Rekonstruktive Sozialpädagogik - Biografische Fall- und Milieurekonstruktion


Presentación (Redacción), 2004

21 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


INHALT

1. Einleitung – Was ist ein Fall und wie entsteht er?

2. Rekonstruktive Sozialpädagogik
2.1 Ziele und Anforderungen der Rekonstruktiven Sozialpädagogik

3. Die biografische Fall- und Milieurekonstruktion im Sinne einer Rekonstruktiven Sozialpädagogik
3.1 Narrativ-biografische Verfahren
3.1.1 Das narrative Interview und die Ergebnisanalyse

4. Die Bedeutung der Rekonstruktiven Sozialpädagogik und der biografischen Fall- und Milieurekonstruktion für die Soziale Arbeit

5. Fazit

6. Literaturliste

1. Einleitung – Was ist ein Fall und wie entsteht er?

In dem Seminar „Diagnose und Fallverstehen in der Sozialpädagogik“ beleuchteten wir verschiedene Aspekte der sozialpädagogischen Fallarbeit, um einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Facetten dieser Tätigkeit zu bekommen.

Zunächst mussten wir in diesem Zusammenhang klären, was überhaupt ein „Fall“ ist und wie er entsteht. Wir hielten fest, dass ein Fall ein Konstrukt eines Beobachters ist, der mit der Darstellung des Falles ein bestimmtes Interesse verfolgt. Wann man überhaupt von einem Fall sprechen kann, bringen Ulrike Loch und Heidrun Schulz auf den Punkt. Sie sagen, dass in dem Moment, in dem ein potentieller Klient Kontakt mit z.B. einer Beratungsstelle aufnimmt, eine Begegnung im institutionellen Rahmen stattfindet und sich der Professionelle entsprechend seiner institutionellen und fachspezifischen Differenzierung dem Klienten zuwendet, man von einem „Fall“ sprechen kann. Erst durch dieses In-Beziehung-Setzen entstehe ein Fall.[1]

Wir hielten weiter fest, dass die Grundlage eines Falles ein bestimmtes Geschehen, ein Ereignis, eine Szene oder auch ein Gespräch ist. Der Beobachter nimmt dieses Geschehen wahr und formuliert oder dokumentiert es. Dies kann er mittels eines Berichts, eines Tonbandes oder Videos tun. Auch bereits vorhandene Akten o.ä. werden zur Hilfe genommen. Der daraus entstandene Fallbericht wird mit einer bestimmten Absicht präsentiert. Im Anschluss folgt die Fallanalyse, in der Hypothesen für Erklärungsansätze gebildet werden. Danach kommt es zur Fallstudie, in der eine genaue Analyse vorgenommen, eine Intervention geplant und abschließend bzw. laufend Evaluation betrieben wird.

Auf ein konkretes Beispiel bezogen, könnte man sich – stark verkürzt und vereinfacht – die Arbeit einer Jugendamtmitarbeiterin vorstellen, die die Situation eines Kindes überprüfen soll, das die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft auf sich zog, weil es regelmäßig noch zu später Abendstunde in verdreckter Kleidung in der Einkaufsstraße angetroffen wird. Die Jugendamtmitarbeiterin geht daraufhin selbst abends in die besagte Einkaufsstraße und beobachtet das Kind, wie es dort herumstreunt. Sie spricht das Kind an, befragt es und macht sich aufgrund dieses Gesprächs und ihren Beobachtungen ein erstes Bild der Lage des Kindes. Im Anschluss besucht sie das Elternhaus des Kindes, spricht mit den Eltern, nimmt die Wohnsituation wahr, filmt (mit Einverständnis der Eltern) vielleicht sogar die dortigen Gegebenheiten und überprüft im Jugendamt, ob die Familie bereits „aktenkundig“ geworden ist. Eventuelles Material aus vergangenen Berichten fügt sie dementsprechend hinzu. Im Anschluss präsentiert sie ihren Bericht in der Absicht, eventuelle Missstände aufzudecken und Hilfen für die Familie / das Kind zu legitimieren. Es wird analysiert, warum es zu der Familiensituation kam und was getan werden kann, um die Umstände zu verbessern. Abschließend werden mögliche Hilfen besprochen und – gemeinsam mit der Familie – diskutiert. Wird das Hilfeangebot angenommen, wird ein Plan erstellt, der die Ziele dieser Maßnahmen klar formuliert. Im Laufe des Hilfeprozesses können diese Ziele jedoch immer wieder abgeändert werden. Die stetige Überprüfung der Durchführung, des Nutzens und der Fortschritte dieser Maßnahmen ist dabei von großer Wichtigkeit, ebenso wie eine abschließende Evaluation nach Beendigung der Hilfen.

In diesem Ablauf, so wurde gleich zu Beginn des Seminars betont, ist vor allem die Professionalität von Seiten des Sozialpädagogen sehr wichtig. Diese setzt sich zusammen aus Theorie (begründetem Wissen), diagnostischer Kompetenz, methodischer Kompetenz, Gesellschaftsanalyse, pädagogischem Takt, ethischem Bezug, (Selbst-) Reflexion, Lernbereitschaft und vor allem (Fremd-) Verstehen.

Begründet auf dieser Basis wurden im Nachhinein konstruierte Fälle besprochen und bearbeitet, um Themen wie z.B. „Soziale Diagnose und Einzelfallhilfe“, „Psychosoziale Diagnostik“ oder „Multiperspektivische Fallarbeit“ genauer beleuchten und diskutieren zu können.

In diesen Kanon reiht sich auch das Thema „Biografische Fall- und Milieurekonstruktion“ ein, auf das ich im Folgenden näher eingehen werde. Zunächst jedoch werde ich mich dem Oberbegriff, nämlich der Rekonstruktiven Sozialpädagogik widmen, bevor ich auf die biografische Fall- und Milieurekonstruktion im Speziellen Teil übergehe.

2. Rekonstruktive Sozialpädagogik

Sozialarbeiter und Sozialpädagogen müssten heute stärker als früher ihr Handeln gegenüber der Gesellschaft, den Klienten und nicht zuletzt auch sich selbst begründen, meinen Hans-Jürgen von Wensierski und Gisela Jakob.[2] Der Wandel, der sich in Bezug auf diese Forderung über die Jahre in der Sozialpädagogik vollzogen hat, sei nicht zu übersehen. Die Frage nach Methoden, die in der Lage seien, sozialpädagogisches Handeln als Prozess zu verstehen, die der Komplexität des beruflichen Alltags der Sozialen Arbeit gerecht werden und die vor allem die subjektive Perspektive und lebenspraktische Autonomie der Klienten als notwendige Voraussetzung für jede sozialarbeiterische Intervention ansehen, sei lauter denn je.[3] In diesem Zusammenhang taucht nun der Begriff der Rekonstruktiven Sozialpädagogik auf. Die Rekonstruktive Sozialpädagogik ziele auf den Zusammenhang all jener methodischen Bemühungen im Bereich der Sozialen Arbeit, denen es um das Verstehen und die Interpretation der Wirklichkeit als einer von handelnden Subjekten sinnhaft konstruierten und intersubjektiv vermittelten Wirklichkeit gehe.[4] Der Begriff der Rekonstruktion (aus dem lateinischen für „Wiederherstellung“[5] ) verweise dabei auf die immer schon vorgängig stattgefundenen Konstruktionen, die Vorstrukturiertheit sozialer Wirklichkeit, die es verstehend und interpretierend zu analysieren gelte. „Wiederhergestellt“ oder auch „ins Gedächtnis gerufen“ werden also die strukturellen Voraussetzungen, die Verfahren, die Regeln und die Konstitutionsbedin-gungen, mit denen die Menschen als Akteure in sozialen Situationen und Interaktionen Wirklichkeit herstellen und behaupten.[6] Dabei soll sich im Speziellen auf die Analysen der sozialen Räume, der sozialen Handlungen und der sozialen Prozesse konzentriert werden. Im Zentrum der rekonstruktiven Perspektive stehe das Verständnis der sozialen Wirklichkeit als Prozess von subjektiven und sozialen Sinnkonstruktionen in der alltäglichen Lebenswelt.[7]

Eine Verbindung zur lebensweltorientierten sozialen Arbeit, wie sie von Hans Thiersch geprägt wurde, ist hier klar zu sehen, wobei die Komplexität und der hohe Anforderungsgrad an die Professionellen erst auf den zweiten Blick deutlich wird: Einerseits soll die Autonomie der Lebenspraxis der Klienten beachtet, auf der anderen Seite aber das eigene Handeln im Kontext eines methodisch geleiteten Gestaltungs- und Begründungszusammenhangs selbstkritisch reflektiert werden. Methodisches Handeln werde zum sozialen Ort des Verstehens und der Auseinandersetzung mit der Lebenswelt des Klienten zum einen, und zum sozialen Ort der Selbstreflexion und der Selbstkontrolle des professionellen Sozialarbeiters zum anderen.[8]

2.1 Ziele und Anforderungen der Rekonstruktiven Sozialpädagogik

Das Verständnis sozialer Arbeit und damit auch der Auftrag dieser wurden, wie bereits angedeutet, erweitert. Zu der Kontrolle und der Hilfe, die der Professionelle gegenüber dem Klienten anbietet bzw. durchführt, kommen nun noch die Selbstkontrolle und die Selbsthilfe. Mit der Selbsthilfe sei hierbei die (Re-)Aktivierung der Ressourcen des Klienten gemeint.[9] Im Grunde genommen zeigt sich hier eine stark an der individuellen Lebenswelt orientierte Sozialpädagogik, die dem Klienten eine deutliche Position im Hilfeprozess einräumt, nämlich die des „Gestaltenden“, der aktiv an der Veränderung seines Lebens oder dessen Umständen beteiligt ist. Allerdings wird nicht nur er, der Klient, kontrolliert sondern auch der Sozialarbeiter, der den Hilfeprozess in Gang bringt und am Laufen hält – durch sich selbst. Dadurch wird die Arbeit im Hilfeprozess jedoch nicht nur durchsichtiger, individueller und professioneller, sondern auch komplexer, komplizierter und arbeitsaufwändiger. In einer solchen Situation, in der der Professionelle stets zur Selbstkontrolle angemahnt wird, ließe sich die Legitimität des Handelns nicht mehr ohne weiteres durch den Bezug auf absolute Autoritäten (z.B. Staat, Gesetz, Verordnung usw.) ableiten, sondern müsse stets aufs neue und jeweils situativ auf den spezifischen Fall bezogen, begründet und eingeworben werden.[10] Dem Sozialpädagogen würden hierbei hochreflexive Prozesse der Selbstdistanzierung und Selbstvergewisserung abverlangt, die jedoch in das vom alltäglichen Handlungsdruck bestimmte Arbeitsfeld integriert werden sollen.[11]

Dennoch sei eine derartige Arbeitsweise gerade in der heutigen Zeit nötig, da die Gesellschaft immer komplexer geworden sei und die Sozialpädago-gik ihre Legitimation in eben diesem Gesellschaftssystem behaupten müsse. Allerdings werde darüber hinaus auch eine wichtige Anforderung an die Rekonstruktive Sozialpädagogik gestellt: Sie muss zwischen einer planungs- und anwendungsorientierten Praxis- oder Handlungsforschung und einer eher analytischen Sozialforschung unterscheiden und daher verschiedene Ebenen voneinander abgrenzen. Insgesamt gelte es, drei Ebenen zu berücksichtigen: die Ebene einer wissenschaftlichen Forschung, die Ebene einer kooperativen und handlungsbezogenen Reflexion sozialpädagogischer Praxis durch Wissenschaft und Sozialpädagogen und die Ebene einer professionellen Reflexion der Praxis durch die praktischen Sozialpädagogen im beruflichen Alltag.[12] Erst dann könne sie als ganzheitliches Konstrukt angesehen werden und wäre damit in der Lage, eigene wissenschaftliche Standards zu entwickeln, die in Kooperation mit den Praxisträgern in konkrete Projekte umgesetzt werden können. Michael Galuske merkt in diesem Zusammenhang jedoch an, dass vom konkreten Versuch einer Anwendung bzw. Übertragung für den Bereich der Praxis Sozialer Arbeit bislang vorrangig für die ethnographische (Biografie-) Forschung gesprochen werden könne.[13]

3. Die biografische Fall- und Milieurekonstruktion im Sinne einer Rekonstruktiven Sozialpädagogik

Wie schon in Kapitel 2 erwähnt, liegt der Arbeitsschwerpunkt in der Rekonstruktiven Sozialpädagogik, wie der Name schon sagt, im rekonstruieren also im wiederherstellen von Gegebenheiten, Ereignissen oder Lebensumständen. Was bedeutet dies jedoch konkret für Sozialarbeiter und Klient? Welchen Nutzen haben beide Parteien von diesem Verfahren?

Ulrike Loch und Heidrun Schulze betonen, dass rekonstruktive Auswertungsverfahren im Forschungsalltag zu analytisch-fundiertem Fallverstehen und empirisch geerdeten Theoriebildungen führten.[14] Diesen allgemeinen Nutzen beziehen sie auf die konkrete Arbeit mit Klienten, indem sie sich auf Fritz Schütze berufen. Dieser behauptet, dass der Gewinn wissenschaftlicher Analysekompetenzen für die Soziale Praxis darin bestehe, dass die Sozialarbeiter dadurch befähigt werden müssten, empirisch sicher und analytisch konzise festzustellen, was der Fall ist – dies auch, wenn die Fallpräsentation durch den oder die Klienten und / oder durch den oder die professionellen Akteur(e) mehr oder weniger verdeckt oder verschleiert werde.[15] Knapp gesagt besteht der Nutzen dieser Analyse also ganz schlicht im „klar sehen“ der Situation und soll lediglich zum Verständnis beitragen. Gespräche und Interviews mit dem/den Klient/en, Berichte (z.B. vom Arzt) und Archivauskünfte bilden hierbei den Grundstein. Im Hintergrund stehe dabei stets die Fragen, wie das Problem, mit dem der Klient zu dem Professionellen gekommen ist, von der Gegenwarts- und Zukunftsperspektive beeinflusst, aus der Entstehungsgeschichte heraus verstanden werden könne. Wie kann sich der Professionelle im Rahmen der spezifischen Institution handlungs-orientiert auf diesen Verstehensprozess beziehen?[16] Die Verfahren, die hierbei zur Gewinnung von Informationen und Struktur verwendet werden, sind, nach Loch und Schulze, narrativ-biografische und interaktionsanaly-tische, diskursanalytische und/oder ethnografische Verfahren.[17] Auf das zuerst genannte Verfahren werde ich nunmehr genauer eingehen.

[...]


[1] vgl. Loch, U. / Schulze, H. (2002): „Biographische Fallrekonstruktion im handlungstheoretischen Kontext Sozialer Arbeit“ in: Thole, W.: „Grundriss Soziale Arbeit“, Opladen, S. 560

[2] vgl. von Wensierski, H.-J. / Jakob, G. (1997): „Rekonstruktive Sozialpädagogik“, Weinheim, S. 7

[3] vgl. ebd. S. 7

[4] vgl. ebd. S. 9

[5] vgl. von Hollander, E. (1989): „Das tägliche Fremdwort“, Xenos

[6] vgl. von Wensierski, H.-J. / Jakob, G. (1997): „Rekonstruktive Sozialpädagogik“, Weinheim, S. 9

[7] vgl. ebd. S. 10

[8] vgl. ebd. S. 11

[9] vgl. ebd. S. 11

[10] vgl. ebd. S. 12

[11] vgl. ebd. S. 13

[12] vgl. ebd. S.17

[13] vgl. Galuske, M. (1998): „Rekonstruktive Sozialpädagogik“ in: „Methoden der Sozialen Arbeit“, Juventa, S. 199

[14] vgl. Loch, U. / Schulze, H. (2002): „Biografische Fallrekonstruktion im handlungstheoretischen Kontext der Sozialen Arbeit“ in: Thole, W.: „Grundriss Soziale Arbeit“, Opladen, S. 559

[15] vgl. ebd. S. 559

[16] vgl. ebd. S. 560

[17] vgl. ebd. S. 559-560

Final del extracto de 21 páginas

Detalles

Título
Rekonstruktive Sozialpädagogik - Biografische Fall- und Milieurekonstruktion
Universidad
University of Lüneburg
Calificación
1,7
Autor
Año
2004
Páginas
21
No. de catálogo
V45280
ISBN (Ebook)
9783638427111
ISBN (Libro)
9783656621652
Tamaño de fichero
427 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Sozialpädagogik, Biografische, Fall- und Milieurekonstruktion, Interview, narrativ, rekonstruktiv
Citar trabajo
Isabel Chowanietz (Autor), 2004, Rekonstruktive Sozialpädagogik - Biografische Fall- und Milieurekonstruktion, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45280

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