Die Entwicklung interkultureller Kompetenzen in der Schule. Die Bedeutung der Multiperspektivität

Ein Unterrichtsentwurf anhand des Kinderbuchs "Das Mädchen Wadjda"


Thèse de Bachelor, 2016

72 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Abstract

2 Einleitung
2.1 Fragestellungen und Ziele
2.2 BaobabBooks
2.2.1 Entstehung
2.2.2 Werte und Ziele
2.3 Kolibri
2.4 BuchBesuch

3 Buchauswahl
3.1 Auswahlmbglichkeiten fur den BuchBesuch
3.2 ,,Das Madchen Wadjda“
3.2.1 Inhaltsangabe
3.2.2 Hintergrunde
3.3 BegrundungderWahl
3.4 Welches Potential in Bezug auf die Ziele des BuchBesuchs bietet„Wadjda“?

4 Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen
4.1 Was sind interkulturelle Kompetenzen?
4.1.1 Definition Kultur
4.1.2 Definition Interkulturalitat
4.1.3 Definition interkulturelle Kompetenz
4.1.4 Ebenen der interkulturellen Kompetenz nach Eicke & Zeugin
4.1.5 Entwicklungsmodell zur interkulturellen Kompetenz nach Bennett & Bennett
4.1.6 Fazit und Ausblick
4.2 Identifikation
4.2.1 Definition Identifikation
4.2.2 Identifikation, Empathie und Perspektivenwechsel
4.3 Multiperspektivitat
4.3.1 Definition Multiperspektivitat
4.3.2 Multiperspektivitat als Voraussetzung zur Entwicklung interkultureller
Kompetenzen im Literaturunterricht
4.4 Inwiefern stehen interkulturelle Kompetenzen, Identifikation, Empathie
und Multiperspektivitat in Verbindung zueinander?
4.5 Didaktische Methoden zur Entwicklung interkultureller
Kompetenzen im Literaturunterricht
4.5.1 Unterrichtsmethoden
4.5.2 Adaption auf den BuchBesuch

5 Der BuchBesuch
5.1 Lernziele
5.1.1 Interkulturelle Kompetenzen im Lehrplan
5.1.2 Lernziele des BuchBesuchs
5.2 Exkurs: Leseanimation
5.3 Planung der Unterrichtseinheit
5.4 Erste Durchfuhrung des BuchBesuchs
5.4.1 ErsteVerlaufsplanung
5.4.2 Evaluation und Anpassungen
5.5 Zweite Durchfuhrung des BuchBesuchs
5.5.1 Angepasste Verlaufsplanung
5.5.2 Evaluation und Anpassungen
5.6 Definitive Verlaufsplanung fur den BuchBesuch

6 Reflexion des Arbeitsprozesses

7 Zusammenfassung

8 Literatur- und Quellenverzeichnis
8.1 Literaturverzeichnis
8.2 Abbildungsverzeichnis
8.3 Internetquellen

9 Anhang
9.1 Formular Buchjury
9.2 Unterrichtsmaterial
9.3 Fotos vom BuchBesuch
9.4 Handout Presentation BuchBesuch

1 Abstract

Die heutige demographische Situation und kulturelle Vielfalt der Schweiz spiegeln sich auch in den Schweizer Schulen wider. Diese Interkulturalitat im Klassenzimmer stellt sowohl die Schulerinnen und Schuler als auch das Lehrpersonal vor kommuni- kative Herausforderungen und die Notwendigkeit eines toleranten Umgangs. Um ei- ne moglichst produktive Lernatmosphare zu schaffen, die von Akzeptanz der unter- schiedlichen Kulturen gepragt ist, ist es notwendig, sich dieser Interkulturalitat in ver- schiedenen Ebenen anzunehmen. Eine dieser Ebenen in diesem Zusammenhang sind die interkulturellen Kompetenzen, die im Umgang mit der Interkulturalitat essen- tiell sind. Aus diesem Grund zielt die vorliegende Bachelorarbeit daraufab, herauszu- finden, wie die Entwicklung interkultureller Kompetenzen bereits bei Schulerinnen und Schulern der Primarstufe gefbrdert werden kann.

Ausgehend von dieser Betrachtungsweise, wurde anhand einer theoretischen Ausei- nandersetzung die Relevanz der Multiperspektivitat in der Entwicklung interkultureller Kompetenzen als bedeutend und essentiell deklariert. Ferner wurde diese mit ande- ren Fahigkeiten wie Empathie und Identifikation verglichen und von diesen abge- grenzt.

Diese Befunde leiten sich aus der verwendeten Literatur sowie dem Entwicklungs- modell zur interkulturellen Kompetenz nach Bennett & Bennett (2014) ab und wurden anhand von zwei Probelaufen des BuchBesuchs zum Kinderbuch ,,Das Madchen Wadjda“ in einer Basler Primarklasse (4. Klasse) in die Praxis umgesetzt. Das Ziel war es, einen Leitfaden fur zukunftige BuchBesuche zu entwickeln, bei der interkultu- relle Kompetenzen bei Schulerinnen und Schulern gefbrdertwerden.

Die theoretische sowie auch die praktische Auseinandersetzung mit der Fbrderung der interkulturellen Kompetenzen bei Schulerinnen und Schulern in der Primarschule zeigt, dass diese durchaus in der Lage sind, sich mit mehreren (fiktiven) Personen aus einer anderen und ihnen fremden Kultur zu identifizieren, was einerseits die Fa- higkeit zur Multiperspektivitat im Kindesalter beweist und andererseits diese als rele­vant im Zusammenhang mit der interkulturellen Interaktion und Kompetenz einzustu- fen ist.

Zukunftig werden interkulturelle Kompetenzen nicht nur im Schulkontext, sondern auch im Beruf von grosser Bedeutung sein. Die heutige globale und stark vernetzte Welt setzt die Bereitschaft und die Fahigkeit zur interkulturellen Kommunikation vo- raus. Daher ist es empfehlenswert und notwendig, die Lernenden damit so fruh wie mbglich in Beruhrung zu bringen und bei ihnen die Fahigkeit zu fbrdern, sich mit an­deren Kulturen auseinanderzu setzen.

2 Einleitung

Die gesellschaftliche kulturelle Vielfalt spiegelt sich nicht nur in der Zusammenset- zung der Wohnbevolkerung eines Landes, sondern auch in dessen Schulen wider. In den Jahren 2013/2014 waren im Durchschnitt 29.3 % der Schulerinnen und Schuler der obligatorischen Schulen der Schweiz fremdsprachig, d.h. die Muttersprache die- ser Kinder stimmte nicht mit der allgemeinen Unterrichtssprache uberein. Ferner wa­ren 25.6 % aller Kinder, die die obligatorische Schule besuchten, Auslander (Bun- desamt fur Statistik, 2016). Diese Interkulturalitat stellt viele Herausforderungen fur die Lernatmosphare sowie den Lernprozess der Schuler dar und zeigt die Notwen- digkeit, sich mit dem Thema Interkulturalitat starker auseinanderzusetzen.

Der in Basel ansassige Verlag Baobab Books nimmt sich dieser Gegebenheit an und publiziert interkulturelle Kinderliteratur. Eines dieser Bucher ist die Grundlage fur den BuchBesuch, einem Projekt, das Schulerinnen und Schulern der Primarstufe auf pra- xisnaher Ebene die kulturelle Mannigfaltigkeit der heutigen globalen Gesellschaft na- herbringt. Hierbei spielen interkulturelle Kompetenzen eine wichtige Rolle, die es ln- dividuen ermbglichen, neuen Kulturen offen zu begegnen, diese kennenzulernen so­wie ein gemeinsames Zusammenleben zu ermbglichen.

2.1 Fragestellungen und Ziele

Die vorliegende Arbeit wird zunachst aus theoretischer Sicht beleuchten, wie die Entwicklung interkultureller Kompetenzen bei Schulerinnen und Schulern im Rahmen des interkulturellen Literaturunterrichts gefbrdert werden kann. In einem zweiten Schritt werden diese theoretischen Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt und auf ihre Validitat uberpruft. Als Instrument hierfur soil der diesjahrige BuchBesuch fungieren. Die Fragestellungen dieser Bachelorarbeit prasentieren sich dementsprechend wie folgt:

- Wie kbnnen die interkulturellen Kompetenzen bei Schulerinnen und Schulern ge- fbrdert werden?
- Welche Bedeutung ist der Fahigkeit der Multiperspektivitat in der Entwicklung interkultureller Kompetenzen beizumessen?
- Wie kbnnen die gewonnenen theoretischen Erkenntnisse anhand einer Unter richtseinheit zu einem interkulturellen Kinderbuch in die Praxis umgesetzt werden?

Zunachst werden einleitend der Verlag Baobab Books, das Projekt BuchBesuch so­wie das Kinderbuch ,,Das Madchen Wadjda“ vorgestellt.

Kapitel 4 beinhaltet die theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik in Form von Definitionen grundlegender Begriffe zum Themenkreis ..interkulturelle Kompeten­zen". Das funfte Kapitel widmet sich der Planung und Durchfuhrung des BuchBe- suchs zum ausgewahlten Kinderbuch unter Berucksichtigung des theoretischen Kontexts. Die Arbeit schliesst mit der kritischen Reflexion des Arbeitsprozesses ab.

2.2 Baobab Books

2.2.1 Entstehung

Abbildung in dieer Leseprobe nicht enthalten

Die heutige Gesellschaft unterliegt in ihrer globalen Form Veranderungen und zeichnet sich durch ihre Vielfalt aus. Genau dieser Gegebenheit nimmt sich der in Basel an- sassige Verein Baobab Books als Fachstelle zur F5rde- rung der kulturellen Vielfalt in der (interkulturellen) Kinder- und Jugendliteratur an. Das Medium Buch dient in diesem Zusammenhang als wichtiges Instrument zur differenzier- ten Vermittlung gesellschaftlicher Werte in einer Welt, in der sich viele unterschiedliche Kulturen vermischen. Passend dazu, fungiert der afri- kanische Affenbrotbaum Baobab als Symbol des Vereins, in dessen Schatten sich die Menschen wahrend vieler Generationen Geschichten erzahlen und Legenden ubermitteln.

Baobab Books entspringt der im Jahre 1968 gegrundeten Erklarung von Bern (EvB), dessen Mitarbeitende festgestellt hatten, dass in der hiesigen Literaturlandschaft kaum Kinderbucher auslandischer Autoren vertreten waren. Zudem bestand ein all- gemein einseitiges Bild auslandischer Bucher, was zur Grundung einer Arbeitsgrup- pe fur auslandische Kinder- und Jugendliteratur fuhrte. Die erste Literaturempfeh- lungsliste wurde im Jahre 1975 publiziert und alle zwei Jahre aktualisiert. Dieses Empfehlungsverzeichnis, das diverse Genres wie z.B. Graphic Novels, Lehrmittel Oder Hbrbucher enthielt, wurde spater unter dem Titel Fremde Welten von Baobab Books herausgegeben. Seit 1989 sind die EdV und terre des hommes Schweiz die gemeinsamen Trager der inzwischen neu uberfuhrten Fachstelle Kinderbuchfonds Baobab. Ein Jahr spater erschien das erste Buch in der Reihe Baobab. Bis heute erscheinen bei Baobab Books ins Deutsche ubersetzte Bucher von Autorinnen und Autoren, lllustratorinnen und lllustratoren aus Asien, Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten.

Seit 2011 besteht Baobab Books als selbstandiger und gemeinnutziger Verein und wird durch Spenden bffentlicher und privater Hand sowie durch Gbnnerbeitrage fi- nanziert.

2.2.2 Werte und Ziele 1

1 Der respektvolle Umgang mit Menschen anderer Herkunft und Glaubensrichtung so­wie die Chancengleichheit sind wichtige Schlusselbegriffe in der heutigen globalen Welt, die ein friedliches und harmonisches Leben ermbglichen. Die folgenden von Baobab Books vertretenen Werte machen dies deutlich:

- Wertevielfalt: Empfehlung und Fbrderung des „Fremden“ in Bucherform.
- Gleichwertigkeit: Fbrderung von Buchern, in denen vermeintlich schwache Personen mit einer starken Persbnlichkeit im Zentrum stehen und sich gegen die hbheren Gesellschaftsschichten behaupten.
- Respekt: Fbrderung der respektvollen Darstellung von anderen Kulturen und Ethnien und von Individuen unterschiedlichen Charakters.
- Dialog: Fbrderung des Dialogs und des Respekts zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften.
- Nachhaltigkeit Faire Prinzipien im wirtschaftlichen Handeln und in der 5kolo- gischen Produktion.

Baobab Books verfolgt klar definierte Ziele und halt den Fokus stets auf die kulturelle Vielfalt in literarischer Form:

- Vielfalt in der Kinder- und Jugendliteratur: Fbrderung der interkulturellen Kinder- und Jugendliteraturdurch u.a. Projekte, Publikationen und Dialoge.
- Forderung der Lesekompetenz: Steigerung der Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen durch das vielfaltige Literaturangebot. Besonders Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch kbnnen persbnliche Verbindungen ge- nerieren und sich mit interkultureller Literatur auf Deutsch auseinandersetzen.
- Vermittlung authentischer Stimmen: Autorinnen und Autoren aus aller Welt sind bei Baobab Books vertreten. Dadurch entsteht eine authentische Verbin- dung zwischen beiden Seiten und ein realistischer Einblick in eine andere Kul- tur wird ermbglicht.
- Vernetzung der Akteure: Es werden Brucken zwischen der Lesefbrderung einerseits und dem interkulturellen Dialog andererseits geschlagen. Neben der Weiterbildung von Fachkraften setzt sich Baobab Books auch fur die Lesefbr- derung im Allgemeinen und die Integration ein.

2.3 Kolibri

Das Leseverzeichnis „Kolibri“, das von Baobab Books publiziert wird, beinhaltet Buchempfehlungen die die oben genannten Werte und Ziele von Baobab Books be- rucksichtigt. Aus zahlreichen Neuerscheinungen in der Kategorie Kinder- und Jun- gendbucher werden ausgewahlte Werke durch die Lesegruppen von Baobab Books in die Liste der Leseempfehlungen aufgenommen.

Im aktuellen Verzeichnis (2015/2016) werden 50 Kinder- Jugendbucher zur Lekture empfohlen, die den folgenden Kriterien entsprechen:

Die Publikation

.. .vermittelt eine Vielfalt der Werte

...stellt verschiedene Gesellschaften und Schichten als gleichwertig dar.

...stellt andere Kulturen und Ethnien respektvoll dar mit dem Anspruch, dass die Menschen als Individuen mit eigenen Gedanken, Gefuhlen und Fahigkeiten angese- hen werden.

...stellt einen Dialog zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen her.

Die Mitglieder der Lesegruppen orientieren sich wahrend der Lekture der Neuer- scheinungen einerseits an den oben genannten Kriterien und andererseits an einem ausfuhrlichen Fragenkatalog, derer wiederum eng mit den Werten und Zielen von Baobab Books verknupft ist.

Dabei kommt „Kolibri“ als Vermittlungsinstrument zwischen diversen Kulturen eine grosse Bedeutung zu, das fur diesen Kontext wichtige Themen, wie z.B. kulturelle Identitat, interkulturelles Zusammenleben, globale Zusammenhange, Rassismus, Migration und Konflikte zwischen den Kulturen thematisiert. Aufgrund dieser Bedeut- samkeit von „Kolibri“ stellt es eine Grundlage fur die vorliegende Arbeit dar und ist ein wichtiges Mittel zur Einschatzung, welches der empfohlenen Publikationen zur Ubermittlung von interkulturellen Kompetenzen geeignet ist (s. Kapitel 4). Einige Bu­cher aus dem Empfehlungsverzeichnis bilden eine Grundlage fur den BuchBesuch, der im folgenden Kapitel naher erlautert wird.

2.4 BuchBesuch

In Kooperation mit der Padagogische Hochschule FNHW bietet Baobab Books Pri- marschulklassen das Projekt BuchBesuch an.

Analog zu den Werten, die der Verein vertritt, bringt dazu eine Leseanimatorin von Baobab Books eine Publikation aus dem Empfehlungsverzeichnis „Kolibri“ mit und ubermittelt anhand dessen interkulturelle Kompetenzen an die Kinder. Ziel des BuchBesuchs ist es, in Form einer Unterrichtssequenz (Doppellektion) den Lernen- den einerseits die Geschichte des Buches und andererseits damit verbundene The­men wie z.B. kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten naher zu bringen und sie zum Nachdenken uber unsere globale Welt zu bringen.

Der BuchBesuch stellt zudem den praktisch orientierten Teil der vorliegenden Arbeit dar: nach der Wahl des Kinderbuchs ,,Das Madchen Wadjda“ durch eine Lesegruppe von Baobab Books, wurde diese Publikation als Grundlage fur die daraufhin ausge- arbeitete Unterrichtseinheit zur Ubermittlung von interkulturellen Kompetenzen an eine Basler Schulklasse durch eine Leseanimatorin genutzt (s. Kapitel 3 zur Buch- auswahl).

3 Buchauswahl

Fur den BuchBesuch wahlt eine Jury von Baobab Books aus acht Publikationen eine aus. Zuvor erhielten die Jurymitglieder alle Bucher zur Lekture mit dem Ziel, einzu- schatzen, welches dieser Werke fur eine Doppellektion in einer Klasse der Mittelstufe geeignet sein kbnnte. Die Titel, die zur Auswahl standen, wurden dem Empfehlungs- verzeichnis Kolibri entnommen und von der Projektleiterin Cyrilla Gadient ausge- wahlt. Die Publikationen, die von der Buchjury bewertet wurden, werden im nachsten Kapitel naher vorgestellt.

In der Jurysitzung vom 27. Januar 2016 wurde schliesslich das Buch ,,Das Madchen Wadjda“ von der saudischen Autorin Hayfa Al Mansour als Grundlage fur den Buch­Besuch bestimmt.

3.1 Auswahlmoglichkeiten fur den BuchBesuch

Folgend eine Ubersicht der Bucher, die der Buchjury zur Auswahl standen und die bewertet wurden:

,,Der Feuerdieb - Ladron del Fuego“ von Ana Paula Ojeda und Juan Palomino (2015, ab 5 Jahren)

Mittels imposanter Bilder und einem begleitenden Text auf Deutsch und Spanisch wird der Mythos des Tlacuache, einem Opossum, erzahlt. In dieser alten mexikani- schen Sage geht das Opossum in die Berge, mit dem Ziel, den Gbttern das Feuer zu stehlen, urn das Licht in die Welt zu bringen, doch es kommt nicht ungestraft davon.

„Das Madchen Wadjda“ von Hayfa Al Mansour (2015, ab10 Jahren)

Dieser Titel ist die Grundlage fur die in Kapitel 5 behandelte Unterrichtseinheit und wird im Abschnitt 3.2 ,,Das Madchen Wajda" naher vorgestellt.

„Aufder richtigen Seite“ von William Sutcliffe (2014, ab 12 Jahren)

Ein Tunnel bringt das Leben von Joshua plotzlich durcheinander. Bis dahin fuhrt er ein ruhiges Leben mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in Amaria, einer kunstlich erschaffenen Siedlung, die von einer streng bewachten Mauer umgrenzt wird. Jo­shua weiss nicht, was sich genau hinter der Mauer abspielt. Er weiss nur, dass gros- se Gefahr auf der anderen Seite droht.

„Mein Vater, der Pirat“ von Davide Cali (2014, ab 8 Jahren)

Ein kleiner Junge erzahlt die Geschichte seines Vaters, der nur einmal im Jahr nach Hause kommt, denn er ist Pirat. Jedes Mai, wenn der Vater von seinen Abenteuern zuruckkehrt, erzahlt er ihm von seinen Piratenkollegen und den tobenden Seestur- men. Naturlich bringt er seinem Sohn immer ein Souvenir von seinen Reisen mit. Der kleine Junge bewundert den Mut seines Vaters und ist stolz auf ihn - bis der Vater einen Unfall hat und plotzlich herauskommt, dass er nie ein Pirat war.

„Der fliegende Dienstag“ von Muge Iplikgi (2013, ab 8 Jahren)

Die vertraumte Sibel lebt mit ihren Eltern und Geschwistern in der turkischen Gross- stadt Istanbul. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, fliegen zu kbnnen. Leider ist nicht viel Zeit fur Fantasien, denn das alljahrliche Zuckerfest steht an. Sibels Mutter muss da- her viele Besorgungen auf dem Wochenmarkt machen. Damit Sibel und ihre Ge- schwister in der hektischen Menschenmenge des Markts nicht verloren gehen, weist sie die Mutter an, an der abgemachten Stelle auf sie zu warten. Als Sibel sich frische Sesamkringel kaufen will, passiert das, was nicht passieren sollte: sie verirrt sich und findet ihre Mutter nicht mehr. Dank der Hilfe eines hilfsbereiten Verkaufers, einem Elektriker und einer alten Frau und nach einem kurzen Flug, findet Sibel schliesslich ihre Familie wieder.

„Vielleicht durfen wir bleiben“ von Ingeborg Kringeland Hald (2015, ab 12 Jah­ren)

Zusammen mit seiner Mutter und seinen jungeren Zwillingsschwestern flieht Albin als Sechsjahriger aus dem Kriegsgebiet Bosnien nach Norwegen, nachdem sein Vater getbtet wurde. Als der Familie die Abschiebung aus Norwegen droht, reisst Albin aus und versteckt sich im Kofferraum eines fremden Autos. Dieses gehbrt dem Grossva- ter der Schwestern Lisa und Amanda. Trotz aller Vorsicht, wird Albin von den Mad- chen „erwischt“, doch sie wollen ihm nur helfen, nachdem sie sein Gesicht in den Nachrichten erkannt haben.

„Der Traum von Olympia" von Reinhard Kleist (2015, ab 14 Jahren)

Diese Graphic Novel erzahlt die Geschichte der somalischen Sprinterin Sarnia Yusuf Omar, deren grbsster Wunsch die Teilnahme an den Olympischen Spielen in London ist, nachdem sie schon an der Olympiade 2008 in Peking fur ihr Land angetreten war. Weil sie aufgrund der Bedrohung durch islamistische Extremisten ihre Sportart in Somalia nicht ausuben kann, fasst sie den Entschluss, die Flucht nach Europa zu ergreifen. Vor und wahrend der Flucht dokumentiert sie ihre Erlebnisse in sozialen Netzwerken. Nach langen und schlimmen Strapazen ertrinkt sie im Jahre 2012 nach einem Bootsungluck im Alter von nur 21 Jahren im Mittelmeer.

„Die Geschichte von Malala" von Malala Yousafzai und Patricia McCormick (2014, ab 12 Jahren)

Malala ist erst funfzehn Jahre alt, als sie die Taliban auf ihrem Weg zur Schule durch einen Kopfschuss schwer verletzen. Sie wollten Malala tbten, weil sie sich fur das Recht der Madchen auf den Schulbesuch einsetzt. Zuvor verbieten die Taliban in Pakistan alien Madchen, zur Schule zu gehen. Malala uberlebt diesen Anschlag schwer verletzt und wird nach England gebracht, wo sie langsam ihre Genesung an- tritt. Was daraufhin folgt, ist ein beispielloser Kampf einer Jugendlichen fur das Recht auf Bildung, der unter anderem mit einem Friedensnobelpreis belohnt wurde.

3.2,,Das Madchen Wadjda"

Das Buch ,,Das Madchen Wadjda" wurde von der Jury von Baobab Book fur den BuchBesuch ausgewahlt und stellt die Grundlage des praktischen Teils der vorlie- genden Arbeit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 Buch Cover ,,Das Madchen Wadjda“

3.2.1 Inhaltsangabe

Die elfjahrige Wadjda (gesprochen: „Uadschda“) lebt zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Vater, der oft und lange berufsbedingt abwesend ist, im saudischen Riad. Ihr Nachbar Abdullah und sie liefern sich auf dem Schulweg immer wieder ein unfaires Wettrennen, denn Abdullah besitzt ein Fahrrad und Wadjda nicht. Fahrrader sind im streng islamischen Saudi-Arabien fur Madchen und Frauen verboten, doch fur die unbeirrbare Wadjda ist dies kein Grund, aufeines zu verzichten.

Auf dem Nachhauseweg sieht Wadjda ein grunes Fahrrad, dass sie gerne kaufen wurde. Trotz illegalem Kassetten- und Armbanderverkaufs in der Schule kann Wad­jda den hohen Preis von 800 Riyal nicht aufbringen. Auch die strenge Mutter verwei- gert ihr schockiert das Geld, da es fur ein Madchen in Saudi-Arabien verboten ist. Die einzige Lbsung fur Wadjda: der mit 1000 Riyal dotierte Koran-Wettbewerb an der Schule. Trotz mangelnder Koran-Kenntnisse, entschliesst sich Wadjda an dem Wett- bewerb teilzunehmen und fangt an zu lernen. Zu aller Uberraschung gewinnt sie, be- kommt allerdings das Preisgeld nicht. Als die Jury erfahrt, dass sie davon ein Fahrrad kaufen mbchte, spendet diese das Geld, da es fur Madchen verboten ist Fahrrad zu fahren. Da Wadjda sehr lange fur den Wettbewerb gelernt hat und sich ihren Traum nun endlich erfullen kbnnte, fallt ihr die Verweigerung verstandlicherweise sehr schwer. Zudem erfahrt sie, dass ihr Vater in der Zwischenzeit eine zweite Frau gehei- ratet hat. Das Buch endet damit, dass die in ihrem Stolz verletzte Mutter den Wunsch ihres einzigen Kindes doch noch erfullt und Wadjda das grune Fahrrad schenkt. Nun kann diejunge Kampferin Wadjda es endlich mit Abdullah aufnehmen.

3.2.2 Hintergrunde

Das Kinderbuch ,,Das Madchen Wadjda“ basiert auf dem im Jahr 2013 erschienenen gleichnamigen und mehrfach preisgekrbnten Film der saudischen Drehbuchautorin und Regisseurin Hayfa Al Mansour. Sowohl der Film als auch der Roman sind Erst- lingswerke Al Mansours, die in ihrer Heimat fur eine grosse Debatte gesorgt haben. Hayfa Al Mansour ist die erste Regisseurin im streng konservativ-islamischen K5nig- reich Saudi-Arabien, die zudem kontroverse und tabuisierte Themen wie beispiels- weise die westlichen Einflusse auf die saudische Gesellschaft behandelt (Brock- schmid, 2015).

Der Spielfilm wurde in Saudi-Arabien nicht nur in der Offentlichkeit diskutiert, sondern hatte auch konkrete Implikationen. In der Zwischenzeit ist es nun Frauen und Mad­chen gestattet in der Offentlichkeit Fahrrad zu fahren, wenn auch nur in Begleitung eines mannlichen Verwandten. „Der Film wird in Saudi-Arabien viel diskutiert und hat ein neues Gemeinschaftsgefuhl geschaffen. Das mit dem Fahrradfahren ist nur eine kleine Veranderung. Aber eine konkrete. Sie andert die Denkweise der Menschen. Es ist wichtig, auch kleine Schritte zu feiern, sie bereiten die grbsseren vor“, sagte Al Mansourdamals (vgl. Brockschmid, 2015).

Dieses Buch lehrt, dass es wichtig ist, sich bereits im Kindesalter mit solch kontro- versen Themen auseinanderzusetzten.

3.3 BegrundungderWahl

Bereits zu Beginn der Auswahl wurde die Vorstellung verfolgt, einen Titel auszuwah- len, der geeignet fur die Behandlung in einer Mittelstufenklasse (ca. 4. Oder 5. Klas- se) ist. Daruber hinaus wurde von der Leseanimatorin darauf geachtet, im Rahmen des BuchBesuchs nicht nur „negative“ Themen wie Krieg, Traumata, Flucht und Ge- walt als Grundlage fur die Unterrichtseinheit zu nehmen, sondern interkulturelle As- pekte im Fokus zu behalten, welche der Idee einer globalen und vernetzten Welt ge- recht werden.

Zunachst fiel die Wahl der Leseanimatorin auf „Der fliegende Dienstag" von Muge Ipligki, die in ihrem Buch das bunte und lebendige Treiben des turkischen Wochen- markts unter anderem in ansprechenden Bildern darstellt und den turkischen Basar als eine spannende kulturelle Reise darstellt. Da die Geschichte vor allem jungere Leserinnen und Leser anspricht und mit der avisierten Klassenstufe anspruchsvollere Inhalte behandeln werden sollten, wurde die Wahl geandert. Ausschlaggebend hier- fur war insbesondere die Jurysitzung, welche die Leseanimatorin dazu inspirierte, im Titel ,,Das Madchen Wadjda“ mehr zu sehen, als „nur“ ein Madchen, das gegen das Konservative in ihrem Leben ankampft. Zudem bot die Protagonistin des Buches sehr viel Identifikationsmbglichkeiten fur die auf das Buch aufbauende Unterrichts­einheit. Mbgliche Fragestellung dafur sind z.B. „was wurdest du an Wadjdas Stelle tun?“ Oder „Welche Hurden kbnnten Wadjdas Plan erschweren?“.

Daruber hinaus verknupft Al Mansouris Werk die strenge Religiositat von Wadjdas Umgebung sowie die modernen westlichen Einflusse in einem kleinen Madchen - eine geeignete Vorlage fur Aufgaben zur Multiperspektivitat und Identifikation.

3.4 Welches Potential in Bezug auf die Ziele des BuchBesuchs bietet „Wadjda“?

Diese Arbeit soil aufzeigen, welche Mbglichkeiten eine Lehrperson hat, ihren Schule- rinnen und Schulern im Rahmen des Literaturunterrichts die Entwicklung ihrer inter- kulturellen Kompetenzen zu fbrdern.2 Ein wichtiges Instrument zur Erreichung dieses Ziels ist unter anderem das Lesen von Geschichten, in denen fiktive Figuren eine Rolle spielen. Zu Recht betonen Gottschall (2012) und Bury (2013) die Relevanz von fiktiver Literatur und ihren Protagonisten. Nicht nur wird der Leser bzw. die Leserin von fingierten Personen emotional beeinflusst, sondern auch die Fahigkeit, andere Menschen zu verstehen und ihre Gefuhle nachzuvollziehen, wird profiliert (Gottschal, 2012).

Einfuhlungsvermbgen ist eine wichtige Komponente der Multiperspektivitat und somit eine Voraussetzung zur Akzeptanz und Toleranz anderer Kulturen (Sader, 2002). Insbesondere im Kindesalter ist es wichtig, diese mit interkulturellen Inhalten in Form von fiktiven literarischen Figuren aus anderen Kulturen zu konfrontieren und ihnen die Chance zu bieten, sich in diese Person hineinzuversetzen. In diesem Kontext darf jedoch die vertiefte Auseinandersetzung mit den Charakteren und der Geschichte im Literaturunterricht nicht fehlen, urn die zum Verstandnis der Handlung nbtigen Refle­xion in Gang zu bringen.

,,Das Madchen Wadjda“ bietet eine ideale Grundlage zur Auseinandersetzung mit den Themen interkulturelle Kompetenzen, Identifikation, Akzeptanz, Toleranz und Multiperspektivitat in einer Primarklasse. Die Lernenden kbnnen sich nicht nur in die Protagonistin Wadjda hineinversetzten, sondern auch in den Nachbarsjungen Abdul­lah sowie in die Mutter Oder die Rektorin. Daruber hinaus geht Al Mansouris Kinder- buch mit wichtigem kulturellem und religibsem Hintergrund zur arabischen Welt und der Weltreligion Islam einher. Viele in der Schweiz einheimische Kinder haben zwar muslimische Freunde, kennen oftmals jedoch ihren kulturellen Hintergrund nicht Oder sie sind fremden Kulturen und Religionen abgeneigt. Intoleranz gegenuber Anders- denkenden und Andersglaubigen ist eines der grossten Probleme in der heutigen globalen Welt (Sader, 2012: 13 sowie Holzbrecher, 2011: 13).

Der BuchBesuch von Baobab Books zielt darauf ab, der bestehenden gesellschaftli- chen Skepsis gegenuber dem Fremden entgegenzuwirken und kulturellen Inhalten eine Flache zu bieten. Bereits Primarschulerinnen und Primarschuler sollen sich so- wohl der kulturellen Vielfalt der Welt bewusst werden, sich fur andere Menschen und Lander interessieren als auch in der Lage sein, sich in andere Oder fiktive Personen hinein zu versetzten.

4.Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen

4.1 Was sind interkulturelle Kompetenzen?

Unter dem Begriff „Kompetenz“ wird im Allgemeinen die Fahigkeit verstanden, auf- grund von vorhandenem Wissen und gemachten Erfahrungen in einer Situation ada- quat und korrekt zu handeln (vgl. Eicke & Zeugin, 2007: 36 sowie Ringeisen et al., 2007: 10). Bezogen auf die diversen Kulturen, die in einer Gesellschaft vertreten sind, definieren Over et. al. die „interkulturelle Kompetenz" vor allem als das Verste- hen kultureller Einflusse auf individuelles Tun (2008: 65).

In diesem Kontext ist es wichtig, die weitraumigen Begriffe „Kultur“ und „interkultureN“ bzw. „lnterkulturalitat“ zu definieren. Dies ist insbesondere zur Verknupfung der Ziele des BuchBesuchs und der daraus resultierenden Unterrichtseinheit fur eine Primar- klasse relevant, da interkulturelle Kompetenzen auch im Lehrplan 21 vorgegeben sind.

4.1.1 Definition Kultur

Folgt man der Definition von Maletzke, sind Kulturen etwas typisch Menschliches, da gemass dieser Definition die Kultur eines von mehreren Merkmalen zur Unterschei- dung zwischen Mensch und Tier bzw. zur Natur ist (1996: 20 f.). Eicke und Zeugin fuhren Maletzkes Gedankengang weiter und betrachten die Kultur als Produkt menschlichen Handelns (2007: 13). Gemass Ringeisen et al. (2008: 9) definiert jede Gesellschaft fur sich Normen und Werte, deren Relevanz von den jeweiligen Mitglie- dern akzeptiert und weitergegeben wird, wie beispielsweise die Sprache.

Nicht nur die Sprache, sondern auch das menschliche Handeln und Denken werden zu einem erheblichen Teil durch die jeweiligen kulturellen Einflusse gesteuert. Dies ermbglicht es den Menschen, sich eine eigene Meinung zu bilden, Entscheidungen zu treffen, Emotionen in Worte zu fassen und sich allgemein als Individuum zu identi- fizieren (Eicke & Zeugin, 2007: 14). Daraus kann abgeleitet werden, dass die Kultur kein gleichmassiges Ganzes, sondern ein Teil des Menschlichen Seins ist (ebd.). Wahrend Maletzke, Eicke und Zeugin die Kultur auf die allgemeine Menschlichkeit ausweiten, differenziert Hofstede den Kulturbegriffwie folgt:

„Eine Kultur ist „die kollektive Programmierung des Geistes, welche die Mitglieder einer Gruppe Oder Kategorie von Menschen von anderen unterscheiden.“

(Hofstede, 1991)

Die Unterteilung der Menschen in Nationalitaten, Gesellschaften und Kulturen ist ei­ner der Grunde, weshalb es zu Konflikten zwischen diesen kommt (Buchwald, Rin­geisen, Vogelskamp & Teubert, 2008: 39; Over, Mienert, Grosch & Hany, 2008: 67 sowie L5ser, 2010: 55). Aus diesem Grund ist es wichtig, im Folgenden nicht von einem holistischen Kulturbegriff auszugehen, sondern von einem abschliessenden, der sich auf individuelle Gruppierungen bezieht. Diese Abgrenzung nimmt Williams (2003: 28 mit Bezug auf Over et al. 2010: 65 f.) vor, indem er den Abstraktionsgrad des Kulturbegriffs auf drei konkrete Ebenen herunterbricht, folglich in den „idealen“, den „dokumentarischen“ und den „sozialen“ Kulturbegriff.

Die als „ideal“ bezeichnete Kulturbestimmung umfasst die als kultiviert und perfektio- niert beschriebenen Werte eines Menschen in einer Gesellschaft. Auf „dokumentari- scher" Ebene sind die Produkte einer Vereinigung von Menschen mit der gleichen Oder ahnliche Kultur positioniert, wie beispielsweise die Musik, Literatur Oder die Kunst im Allgemeinen. Die dritte von Williams definierte Kulturebene, die „soziale“ Ebene, beinhaltet die Kultur als „Lebensart“ Oder ,,way of life" (vgl. Williams 2003). Hierbei spielen Normen und Werthaltungen der jeweiligen Kulturgemeinschaft eine tragende Rolle und uben einen entsprechenden Einfluss auf die Entwicklung dersel- ben aus. Die weiterfuhrenden Kapitel bauen auf dieser soeben genannten „sozialen“ Kulturebene auf und bilden eine Grundlage fur die weiteren Erlauterungen bezuglich derinterkulturellen Kompetenzen.

Erganzend zu Williams multipler Unterteilung des Kulturbegriffs, soil an dieser Stelle ein fur diese Arbeit grundlegender Zusammenhang zur Multiperspektivitat und Ak- zeptanz von „fremden“ Kulturen Oder Ethnien verdeutlicht werden. Der von Kalpaka und Rathzel (1994: 46) gepragte „dynamische Kulturbegriff" geht namlich davon aus, dass jeder Mensch per se veranderungs- und entwicklungsfahig ist - ein essentieller Aspekt der Fahigkeit, die Perspektive zu wechseln (Multiperspektivitat). Diese Fahig- keit wiederum ist eine Voraussetzung zur Erreichung der Akzeptanz von anderen Kulturen.

4.1.2 Definition Interkulturalitat

„Bei Interkulturalitat handelt es sich um einen gegenseitigen Verstandigungspro- zess von Personen, die verschiedenen Kulturen zugehorig sind und insofern nicht uber dieselben Wertorientierungen, Bedeutungssysteme und Wissensbestande verfugen.“

(Barmeyer, 2012)

Die lateinische Vorsilbe „inter“ bedeutet „zwischen“ und beschreibt treffend die Dy- namik dieses Begriffs. Mit Verweis auf die Definition des Kulturbegriffs in Kapitel 4.1.1 der vorliegenden Arbeit, ist hervorzuheben, dass dieser nicht statisch, sondern veranderbar ist (Hoerder, 1995: 62; Kalpaka & Rathzel, 1994: 46; Eicke & Zeugin: 2007: 14 sowie Jugert et al., 2014: 234). Die Veranderbarkeit des Kulturbegriffs ist mit einem Prozess vergleichbar, der sich zwischen zwei Oder mehreren Kulturen ab- spielt. Jugert et al. (2014: 234) sowie Yousefi & Braun (2011) definieren den Begriff „lnterkultur“ resp. ..Interkulturalitat" als Ereignis in einem selbst organisatorischen, reziproken Prozess. Dieser gemeinsame Lern- und Handlungsprozess wird durch die Interaktion und Kommunikation zwischen Beteiligten aus konzeptionell verschiede­nen Lebenswelten initiiert und entwickelt (Lebenswelt A und B).

Interkulturalitat ist demnach nicht statisch, sondern wird durch die Erzeugung der dritten Lebenswelt C permanent neu geschaffen. Hierbei entspricht die Lebenswelt C weder A noch B. Es entsteht eine neue Qualitat in Form einer Synergie, die sich we- der der Lebenswelt A noch der Lebenswelt B annahert (dazu Bolten, 2007).

Entgegen der heutigen Gebrauchlichkeit des Begriffs „lnterkulturalitat“, kritisieren Ei- cke & Zeugin (2007: 26 f.) diesen mit der Begrundung, dass er nicht mehr aktuell sei, sondern ein „Relikt“ der 1980/90er Jahre. Daruber hinaus basiere er auf einem tradi- tionellen Kulturbegriff, der noch Grenzen zwischen den in Interaktion stehenden Kul- turen ziehe. Das heutige Verstandnis von „lnterkultur“ bzw. „lnterkulturalitat“ ziele darauf ab, die Durchlassigkeit und Vernetzung zwischen verschiedenen Lebenswel- ten zu gewahrleisten, die Grenzen also auszublenden. Aus diesem Grund wird der Terminus „Transkulturalitat“ bevorzugt (vgl. ebd.).

Im Folgenden wird der Interkulturalitatsbegriff im Sinne der Interaktion und Kommu- nikation zwischen mehreren Kulturen bzw. Lebenswelten verwendet, wobei kein Au- genmerk auf Grenzen gelegt werden soil. Der Fokus soil primar auf die Verbindun- gen und den Kontakt zwischen den im Zentrum stehenden Kulturen liegen.

4.1.3 Definition interkulturelle Kompetenz

In der heutigen, in vielerlei Hinsicht vernetzten Gesellschaft ist es nicht nur in der Be- rufswelt, sondern auch im Bildungswesen wichtig, kulturelle Kompetenzen zu entwi- ckeln, urn Schulerinnen und Schuler auf diese vorzubereiten. Hierbei geht es darum, „Fahigkeiten und Fertigkeiten [...] fur einen gelingenden Umgang mit Menschen und Organisationen anderer Kulturen" (vgl. Over, Mienert, Grosch & Hany, 2008: 66) zu entwickeln und sich anzueignen.

Thomas' Definition der interkulturellen Kompetenz impliziert die eben genannten As- pekte und fuhrt diese weiter:

„lnterkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fahigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu wurdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenuber Inkompatibilitaten und einer Entwicklung hin zu synergietrachtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug aufWeltinterpretationen und Weltgestaltung.“

(Thomas, 2003: 39)

Gemass Thomas kann also unter dem Terminus ..interkulturelle Kompetenz" die Fa­higkeit verstanden werden, in Situationen, in denen Menschen verschiedener Kultu­ren und unterschiedlicher Herkunft beteiligt sind, angemessen zu handeln und zu kommunizieren (s.a. Eicke & Zeugin, 2007: 36 & Yousefi, 2014; 90).

Kumbruck & Derbhoven (2005: 6) stimmen Thomas und Yousefi insofern zu, dass sie die interkulturelle Kompetenz auch als eine Fahigkeit betrachten, die angeeignet werden kann. Diese wird von ihnen als soziale Kompetenz bezeichnet, die „sowohl die Sozialkompetenz im interkulturellen Kontext als auch die Interaktionsfahigkeit im kulturfremden Umfeld" (vgl. ebd.) beinhaltet. Eicke und Zeugin (2007: 37) sehen da­rin Schlusselkompetenzen, die besonders im Schul- und Bildungskontext gefbrdert werden sollten. Schlusselkompetenzen zeichnen sich dadurch aus, dass sie langfris- tig aktuell sind und sich aus mehreren Einzelkompetenzen zusammensetzen (ebd.).

4.1.4 Ebenen der interkulturellen Kompetenz nach Eicke & Zeugin

Wahrend Kumbruck & Derbhoven die interkulturelle Kompetenz direkt der Ebene der Sozialkompetenz zuordnen, unterteilen Eicke & Zeugin (2007: 38 ff.) die Einzelkom­petenzen der interkulturellen Kompetenzen auf vier Ebenen, wobei auch hier die Ebene der Sozialkompetenz vertreten ist (ausgewahlte Kompetenzen):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eicke & Zeugin (2007: 39) betonen, dass die oben ausgewahlten Kompetenzen in der Praxis nicht wie „Koordinaten auf einer Checkliste" (vgl. ebd.) erscheinen, son- dern ganzheitlich zu betrachten seien. Je nach Situation haben einzelne Kompeten­zen eine unterschiedliche Relevanz.

Laut Over et al. (2008: 66) und Weinert (2001) umfasst die interkulturelle Kompetenz im weiten Sinne vor allem sprachliche Kompetenzen, kommunikative Fertigkeiten und Strategies Kulturwissen im Allgemeinen und Spezifischen und dessen Anwen- dung in der konkreten Handlung.

Die folgende Darstellung fasst in einer weiteren Form die wichtigsten Kompetenzen im Hinblick aufdie interkulturelle Interaktion aufverschiedenen Ebenen zusammen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Folgenden sollen fur die weiteren Ausfuhrungen alle vier Ebenen der interkulturel­len Kompetenz nach Eicke & Zeugin als Grundlage dienen. Sie sind daruber hinaus ein integraler Bestandteil des Entwicklungsmodells gemass Bennett & Bennett (2004), das im folgenden Kapitel vorgestellt wird.

4.1.5 Entwicklungsmodell zur interkulturellen Kompetenz nach Bennett & Bennett

In Verbindung mit den im vorherigen Kapitel genannten Ebenen der interkulturellen Kompetenz, wird im Folgenden der in Phasen ausgedruckte Entwicklungsprozess einer solchen Kompetenz erlautert. Janet und Milton Bennett (1998 und 2004) defi- nieren sechs Phasen in der Entwicklung anhand des ..Development Model of Intercul- tural Sensitivity" (DMIS, auf Deutsch: „Entwicklungsmodell interkultureller Sensibili- tat“, EMIS). Diesem liegen jahrelange Beobachtungen von Menschen in interkulturel­ler Interaktion zu Grunde. Der Begriff „Sensibilitat“ ist in diesem Kontext mit „Kompe- tenz“ gleichzusetzen. Dieses Modell soil insbesondere im interkulturellen Unterricht als Orientierungshilfe fur die Lehrpersonen dienen, denn damit ist es einerseits m5g- lich, zu bestimmen, in welcher Entwicklungsphase einer Kompetenz sich die Lernen- den befinden und andererseits, welche weitere Phase angestrebt werden soil.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vom Ethnozentrismus ausgehend, durchlauft ein Individuum sechs Phasen, in denen er eine interkulturelle Kompetenz ausbildet, wobei die letzten drei Phasen sich be- reits im Stadium des Ethnorelativismus befinden. Unter „Ethnozentrismus“ wird der Glaube eines Individuums verstanden, das seine eigene Kultur als die einzig wahre Kultur versteht. Der Ethnorelativismus hingegen bildet das Gegenstuck zum Ethno­zentrismus, wobei hier davon ausgegangen wird, dass die eigene Kultur neben zahl- reichen anderen Kulturen koexistiert (vgl. hierzu den Begriff des „Polyzentrismus“ gemass Kuhlmann, 1995).

Die Entwicklung des Ethnozentrismus zum Ethnorelativismus wird in die im Folgen- den beschriebenen Phasen aufgeteilt:

1. Phase: Ablehnung/Verleugnung

In dieser ersten und extremsten Phase des Ethnozentrismus wird die Existenz ande- rer Kulturen neben der eigenen vollig abgelehnt und verleugnet. Ein Grund fur diese Haltung kann die fehlende Erfahrung mit anderen Kulturen und Ethnien sein Oder die radikale Einstellung, fur einen fremde Kulturkreise ganzlich zu ignorieren.

2. Phase: Abwehr/Verteidigung

Zwar wird in Phase 2 die Existenz anderer Kulturen anerkannt, jedoch unter Vorbe- halt in Form von Vorurteilen und Stereotypisierungen. Die eigene Kultur wird immer noch als die „der Wahrheit entsprechende" (vgl. Bennett & Bennett, 2014) angese- hen. Fremde Kulturen werden als Gefahr fur die Eigene betrachtet.

3. Phase: Minimierung

In dieser letzten Etappe der Ethnozentrierung wird die Abwehrhaltung gegenuber anderen minimiert. Andere Kulturen sind keine Bedrohung mehr und deren Angehb- rige werden als Existenz berechtigt anerkannt. Differenzen und Divergenzen werden unwichtig, dafur treten die Ahnlichkeiten zwischen zwei Kulturkreisen in den Vorder- grund. Gleichzeitig stellt die dritte Phase einen Ubergang von einem negativ geprag- ten Bild einer anderen Kultur in ein positives dar. Nichtsdestotrotz wird die eigene Kultur als zentral und universal angesehen und es wird davon ausgegangen, dass andere Kulturen der eigenen nachstreben. Fur den Ubertritt in den Ethnorelativismus fehltjedoch noch das Bewusstsein fur die eigene Kultur.

[...]


1 Leitbild Baobab Books.

2 Begriffserklarungen und Definitionen im Kapitel 4.

Fin de l'extrait de 72 pages

Résumé des informations

Titre
Die Entwicklung interkultureller Kompetenzen in der Schule. Die Bedeutung der Multiperspektivität
Sous-titre
Ein Unterrichtsentwurf anhand des Kinderbuchs "Das Mädchen Wadjda"
Note
1,0
Auteur
Année
2016
Pages
72
N° de catalogue
V451610
ISBN (ebook)
9783668865860
ISBN (Livre)
9783668865877
Langue
allemand
Annotations
Diese Bachelorarbeit wurde an der Pädagogischen Hochschule FHNW in Basel (Schweiz) abgegeben und bewertet. Sie entstand in Zusammenarbeit mit Baobab Books Basel.
Mots clés
interkultruelle Kompetenz, Multiperspektivität, Empathie, Kultur, Identität, Identifikation, interkulturelle Pädagogik, Interkulturalität, Baobab Books, Wadjda
Citation du texte
Admire Alihodzic-Zuberi (Auteur), 2016, Die Entwicklung interkultureller Kompetenzen in der Schule. Die Bedeutung der Multiperspektivität, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/451610

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