"Alle Sinne in Bewegung" - Bewegung und Wahrnehmung im Sportunterricht in der Grundschule


Epreuve d'examen, 2005

66 Pages, Note: 2


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Entwicklungstheoretische Grundlagen
2.1. Die kognitive Entwicklungstheorie
2.2. Die Gestaltkreistheorie

3. Die Bedeutung von Wahrnehmung und Bewegung für die Persönlichkeitsentwicklung
3.1. Kognitive Entwicklung
3.2 Soziale Entwicklung
3.3. Entwicklung des Selbst
3.4. Körperlich- gesundheitliche Entwicklung

4. Psychomotorische Grundlagen
4.1. Begriffsdefinition
4.2. Historie und Entwicklung in der Psychomotorik
4.3. Wahrnehmung und Bewegung als Grundkategorien in der Psychomotorik
4.4. Ziele und Inhalte in der Psychomotorik

5. Konzeptionelle Ansätze in der Psychomotorik
5.1. Die sensorische Integrationsbehandlung nach Jean Ayres
5.1.1. Die sensorische Integration
5.1.2. Neurophysiologische Grundlagen
5.1.3. Störungen der sensorischen Integration
5.1.4. Möglichkeiten zur Verbesserung der sensorischen Integration – Die sensorische Integrationsbehandlung
5.2. Die kindzentrierte psychomotorische Entwicklungsförderung nach Zimmer und Volkamer
5.2.1. Das Selbstkonzept
5.2.1.1. Die Entwicklung des Selbst
5.2.1.2. Selbstwirksamkeit
5.2.1.3. Erlernte Hilflosigkeit
5.2.1.4. Kausalattribuierung von Erfolg und Misserfolg
5.2.2. Möglichkeiten zur Veränderung eines negativen Selbstkonzepts
5.2.3. Die Bedeutung des Spiels
5.2.4. Allgemeine Prinzipien der kindzentrierten psychomotorischen Förderung
5.3. Vergleichende Auswertung der Ansätze

6. Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung im Sportunterricht in der Grundschule

7. Schluss

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Veränderungen der sozialen und ökologischen Umwelt haben dazu geführt, dass Kindern der aktive Umgang mit ihrer Lebenswelt immer mehr verwehrt wird.“[1]

In der sportwissenschaftlichen Literatur finden sich viele Beiträge zu einer „veränderten Kindheit“. Hier stellt sich also die Frage, wie sieht eine solche veränderte Kindheit aus, und welche Auswirkungen hat sie auf das Kind?

Charakteristisch für eine veränderte Kindheit ist der Rückgang der Straßenspielkultur. „Straßenkindheit“ scheint nach Zinnecker nicht mehr existent zu sein. „Die ehemals auf der Strasse spielenden Kinder sind weg, weg in verschiedenen, nach offizieller Planung verorteten, speziellen Räumen.“[2] Dieser Verlust natürlicher Spiel- und Bewegungsgelegenheiten und der Ersatz durch künstlich geschaffene Plätze zum Spielen ist ein typisches Merkmal unserer Zeit.[3] Oft grenzen diese Plätze an eine verkehrsreiche Strasse an, die für das Kind eine mögliche Gefährdung durch Abgase, oder durch den Verkehr selbst, darstellt. Deshalb entscheiden viele Eltern ihre Kinder lieber zuhause Spielen zu lassen.[4] Dies ist jedoch nur ein Grund für die zunehmende „Verhäuslichung“. Durch den Konsum der Medien werden viele für die Entwicklung des Kindes wichtige Aktivitäten verdrängt.[5] Betrachtet man die Alltagsgestaltung von Kindern, so fällt auf, dass diese meist im Sitzen vorm Fernseher oder PC verbracht wird. Ihre Sinnestätigkeit wird auf die akustische und visuelle Wahrnehmung beschränkt. Die körpernahen Sinne, die für die Erkenntnisgewinnung wichtig sind, werden nicht beansprucht.

Ein weiteres Charakteristikum für die heutige Kindheit ist die „Verinselung“ kindlicher Lebensräume, indem Kinder von einem Freizeitangebot zum nächsten chauffiert werden. Sie können keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Inseln erkennen und erleben ihren Alltag nicht als selbstbestimmbaren Freiraum, sondern als „Termingeschäft“.[6]

Auch die Monofunktionalität des Spielmaterials, das meist nur für einen bestimmten Zweck vorgesehen ist, lässt den Kindern wenige Möglichkeiten selbst etwas zu verändern und eigene Spielideen zu entwickeln.[7]

Doch warum werden diese veränderten Bedingungen so negativ dargestellt? Wie wirken sie sich auf die Kinder aus? Auch hierzu gibt es zahlreiche Beiträge. Scherer zeigt deutlich auf, dass aus dem vermehrten Medienkonsum eine zurückgehende körperliche Fitness resultiert. In einer Studie zum Bewegungsstatus von Kindern und Jugendlichen in Deutschland („WIAD- Studie“) wurde eine Verschlechterung der motorischen Fähigkeiten, im Vergleich zu Erhebungen aus den Jahren 1985 und 1995, festgestellt.[8] Auch zwischen Bewegungsmangel und Übergewicht bestehen enge Beziehungen. Die in muskulärer Aktivität verbrachten Stunden haben sich von 1986 bis 1995 in Deutschland um 36% vermindert. 17% der Brandenburger Grundschulkinder haben bereits Fettstoffwechselstörungen, 8-12% zeigten erhöhte Blutdruckwerte, dominierend als Folge von Übergewicht. Durch den Bewegungsmangel verschlechterten sich auch die Leistungen im Sportunterricht. Ein Vergleich der Ergebnisse der Bundesjugendspiele der Jahre 1995 und 1999 macht das deutlich. Während 1995 noch 6% der Schüler eine Urkunde erhielten waren es im Jahre 1999 nur noch 4%.[9] Neben den körperlich- gesundheitlichen Defiziten wirkt sich die Bewegungsarmut auch auf psychosomatische Persönlichkeitsbereiche des Kindes aus, so dass mehr als 60% über Kopfschmerzen klagen, mehr als 50% Konzentrationsschwierigkeiten und mehr als 40% Rückenschmerzen haben.[10] Es liegt also auf der Hand, dass sich die veränderten Entwicklungsbedingungen und der damit einhergehende Verlust von vielfältigen aktiven Erfahrungen auf die Gesamtpersönlichkeit des Kindes auswirken. Dieser Bedingungskomplex wird in der vorliegenden Arbeit näher beleuchtet und der Frage nachgegangen, welche Bedeutung Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung haben. Um diese Fragestellung in einen Gesamtrahmen einzuordnen und somit verständlicher darzustellen, werden in Kapitel 2 gängige Entwicklungstheorien dargestellt. Dabei soll gezeigt werde, wie sich das Kind seine Welt aneignet und ein Teil ihrer wird. Die Psychomotorik versucht über vielfältige Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen zur Stabilisierung der Gesamtpersönlichkeit beizutragen und motorische Schwächen und Störungen zu bearbeiten. Deshalb werden ihre Grundlagen in Kapitel 4 beschrieben. In Kapitel 5 sollen verschiedene konzeptionelle Ansätze der Psychomotorik dargestellt werden, wobei der sensorischen Integrationsbehandlung nach Jean Ayres und der kindzentrierten psychomotorische Förderung nach Zimmer und Volkamer besondere Beachtung geschenkt werden soll. Schließlich werden unter Punkt 6 die gewonnenen Erkenntnisse auf den Sportunterricht in der Grundschule übertragen.

2. Entwicklungstheoretische Grundlagen

Gegenstand der Entwicklungspsychologie ist es, „Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, nach denen sich das Verhalten des Menschen sowie seine Denkformen, seine Wahrnehmung, seine Haltungen und Einstellungen, aber auch seine Leistungen im Laufe des Lebens verändern.“[11] Um diesen Gegenstand zu bearbeiten gibt es nicht eine geschlossene, allgemeine Entwicklungstheorie sondern verschiedene Ansätze, die sich alle mit drei Grundfragen nach Gegenstand, Verlauf und Steuerung der Entwicklung beschäftigen:[12]

1. Frage nach den Objektbereichen von Entwicklung: Was verändert sich?
2. Frage zu den Entwicklungsverläufen: Wie vollzieht sich Entwicklung?
3. Frage zur Steuerung von Entwicklungsprozessen: Wodurch kommen Veränderungen zustande?

Diese verschiedenen Theorieansätze lassen sich alle in ein 4-Felder Schema einordnen, das zum besseren Verständnis der Anlage- Umwelt- Diskussion dienen soll.

Umwelt

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Metatheoretische Entwicklungskonzeptionen (modifiziert nach Baur 1994, S. 30)

Die in der Tabelle dargestellten metatheoretischen Entwicklungskonzeptionen sollen nun kurz beschrieben werden, um nachfolgend die Entwicklungstheorie nach Piaget und die Gestaltkreistheorie nach Weizsäcker vertiefend zu betrachten.

Endogenistische Entwicklungskonzeptionen

Die endogenistischen Entwicklungskonzeptionen gehen von einem natürlichen Wachstums- und Reifungsprozess aus, der genetisch bestimmt ist, und sich in Stufen oder Phasen vollzieht. Die Person ist passiv und kann auf ihre eigene Entwicklung keinen Einfluss nehmen. Die Entwicklung ist dann abgeschlossen, wenn die höchste Phase, die Phase der Reife mit dem Erwachsenenalter erreicht ist.[13]

Strukturgenetische Entwicklungskonzeptionen

Vertreter dieser Position gehen davon aus, dass sich das Individuum aufgrund seines eigenen aktiven Handelns selbst entwickelt. Dabei vollzieht sich Entwicklung als Adaption des Individuums an die Umwelt, mit dem Ziel einen Zustand des Gleichgewichts zwischen Person und Umwelt zu erreichen. Entwicklung wird demnach als lebenslanger Prozess verstanden, da solche Anpassungsleistungen lebenslang gefordert werden.[14]

Exogenistische Entwicklungskonzeptionen

Die strukturgenetischen Entwicklungskonzeptionen gehen davon aus, dass der Hauptantrieb der menschlichen Entwicklung die Beeinflussung des Individuums durch seine Umwelt ist.[15] Änderungen des Verhaltens werden demnach als Reaktion auf bestimmte Umweltbedingungen gesehen.[16] Die Entwicklung des Menschen ist somit das „Ergebnis der Summe vielfältiger Umwelteinflüsse“.[17] Entwicklung ist hier unabgeschlossen, d.h. sie vollzieht sich über das gesamte Leben.

Interaktionistische Entwicklungskonzeptionen

Vertreter interaktionistischer Entwicklungskonzeptionen gehen davon aus, dass sich der Mensch über sein Handeln entwickelt, welches sich in einer Person- Umwelt Interaktion vollzieht. In dieses Handeln gehen genetische Prädispositionen und subjektive Erfahrungen der Person ein, die im aktuellen Handeln weiterentwickelt werden und in künftiges Handeln wieder mit einfließen. Über dieses Handeln nimmt also die Umwelt Einfluss auf die Person und umgekehrt. Durch diese Interaktion ist Entwicklung als lebenslanger Prozess zu sehen.[18]

Die oben aufgeführten Entwicklungskonzeptionen kamen in einer bestimmten historischen Abfolge in die Diskussion der Sportwissenschaft. Am Anfang der 70er Jahren wurden die endogenistischen von den exogenistischen Konzeptionen weitgehend abgelöst, und erst Ende der 80er Jahre gewannen die interaktionistischen Konzeptionen immer mehr an Bedeutung.[19] Diese finden auch derzeit weitgehend Konsens, „da sie die ‚gegensätzlichen’ Einseitigkeiten biogenetischer und umweltdeterministischer Konzeptionen überwinden und ihnen zudem strukturgenetische Elemente nicht fremd bleiben müssen.“[20] Sie sind also besonders gut als Ausgangspunkt geeignet, weil die anderen Modelle nicht einfach zurückgewiesen werden, sondern ihre Leistungsfähigkeit anerkannt wird.

Anhand einer strukturgenetischen und einer interaktionistischen Entwicklungskonzeption möchte ich nun aufzeigen, wie der handelnde Mensch in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt seine Entwicklung selbst mitbestimmt.

2.1. Die kognitive Entwicklungstheorie

Jean Piaget (1896- 1980), Vertreter der genetischen Epistemologie, hatte sein Hauptforschungsgebiet mit der Beschreibung der Intelligenz des Kindes gefunden, dem er auch einen Großteil seines Lebens widmete. Piagets Erkenntnisse beziehen sich darauf, dass „sich Denkstrukturen hierarchisch organisieren und in vier aufeinander folgende Stadien periodisieren lassen:“[21]

1. Das sensomotorische Entwicklungsstadium
2. Die voroperationale Stufe
3. Die konkret- operationale Stufe
4. Das formal- operationale Stadium

Die sensomotorische Entwicklung, die sich in den ersten zwei Lebensjahren vollzieht wird von Piaget in sechs verschiedene Stufen eingeteilt, die zwar nicht zeitlich fixiert sind, das Verhalten des Kindes jedoch strukturieren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Stadien der sensomotorischen Phase nach Piaget (modifiziert nach Zimmer, 1993, S. 44)

Die im ersten Stadium sensomotorische Intelligenz beruht auf Sinnesleistungen und motorischen Handlungen. Das Kind gewinnt über die handelnde Auseinandersetzung mit Objekten, erste Erkenntnisse über seine Umwelt. Aus diesen selbstständig gesammelten Erfahrungen entstehen Handlungsschemata, die Piaget als sensomotorische Schemata bezeichnet. Diese spielen auch in späteren Stadien eine wichtige Rolle, da es auch weiterhin wichtig für die Entwicklung des Kindes ist, auf Dinge seiner Umwelt einwirken zu können.

Ein Grundprinzip seiner Theorie ist die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt, da sich nach Piaget in dieser Form Entwicklung vollzieht. Die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Umwelt gestaltet sich in Form von Assimilations- und Akkomodationsprozessen.[22]

Im Prozess der Assimilation bezieht das Kind seine Umwelt in die ihm zu Verfügung stehenden Schemata ein, d.h. es assimiliert die Umwelt an bereits vorhandene Schemata.[23] Es geschieht eine „Angleichung der Umwelt an das Individuum.“[24] Dieser Prozess misslingt, wenn das Schema nicht geeignet ist die aktuelle Umweltsituation zu erfassen. Die bestehenden Denkmuster genügen nicht mehr, das Schema muss also verändert werden (Prozess der Akkomodation). Diese beiden Prozesse sind nicht voneinander zu trennende Elemente der Adaption, die nach Piaget „Grundprinzip jeglichen Entwicklungsgeschehens ist“.[25]

Sind die Prozesse der Assimilation und Akkomodation im Gleichgewicht, d.h zwischen wahrgenommenen Umwelteindrücken und den vorhandenen kognitiven Strukturen herrscht Harmonie, spricht Piaget vom Zustand des Äquilibriums.

Demnach verfolgt das geistige System das Ziel der Gleichgewichtserhaltung. Neue Umwelterfahrungen bringen das System wieder in Ungleichgewicht und so ist es notwendig die kognitiven Schemata neu zu konstruieren.[26] Intelligenz ist also nach Piaget „der Gleichgewichtszustand [...] zu dem alle aufeinanderfolgenden sensomotorischen und erkenntnismäßigen Anpassungen, sowie alle Austauschprozesse (Assimilation und Akkomodation) zwischen Organismus und Umwelt streben.“[27]

Piagets Erkenntnistheorie wurde zwar von vielen Seiten, vor allem aufgrund des Fehlens von sozialen Faktoren in der Entwicklung, kritisiert, es konnten jedoch wichtige Konsequenzen für die Erziehungsarbeit abgeleitet werden.

Piagets Konzept einer aktiven Erziehung basiert auf zwei wichtigen Grundsätzen:[28]

1. Die Erziehung des Kindes sollte primär von der Welt des Kindes ausgehen, das Kind sollte frei handeln dürfen. Die Vermittlung von Wissen sollte gegenüber dem eigenen Erkunden in den Hintergrund rücken.
2. Das Kind sollte intrinsisch motiviert sein ein Problem zu lösen, der Pädagoge sollte es nicht von außen lenken.

Piagets Theorie der geistigen Entwicklung wird als Vorreiter der strukturgenetischen Entwicklungskonzeptionen bezeichnet, er sieht den Menschen als handelndes Subjekt, der aktive auf seine Umwelt einwirkt, und so seine Entwicklung mitgestaltet. Im Folgenden soll nun eine interaktionistische Entwicklungstheorie vorgestellt werden, bei der sowohl Mensch als auch Umwelt aktiv aufeinander einwirken.

2.2. Die Gestaltkreistheorie

Die Gestaltkreistheorie, die auf dem Arzt Viktor von Weizsäcker (1947) gründet, beschreibt die Verschränkung von Wahrnehmung und Bewegung und die wechselseitige Beziehung zwischen Organismus und Umwelt.[29]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Grundmodell des Gestaltkreises (modifiziert nach Kiphard, 1992, S. 13)

Anliegen seiner Theorie ist, den Dualismus, der einerseits Sinnesphysiologie und andererseits Bewegungsphysiologie unterscheidet, durch die Einführung des Subjekts aufzuheben, und den Mensch somit „als in und mit diesem Körper sich bewegendes, wahrnehmendes, fühlendes, denkendes und sinngebendes Individuum“[30] zu verstehen. Er stellt sich demnach die Frage, „wie und in welcher Weise Subjekt und Objekt, Mensch und Welt aufeinandertreffen.“[31] Durch diese Abkehr von einem mechanistischen Weltbild und so von einem Menschenbild, das den Mensch als reaktiv, passiv auf Reize reagierendes Wesen betrachtet, entstand die Gestaltkreistheorie.

Weizsäcker geht nun von einem Menschenbild aus, das den Menschen als aktives, selbsttätiges Individuum betrachtet, dessen Bewegung eine aktive Leistung ist, die durch eigene Kraft vollzogen wird. Diese Bewegung ist nach Weizsäcker nicht von der Umwelt zu trennen in der sie stattfindet. Der Organismus kann durch Bewegung auf die Umwelt einwirken und sie verändern.

Aus den Beobachtungen der Bewegung erkennt Weizsäcker, dass bei einer Selbstbewegung dem sich bewegenden nicht die eigene Bewegung erscheint, sondern die Bewegung der Umwelt. Diese scheinbaren Bewegungen sind Wahrnehmungen aus der Umwelt, die von den Sinnen vermittelt werden. Die Wahrnehmung des Menschen stellt also nicht ein genaues Abbild der Wirklichkeit dar, sondern ist abhängig von eigenen Vorerfahrungen und den Sinnesleistungen. Diese individuellen Interpretationen der Wahrnehmungen führen also dazu, dass Wahrnehmung immer subjektiv ist und somit Bewegungen immer von dieser subjektiven Wahrnehmung geprägt.

Somit sieht Weizsäcker Wahrnehmen und Bewegen als untrennbare Einheit: „Sehend und fühlend führen wir Bewegungen aus, gehend und greifend nehmen wir Dinge wahr“.[32] Indem also Wahrnehmung und Bewegung immer miteinander verschränkt auftreten, steht der Organismus immer in Verbindung zur Umwelt, die Begegnung realisiert sich im Subjekt, also im Handeln.

Das Gestaltkreisprinzip trifft Aussagen für das ganze Entwicklungsgeschehen, nicht nur für die Einzelbewegung. „Die Verschränkung von Wahrnehmung und Bewegung und die Einheit mit der Umwelt sind generelle Lebensprozesse, so dass sich Entwicklung in kreisförmigen Prozessen in der Interaktion mit der Umwelt vollzieht. Die Beziehung der einzelnen Prozesse ist nicht linear, sondern erfolgt in Kreisgestalt.“[33]

Nachdem nun die Genese des Gestaltkreises nachvollzogen und die wichtigsten Punkte angedeutet wurden, sollen die Thesen der Gestaltkreistheorie auf ihre Bedeutung für die Psychomotorik hin, kurz dargestellt werden:[34]

1. Psyche und Körper bilden eine Einheit.
2. Bewegungen bedeuten oder bewirken etwas. Sie besitzen Mehrdimensionalität in ihrem Bedeutungsgehalt für das Subjekt.
3. Durch Bewegung wirkt der Mensch handelnd auf seine Umwelt ein und verändert sie dadurch.
4. Wahrnehmung und Bewegung sind subjektive Leistungen des Individuums.
5. Entwicklung vollzieht sich im Kreisprozess einer ständigen Interaktion von Mensch und Umwelt.
6. Individuum und Umwelt passen sich einander an.

V.v. Weizsäckers Gestaltkreistheorie „enthält eine umfassende Vorstellung über menschliches Dasein.“[35] Im Gegensatz zu Piagets Theorie, die sich vor allem auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt, wurde hier eine Entwicklungstheorie, die sich auf alle Altersstufen bezieht, dargestellt.

3. Die Bedeutung von Wahrnehmung und Bewegung für die Persönlichkeitsentwicklung

Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Bewegung und Wahrnehmung als Einheit zu betrachten sind.

Zimmer macht deutlich, dass das Kind sich über Bewegung mit seiner materialen und sozialen Umwelt auseinandersetzt und so Erkenntnisse über deren Regeln und Gesetzmäßigkeiten gewinnt. Es macht außerdem über seinen Körper wichtige Erfahrungen über seine eigene Person, die die Grundlage seiner Identitätsentwicklung darstellt.[36]

Im Folgenden möchte ich beschreiben, welche Bedeutung Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen für die kognitive, soziale und körperlich- gesundheitliche Entwicklung haben. Die Bedeutung für die Entwicklung des Selbst, d.h. für den Aufbau des Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens soll hierbei nicht außer Acht gelassen werden, wobei jedoch dieser Punkt in Kapitel 5.2. noch genauer beschrieben werden soll.

Eine solche Differenzierung in einzelne Bereiche darf jedoch keinesfalls als eine Trennung gesehen werden, da der Mensch immer als Ganzheit zu begreifen ist.

3.1. Kognitive Entwicklung

Da die Bedeutung von Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen für die kognitive Entwicklung schon in Kapitel 2 ausgeführt wurde, sollen hier nur noch einige ergänzende Überlegungen beschrieben werden.

Die geistige Entwicklung des Kindes beruht vor allem in den ersten zwei Lebensjahren auf Bewegungs- und Wahrnehmungsvorgängen. Es eignet sich die Welt über seine Sinne, seinen Körper und seine Handlungen an. In Spielhandlungen lernt das Kind Eigenschaften der Gegenstände und physikalische Gesetzmäßigkeiten kennen. Je vielfältiger und abwechslungsreicher die materiale Umwelt des Kindes gestaltet ist, desto mehr Kenntnisse und Erfahrungen erwirbt das Kind über sie.[37] Scherler bezeichnet diese Art von Erfahrungsgewinnung als „materiale“ Erfahrungen.[38] Ommo Grupe beschreibt sie folgendermaßen: „ Materiale Erfahrungen bezeichnen die oft nur durch Bewegung zugängliche Erfahrung der Eigenschaften und Qualitäten von Dingen und Gegenständen unserer Umwelt, ihrer Beherrschbarkeit, Berechenbarkeit, Widerständigkeit, Nachgiebigkeit sowie auch die Erfahrung dessen, was man mit ihnen alles machen kann, also die Erfahrung ihrer Hantierbarkeit und `Manipulierbarkeit`, vor allem aber auch die Erfahrung, daß sie, wenn wir mit ihnen umgehen können, andere Eigenschaften entfalten als die, die unsere angelernte Funktionalisierungs- und Normierungslust ihnen zuschreibt.“[39]

So lässt sich festhalten, dass vieles was wir wissen, worin wir Einsichten besitzen, über Bewegung und Wahrnehmung kennen gelernt haben. So wird auch klar von welcher Bedeutung solche Erfahrungen für Kinder sind.

3.2. Soziale Entwicklung

Die soziale Entwicklung wird durch Erfahrungen die Kinder in ihrem sozialen Umfeld, also im Zusammenleben mit anderen, machen, beeinflusst. Hier werden Dinge wie sich durchsetzen oder sich unterzuordnen, teilen oder abgeben, sich gegenseitig zu akzeptieren oder sich gegenseitig abzulehnen, streiten und versöhnen, gelernt. Die Grundlage für den Erwerb sozialer Verhaltensweisen wird vor allem im Kindergarten gelegt. Renate Zimmer weist darauf hin, dass Kinder Kinder brauchen um in eine soziale Gemeinschaft hineinwachsen zu können. Sie betont weiterhin, dass Bewegungsangebote besonders gut geeignet sind um die soziale Entwicklung zu fördern, da sie besonders viele Situationen enthalten, in denen Kinder sich mit ihren Spielpartnern auseinandersetzen müssen. Sie unterscheidet fünf Grundqualifikationen sozialen Handelns:

- Soziale Sensibilität
- Regelverständnis
- Kontakt und Kooperationsfähigkeit
- Frustrationstoleranz
- Toleranz und Rücksichtnahme

Für Kinder im Kindergartenalter und frühen Schulkindalter sind das hohe Anforderungen. Sie befinden sich zunächst in einer Phase, die Piaget „Egozentrismus“ nennt. In diese Phase sieht sich das Kind als Mittelpunkt der Welt und ist noch sehr ich- bezogen. Erst später sind die Kinder fähig ihr eigenes Verhalten aus der Perspektive eines anderen zu reflektieren und dessen Reaktion vorwegzunehmen.[40]

Ommo Grupe weist darauf hin, dass der Sport maßgeblich dazu beiträgt mehr über seine Mitmenschen zu erfahren, sich Gruppen oder Gemeinschaften zugehörig zu fühlen und mehr soziale Kontakte zu haben bzw. zu knüpfen. Für ihn stellt Sport eine Gelegenheit dar etwas gemeinsam zu tun, gemeinsame Freude zu empfinden, zu helfen und Hilfe zu erfahren.[41] Sicherlich ist es ausgeschlossen nur positive soziale Erfahrungen beim Sport zu erleben. Manchmal werden Kinder beim Spiel auch ausgeschlossen oder müssen sich anderen unterordnen. Doch gerade in solchen Situationen lernen Kinder mit sozialen Konflikten umzugehen und eventuell selbstständig Kompromisse auszuhandeln.[42]

Aus Gründen des Umfangs soll nicht weiter auf die soziale Bedeutung von Bewegung eingegangen werden, dennoch kann festgehalten werden, dass Bewegungsanlässe in der Interaktion mit anderen einen wichtigen Faktor für die soziale Entwicklung darstellen.

3.3. Die Entwicklung des Selbst

Identität entwickelt sich beim Kind in erster Linie über den eigenen Körper. Durch die Erfahrungen, die das Kind über und mit seinem Körper macht, erhält es ein Bild von sich selbst. Diese Vorstellung von der eigenen Person, die auch als Selbstkonzept bezeichnet wird, beinhaltet das eigene Aussehen, die Fähigkeit und das Leistungsvermögen.

In Bewegungshandlungen lernen Kinder sich selbst kennen, erhalten Rückmeldung über ihr eigenes Können und erkennen dass sie selbst für ihren Erfolg bzw. Misserfolg verantwortlich sind. Über Bewegungshandlungen bringen sie auch in Erfahrung, was andere ihnen zutrauen und wie sie von ihrer sozialen Umwelt eingeschätzt werden. Folglich können Körpererfahrungen als erste Stufe der Selbstentwicklung angesehen werden.[43]

Wie schon oben erwähnt soll die Entwicklung des Selbst später noch ausführlich beschreiben werden.

3.4. Körperlich- gesundheitliche Entwicklung

Gesundheit, nach einer Definition, welche die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1948 vorlegte, ist der „Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen”.[44]

Damit wird der Begriff der Gesundheit nicht mehr nur auf den körperlichen Bereich beschränkt, sondern auch mit sozial- ökologischen Aspekten verknüpft.

Auf die Frage nach der Bedeutung der Bewegung für die Entwicklung des Kindes, sind die Motorik und der körperliche Gesundheitsaspekt wohl die naheliegensten, nicht zuletzt, weil sie wissenschaftlich am fundiertesten sind.

Vielseitige, regelmäßige Bewegungsangebote im Kindesalter haben also einen positiven Einfluss auf die körperliche Entwicklung, der in folgenden Bereichen festzustellen ist:[45]

[...]


[1] Zimmer, R. 1993 (S. 19)

[2] Landau, G. 1992 (S.54)

[3] vgl. Zimmer, R. 1993 (S.19)

[4] vgl. Scheel, D. 1978 (S.31)

[5] vgl. Landau, G. 1992 (S.54)

[6] vgl. Zimmer, R. 1993 (S. 18)

[7] vgl. Zimmer, R. 1993 (S.18)

[8] vgl. Scherer, H.G. 2004 (S. 67)

[9] vgl. Hollmann, W. 2004 (S. 40/41)

[10] vgl. Grundschule Nordstetten: „ Schule mit sport- und bewegungserzieherischem Schwerpunkt“. URL: http://www.grundschule-nordstetten.de/projekte/sport.htm [Stand 1. Oktober 2005]

[11] Schenk-Danzinger, L. 2002 (S. 19)

[12] vgl. Baur, J. 1994 (S.28)

[13] vgl. Baur, J. 1994 (S. 30,31)

[14] vgl. Baur, J. 1994 (S. 33,34)

[15] vgl. Schenk- Danzinger 2002 (S. 28)

[16] vgl. Baur, J. 1994 (S. 38)

[17] Baur, J. 1994 (S.38)

[18] vgl. Baur, J. 1994 (S. 41)

[19] vgl. Baur, J. 1994 (S. 45)

[20] Baur, J. 1994 (S. 45)

[21] Fischer, K. 2001 (S. 80)

[22] vgl. Fischer, K. 2001 (S. 80)

[23] vgl. Philippi- Eisenburger, M. 1991 (S. 93)

[24] Zimmer, R. 1996 (S.18)

[25] Philippi- Eisenburger, M. 1991 (S. 93)

[26] vgl. Fischer, K. 2001 (S. 83)

[27] Piaget 1974 (S. 14) in Philippi- Eisenburger, M. 1991 (S. 103)

[28] vgl. Zimmer, R. 1993 (S. 47)

[29] Die folgenden Ausführungen zur Gestaltkreistheorie stützen sich auf Phillipi- Eisenburger, M. 1991 (S.9-19/137-139)

[30] Philippi- Eisenburger, M. 1991 (S. 10)

[31] Philippi- Eisenburger, M. 1991 (S. 10)

[32] Weizsäcker, V.v. 1986 (126)

[33] Philippi- Eisenburger 1991 (S. 139)

[34] vgl. Philippi- Eisenburger 1991 (S.19-23)

[35] Philippi- Eisenburger 1991 (S. 23)

[36] vgl. Zimmer, R. 1993 (S.23)

[37] vgl. Zimmer, R. 1993 (S.38- 40)

[38] vgl. Zimmer, R./Circus, H. 1995 (S.92)

[39] Grupe, O. 2000 (S. 66)

[40] vgl. Zimmer, R. 1993 (S. 30- 38)

[41] vgl. Grupe, O. 2000 (S. 65)

[42] vgl. Zimmer, R. 1993 (S. 36)

[43] vgl. Zimmer, R. 2003 (S.24 – 30)

[44] Encarta Enzyklopädie Professional 2003

[45] vgl. Größing, S. 1993 (S.149- 152)

Fin de l'extrait de 66 pages

Résumé des informations

Titre
"Alle Sinne in Bewegung" - Bewegung und Wahrnehmung im Sportunterricht in der Grundschule
Université
Karlsruhe University of Education
Note
2
Auteur
Année
2005
Pages
66
N° de catalogue
V45240
ISBN (ebook)
9783638426749
Taille d'un fichier
745 KB
Langue
allemand
Mots clés
Alle, Sinne, Bewegung, Wahrnehmung, Sportunterricht, Grundschule
Citation du texte
Janine Krebs (Auteur), 2005, "Alle Sinne in Bewegung" - Bewegung und Wahrnehmung im Sportunterricht in der Grundschule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45240

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