexuellen Partner (Medea- Mord)
c) Kindsmord aus Besorgtheit um die Zukunft des Opfers

Der Kindesmord ist im 18. Jh. ein häufiges Ereignis:

Pestalozzi schreibt in „Über Gesetzgebung und Kindermord“: „Verhüll dein Angesicht, Jahrhundert! Beug dich nieder, Europa! Von deinen Richterstühlen erscheint die Antwort: Zu Tausenden werden meine Kinder von der Hand der Gebärenden erschlagen.“[13]

Die Ursachen sind natürlich immer ein Stück von der Persönlichkeit der Frau abhängig, die den Kindesmord begeht. Jedoch lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken. Im oben genannten Werk nennt Pestalozzi beispielsweise „die acht Quellen des Kindesmordes“:

- Die Untreue und der Betrug verführender Jünglinge
- Die Strafen, die auf Unzucht stehen
- Die Armut
- Die Umstände der dienenden Schloss- und Stadtmädchen
- Die Furcht vor unvernünftigen Eltern, Vormünden, Verwandten
- „Heuchlerischer Ehrbarkeitsschnitt“
- Die inneren und äußeren Folgen der früheren „Laster“
- Die äußeren Umstände der Mädchen während der Geburtsstunde

Er verweist noch auf weitere Komponenten, die da wären: Die Furcht vor der Schande, der Einfluss der zur Ehelosigkeit verdammten Soldaten, die nicht eingehaltenen Eheversprechungen.

Die Geschichte der Bestrafung des Kindesmordes ist lang und grausam und beginnt bei den Römern: Hier hatte der Vater zwar das Recht, Kraft der patria potestas frei über Leben und Tod seines Kindes zu entscheiden, aber Kindstötung seitens der Mutter wurde mit der „Lex Cornelia de sicariis“ bestraft. Kindsmord im Sinn der „Kindermörderin“ war jedoch dem römischen Gesetz völlig fremd.

In bekannten früheren Rechtsbüchern (Sachsenspiegel, Deutschenspiegel, Schwabenspiegel) wird der Begriff nicht erwähnt, jedoch war er bekannt. Der unehelichen Mutter wurde bereits die Todesstrafe angekündigt.

Im Laufe der Zeit verhärtete sich die Bestrafung immer mehr, im ausgehenden Mittelalter werden die Kindermörderinnen lebendig begraben oder gepfählt[14].

Erstmalig erwähnt wird der Kindesmord in der Carolina, dem „peinlichen Halsgericht Karls V. Hier findet sich eine geregelte Bestrafung, was nicht bedeutet, sie wäre milder. Der Kindesmord wird in den § 35, 36 und 131 behandelt: „„Item wellichs weip Jr kindt, das leben und glidmass empfanngenn het, heimlicher bosshafftiger williger weise ertodet, Die werdenn gewonlich lebendig begrapen und gepfaelet. Aber darinnen Verzweiffelung zuverhuüetten, Mogen dieselbigen vbellthaterin jnn wellichem gericht diie bequemlichkeit des wassers darzu vorhandenn ist, ertrenckt zu werden. wa aber sollich vbel offt geschehe, Wollen wir die gemellte gewonheit des vergrabens vnnd pafahlens umb merrer forcht willen, sollicher bosshafftigen weiber auch zulassen, oder aber das vor dem erdrenkcen die vbellthaterinn mitt gluehdnen Zangen gerissenw erde, Alles nach rat der Rechtverstenndiegen.“[15]

Das „Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts“ von Joh. Anselm Feuerbach definiert:

„Kindesmord (infanticidium) ist die von einer Mutter, nach vorgängiger Verheimlichung der Schwangerschaft, an ihrem neugeborenen, lebensfähigen, unehelichen Kinde begangene Tötung.“[16]

Demnach gehören folgende Merkmale zum Delikt:

a) außereheliche Zeugung und Geburt des Kindes,
b) das Leben des Kindes nach der Geburt,
c) die Fähigkeit des Kindes zum Fortleben,
d) eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung der Mutter gegenüber dem Kinde, welche
e) während oder kurz nach der Geburt erfolgt,
f) die Verheimlichung der Schwangerschaft als Kriterium der Vorsätzlichkeit.

Nach Feuerbach kommt dem Kindesmord, gegenüber dem üblichen Verwandtenmord (parricidium) eine mildere Bestrafung zu, wegen besonderer Motive, die sich aus der Unehelichkeit ergeben, und wegen der verbreiteten Vorstellung von dem Neugeborenen als einem noch unselbstständigen Wesen.

Die Schwere der Strafen ist begründet durch die religiöse Auffassung, dem Kind werde die Taufe versagt und durch das Schutzbedürfnis der Familie als Rechtsinstitution. Während der Verhandlung sind keine Zeugen zugelassen, daher wird die Angeklagte oft zu der Aussage gezwungen, sie habe das Kind nicht bereits tot geboren, sondern erst nach der Geburt getötet. Nach französischem Recht genügte die Verheimlichung der Schwangerschaft und der Niederkunft als Tatbestand.

Beispielhaft ist der Fall der Maria Sophia Leypold, Metzgerstochter aus der Vogtei Hagnau. Sie hatte im siebten Monat ihrer Schwangerschaft (von der sie noch nichts wusste) ein totes Kind geboren und wurde 1775 zum Tod durchs Schwert verurteilt. 1776 wurde sie zu lebenslang begnadigt, aber erst 1788 entlassen. Dieser Fall bildet den historischen Anlass zu Wagners Drama.

[...]


[1] Die Kindermörderin. Hrsg. u. bearbeitet v. Josef Ettlinger. Mit einer Einleitung und einem Bildes des Dichters. Halle a. S.: Otto Hendel 1904. ( = Bibliothek der Gesamtliteratur des In- und Auslandes, Nr. 1816)

[2] Rameckers, Jan Mathies: Der Kindesmord in der Literatur der Sturm- und- Drang- Periode. Rotterdam 1927.

[3] Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt nach der Göchhausenschen Abschrift, hrsg. v. Erich Schmidt. Weimar ³1894.

[4] Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Schriften. Hrsg. v. Britta Titel. Stuttgart: Goverts 1966.

[5] Schiller, Friedrich: Gedichte/Dramen. Hrsg. v. Gerhard Fricke und H.G. Göpfert. München: Hauser 1965.

[6] Blei (Hg.): Lenz, Gesammelte Schriften. Weimar 1909

[7] ebd.

[8] Schubart, Christian Friedrich Daniel: Sämtliche Gedichte. Frankfurt a.M. 1825.

[9] Wehrli, J. : Der Kindesmord. Frauenfeld: 1889.

[10] Schmidt, Erich: Heinrich Leopold Wagner. Goethes Jugendgenosse. Jena 1879.

[11] Oncken: Das Zeitalter Friedrichs des Großen

[12] Hertz: Voltaire und die französische Rechtspflege im 18. Jahrhundert, S.8.

[13] Pestalozzi: Über Gesetzgebung und Kindermord. Hrsg. v. K. Wilker, S. 81-120.

[14] Pfählen: Die verurteilte wurde bis zum Hals mit Erde/Dornengestrüpp zugedeckt, dann wurde ein spitzer Pfahl in die Gegend des Herzens gestochen.

[15] Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls des V. Constitutio Criminalis Carolina. Hrsg. v. J. Kohler und W. Scheel. Aalen 1968.

[16] 14. Aufl. hrsg. v. K.J.A. Mittermeier, Giessen 1857, § 236.

Final del extracto de 13 páginas

Detalles

Título
Die Kindsmordproblematik und die Strafrechtsreform im 18. Jhd. im Kontext der "Kindermörderin"
Universidad
University of Marburg
Calificación
1,2
Autor
Año
2003
Páginas
13
No. de catálogo
V45128
ISBN (Ebook)
9783638425865
ISBN (Libro)
9783638929875
Tamaño de fichero
725 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Kindsmordproblematik, Strafrechtsreform, Kontext, Kindermörderin, Kindsmord, Sturm und Drang, Wagner
Citar trabajo
Nadine Merten (Autor), 2003, Die Kindsmordproblematik und die Strafrechtsreform im 18. Jhd. im Kontext der "Kindermörderin", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45128

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