Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zentrale Modelle der Moralpsychologie
2.1. Social Intuitionist Model
2.2. Dual-Process Model
2.3. Universal Moral Grammar
2.4. Diskussion der Modelle
3. Implikationen des Humesschen Gesetzes
4. Entwurf einer empirisch fundierten Moraltheorie
4.1. Das Konzept des Reflective Equilibrium und seine Kritiker..
4.2. Mikhails Interpretation des Reflective Equilibrium
4.3. Diskussion
4.4. Ausblick
5. Schluss
6. Anhang
7. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Social Intutionist Model
Abbildung 2: Dual-Process Model
Abbildung 3: Universal Moral Grammar
Abbildung 4: Intégratives Modell
Abbildung 5: Variationen des Trolley-Problems
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Annahmen über Wesen und Ursprung moralischer Überlegungen waren in der Philosophiegeschichte oftmals Ausgangspunkt für die Gestaltung normativer Theorien. Verschiedene Annahmen über die menschliche Natur und ihre moralischen Fähigkeiten führten dabei zu teils unvereinbaren Theoriegebilden. Wer das Wesen der Moral, wie Immanuel Kant, im Ver- nunftvemiögen des Menschen ansiedelt, kommt zu einer formalen Gesinnungsethik, die den menschlichen Neigungen jeglichen moralischen Wert abspricht.1 Wer hingegen, wie David Hume, in den Leidenschaften die einzige Triebfeder moralischen Handelns erkennt, wird es für absurd halten, dass die Vernunft unser Wollen und Handeln bestimmen kann.2 Die rasante Entwicklung der Moralpsychologie in den letzten zehn Jahren ermöglicht es den Philosophen von heute auf empirische Methoden zur Überprüfung von Aussagen über den Ursprung und die Mechanismen moralischen Urteilens zurückgreifen, die für bisherige Philosophengenerationen noch rein spekulativ waren. Jüngste moralpsychologische Befunde, die darauf hindeuten, dass unsere moralischen Urteile in erster Linie durch unbewusste Intuitionen gelenkt werden, die mit emotionalen Prozessen verknüpft sind, scheinen David Hume Recht zu geben. Ist der Glaube an eine rationale Urteilsfindung, wie der Psychologe Jonathan Haidt folgert, somit eine Illusion?3 Und die Vernunft kann, wie David Hume konstatierte, nur Sklavin unserer Leidenschaften bleiben?4 Die vorliegende Arbeit wird versuchen anhand des Konzepts des Reflective Equilibrium5 erste Implikationen empirischer Befunde für die Gestaltung einer Moraltheorie aufzuzeigen, die rationalen Ansprüchen genügen kann. Dazu werden als Ausgangspunkt grundlegende Modelle und Befunde aus der Moralpsychologie zusammengefasst und auf ihre Vereinbarkeit hin diskutiert. Vor dem Hintergrund der moralpsychologischen Evidenz wird anschließend auf das Hume’sehe Gesetz eingegangen, um zu zeigen, dass moralpsychologische Erkenntnisse nicht von vornherein als irrelevant für moralphilosophische Theorien betrachtet werden können. In diesem Zusanmienhang wird zudem ein rationales Adäquatheitskriterium für moralische Urteile vorgeschlagen. Anschließend wird das Konzept des Reflective Equilibrium und die Kritik, die es auf sich zog, vorgestellt. Wobei dafür argu- mentiért wird, dass das Reflective Equilibrium vor dem Hintergrund der moralpsychologi- sehen Modelle und Befunde, so interpretiert werden kann, dass es sowohl der skizzierten Kritik, als auch dem entwickelten Adäquatheitskriterium genügt. Zum Abschluss dieser Arbeit wird ein Ausblick auf Anknüpfungspunkte dieses Konzepts in der praktischen Ethik gegeben.
2. Zentrale Modelle der Moralpsychologie
Die anschließende Darstellung zentraler Modelle der Moralpsychologie verfolgt das Ziel, einen Überblick über die Grundgedanken und Befunde der einzelnen Modelle zu geben und sie in kritischen Bezug zueinander zu setzen, um grundlegende Aussagen abzuleiten, von denen im Verlauf dieser Arbeit ausgegangen werden kann.
2.1. Social Intuitionist Model
Das Social Intuitionist Model (SIM) von Jonathan Haidt geht davon aus, dass moralische Urteile automatisch und ohne bewusste kognitive Anstrengungen6 als Resultat moralischer Intuitionen im Bewusstsein auftauchen. Haidt beschreibt diese Intuitionen als ?gut feelings in the mind“7, im Sinne eines bewertenden Gefühls (mögen - nicht mögen, gut - schlecht) über die Handlung oder den Charakter einer Person.
Moralisches Argumentieren (Moral Reasoning) betrachtet Haidt hingegen als einen mit AnStrengungen verbundenen Prozess, der jedoch erst auftrete, nachdem ein moralisches Urteil gelallt wurde (post hoc) und in dem eine Person nach Rechtfertigungen für das bereits feststehende und durch Intuition bestimmte Urteil suche. Als Stütze seiner These führt Haidt eine Studie an, in der Probanden eine sorgsam konstruierte Geschichte über einvemehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern8 vorgelegt wurde. Die meisten Probanden verurteilten hierbei das Handeln der Geschwister unverzüglich als moralisch falsch und begannen scheinbar erst danach Argumente für ihr Urteil zu suchen, was sich aber aufgrund der Konstruktion der Geschichte als sehr schwierig erwies. Wurden die Probanden darauf hingewiesen, dass ihre Bedenken auf Grundlage der vorhandenen Informationen nicht angebracht seien, zitiert Haidt die folgende Reaktion als charakteristisch: ?I don ’t know. I can ’t explain it. I just know it ’s wrong. “9 Dieses Phänomen bezeichnet Haidt als moral dumbfounding. Haidt gesteht zwar die Möglichkeit ein, dass Menschen sich durch Logik und sorgsame überlegungen zu einem Urteil hin argumentieren könnten, dass ihrer anfänglichen Intuition widerspreche, sieht dies jedoch als äußerst selten an.10 Wesentlich öfter sei es der Fall, dass ein Indivi- duuni durch persönliche Reflektion (bspw. Rollenübemahme) Intuitionen auslöse, die der anfänglichen Intuition widersprechen würden. Das endgültige Urteil würde dann nach Haidt von der stärkeren Intuition determiniert.11
Abb. 1: Social Intutionist Model
Abbildung in dieser leseprobe nicht enthalten
Eine große Bedeutung spricht Haidt neben moralischen Intuitionen, die er mit situationsabhängigen Emotionen verknüpft sieht, dem sozialen Umfeld zu: ?Moral judgment should be studied as a social process and in a social context moral reasoning matters.12 “ Moralische Argumentationen entständen dann, um das bereits getroffene Urteil (d.h. die Intuition) vor anderen Menschen zu verteidigen und andere von unserem Urteil zu überzeugen. Wobei Mensehen nicht durch logische Argumente oder Fakten überzeugt würden, sondern indem bei ihnen emotionsgeladene Intuitionen ausgelöst werden (bspw. durch Metaphern). Da Individuen zudem stark durch Gruppennormen beeinflusst seien, könne zusätzlich davon ausgegangen werden, dass allein die Tatsache, dass Bezugspersonen ein spez. moralisches Urteil lallen, ausreiche, um einen Einfluss auf das individuelle Urteil auszuüben.13
Insgesamt folgert Haidt, dass wir einer Illusion unterlägen, wenn wir glauben würden, dass wir unsere moralischen Urteile objektiv auf Basis rationaler Argumente fållen und Menschen im Rahmen argumentativen Diskurses ihre Meinung ändern würden:The Reasoning Process is more like a Lawyer defending a Client than a Judge or Scientist seeking Truth. ”14
2.2. Dual-Process Model
Joshua Greene und seine Kollegen haben auf Basis funktioneller Kernspintomographie (ÍMRI) ihr Dual-Process Model (DPM) zur Erklärung moralischen Urteilens entwickelt, welches aber in mehrfacher Hinsicht mit dem SIM konsistent ist. Greenes Modell postuliert zwei von Natur aus qualitativ unterschiedliche Prozesse moralischen Denkens, die von zwei trennbaren und teils konkurrierenden Systemen im Gehirn abhängen. Die beiden Systeme, ein emotionales, das den beschriebenen Mechanismen in Haidts Modell ähnelt und ein rationales, welches sich durch bewusste und kontrollierte Prozesse auszeichnet, können in ihrem morali- sehen Urteil konvergieren oder divergieren und parallel oder in Sequenz ablaufen.15
Abb. 2: Dual-Process Model (parallele Prozess-Darstellung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eine Schlussfolgerung Greenes ist, dass deontologische Urteile auf intuitiv-emotionale Prozesse zurückzuführen seien, wohingegen utilitaristische Urteile auf kontrollierten kognitiven Prozessen fußen. Unterlegt wird diese These durch Studien, in denen Probanden u.a. verschiedene Varianten des sog. Trolley-Problem16 vorgelegt wurden, die anschließend nach der moralischen Zulässigkeit der in Frage stehenden Handlung bewertet werden mussten. Dabei konnte Greene mittels fMRI Bildern zeigen, dass bei deontologischen Urteilen Gehimareale aktiv waren, die mit emotionalen Prozessen identifiziert werden, wohingegen bei utilitaristi- sehen Urteilen eine erhöhte Gehimaktivität in Arealen beobachtet werden konnte, die mit kognitiven Prozessen assoziiert werden.17 Greene sieht hier ein Argument für den Utilitaris- mus gegeben, auf das an dieser Stelle jedoch nicht genauer eingegangen werden kann.18
Ein bedeutender Unterschied zum SIM besteht beim Dual-Process Model (DPM) jedoch darin, dass kontrollierte rationale Prozesse als eigenständiges System betrachtet werden und somit nicht, wie bei Haidt, äußerst selten und an vorrangegangene Intuitionen geknüpft sind. Zum einen sieht Greene insbesondere utilitaristische Argumentationsweisen als allgegenwärtigen Bestandteil des moralischen , common sense ‘ und zum anderen geht Greene im GegenSatz zu Haidt davon aus, dass moralische Argumentationen das moralische Urteil anderer auf rationaler Ebene beeinflussen können - ohne vorher entsprechende Intuitionen beim Gegenüber auslösen zu müssen. Greene bezieht sich hierbei auf Studien von Pizarra et al. in der Personen ihre Schuldzuweisungen korrigierten, nachdem der Versuchsleiter sie ausdrücklich darauf hin wies ein rationales und objektives Urteil zu lallen.19
Greene interpretiert dies übereinstimmend mit Pizarra et al. folgendermaßen: die Probanden revidierten ihr Urteil, weil ihnen bewusst geworden war, dass ihr ursprüngliches Urteil inkonsistent mit ihren eigenen Überzeugungen darüber war, was moralisch relevant sein sollte. Dies nimmt Greene zudem als Indiz dafür, dass Menschen in der Lage seien moralische Urteile als nicht-prinzipienbasiert zurückzuweisen, wenn sie das Wesen ihrer Intuition einzuschätzen könnten. Die Änderung des Urteils sei somit, zumindest in einigen Fällen, nicht auf widersprechenden Intuitionen, sondern auf prinzipienorientierten Überlegungen zurückzuführen.20
2.3. Universal Moral Grammar
Ein weiterer bedeutender Ansatz, unter dem sich eine Reihe von Psychologen und Philoso- phen vereinen, geht auf die linguistische Analogie von John Rawls zurück.21 Die linguistische Analogie überträgt Noam Chomskys Theorie einer universalen Grammatik auf den Bereich der Moral.22 Demnach seien unsere moralischen Fähigkeiten in derselben Weise angeborenen, wie unsere sprachlichen, d.h. ebenso wie jedes Kind mit einem Gehirn in die Welt komme, das für den Erwerb einer Sprache ausgestattet sei, sei auch jeder Mensch von Geburt an lähig ein moralisches System zu erwerben. Und ebenso wie die sprachlichen Prinzipien, die dem menschlichen Geist eingeschrieben seien, die Grammatik einer jeden denkbaren menschlichen Sprache begrenzen, so würden die moralischen Prinzipien den Inhalt eines jeden denkbaren moralischen Systems begrenzen, ohne ihn jedoch zu determinieren.23
Ein zentrales Postulat des Konzepts der Universal Moral Grammar (UMG) ist die Existenz einer speziellen moralischen Fakultät im menschlichen Geist, die als Bewertungssystem auf Grundlage von Handlungsbeschreibungen operiert. Desweiteren wird angenommen, dass diese moralische Fakultät hinter der Ebene des Bewusstseins operiert und ihre Prinzipien uns nicht direkt zugänglich sind. Im Rahmen der linguistischen Analogie bedeutet dies, dass ebenso, wie jeder Mensch automatisch und ohne Anstrengungen (d.h. intuitiv) bewerten könne, ob ein Satz grammatikalisch korrekt sei, ohne jedoch eine adäquate Begründung für sein Urteil abgeben zu können, sei jeder Mensch in der Lage eine Handlung automatisch auf ihre moralische Zulässigkeit hin zu bewerten, ohne sein Urteil artikulieren zu können.24 Damit einher geht zum einen die Unterscheidung zwischen den sog. operativen Prinzipien der moralischen Fakultät, die unbewusst und automatisch eine moralische Bewertung erzeugen und den tatsächlich artikulierten Prinzipien. Zum anderen kann eine Unterscheidung zwischen moralischer Kompetenz und moralischer Performanz getroffen werden. Moralische Kompetenz bezeichnet dann, was die moralische Fakultät auf Basis operativer Prinzipien, für die Bildung moralischer Urteile ermöglicht. Performanz, was andere Mechanismen des Gehirns, wie emotionale Prozesse begrenzen und somit was eine Person letztendlich urteilt. Nach Hauser et al. ist das von Haidt beschriebene Phänomen des ,Moral Dumbfoundig‘ darauf zurück zuführen, dass Menschen keinen bewussten Zugang zu den operativen Prinzipien haben, die ihrem Urteil unterliegen.25
Hauser und seine Kollegen unterscheiden zudem eine starke und eine schwache Variante der UMG. In Anbetracht, dass die starke im Vergleich zur schwachen Variante kaum empirisch gestützt und starker Kritik ausgesetzt ist, wird im Folgenden von der schwachen Variante ausgegangen.26 Demnach nimmt das Bewertungssystem Handlungsbeschreibungen (kausale/ intentionale Strukturen und Konsequenzen für die beteiligten Akteure) als Input, wendet darauf operative moralische Prinzipien an und produziert zumindest eine Art Vorläufer eines moralischen Urteils, der rationale und/oder emotionale Prozesse auslöst.27 Hauser et al. betonen in diesem Zusammenhang, dass die UMG die Bedeutung emotionaler und rationaler Prozesse bei der Urteilsbildung nicht zurückweise, sondern vielmehr, dass jeder Prozess der zu einem moralischen Urteil führe, ob rational oder emotional, dies auf Basis des skizzierten Bewertungssystems tun müsse. Im Gegensatz zum SIM werden also bei der UMG Emotionen
Als Stütze führen Hauser et al. Studien mit Patienten an, die aufgrund einer Schädigung am ventromedialen präfrontalen Cortex, im Vergleich zu gewöhnlichen Probanden signifikant reduzierte emotionale Reaktionen bei Konfrontationen mit verschiedenen Dilemmata haben. Die Urteile dieser Personen waren in mehreren Fällen jedoch identisch mit denen gewöhnli- eher Personen, sodass Hauser et al. folgern, dass Emotionen für eine Vielzahl von morali- sehen Situationen nicht notwendig seien.28 Hauser et al. betrachten das sog. Prinzip der Doppelwirkung29 als ein unbewusstes operatives Prinzip, welches in Untersuchungen mit TrolleyDilemmata identifiziert werden konnte.
[...]
1 Kant 1785.
2 Hume 1898.
3 Vgl. Haidt 2001: S.822.
4 Vgl. Hume 1898: S.193.
5 Die englische Bezeichnung wird hier dem deutschen Äquivalent des Überlegungsgleichgewichts vorgezogen.
6 Haidt 2001: S.818: “[¦¦¦] without any conscious awareness of having gone through steps of search, weighing evidence, inferring a conclusion. ”
7 Ebd. : S.826.
8 Siehe Julie and Mark im Anhang.
9 Haidt 2001: S.814.
10 Haidt/Bjorkhmd 2007: s. 193: “j.¦J Occurring primarily in cases in which the initial intuition is weak and processing capacity’ is high. ”
11 Vgl. Haidt 2001: S.819.
12 Haidt/Bjorklund 2007: S.193.
13 Vgl. Haidt 2001: S.819.
14 Ebd.: S.820.
15 Vgl. Paxton/Greene 2010: s.513ff.
16 Siehe Trolley-Problem im Anhang
17 Vgl. Greene et al. 2001: s.2106f.
18 Vgl. Greene 2002: s. 337f.
19 Pizarra et al. 2003.
20 Vgl. Paxton/Greene 2010: s.
21 Vgl. Rawls 1975: s. 46f.
22 Chomsky 1969.
23 Vgl. Levy 2009: S.7.
24 Vgl. Hauser et al. 2007: s. 109ff.
25 Vgl. Hauser et al. 2007: s. 115.
26 Vgl. Mallon 2007: S.145f.
27 Vgl. Hauser et al. 2007: s. 121 : In der starken Variante der UMG ist der Output der moralischen Fakultät kausal verantwortlich für das moralische Urteil und imabhängig von emotionalen oder rationalen Prozessen.
28 Vgl. ebd.: s. 137f.
29 Cushman et al. 2006: s. 1086: “[¦¦¦] harm intended as the means to an end is morally worse than harm foreseen as the side effect of an end [.] ”
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- Anonym, 2011, Moralpsychologie und Reflective Equilibrium, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/452713
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