Antireligiöse Propaganda im Sowjetstaat von der Oktoberrevolution bis zur Kollektivierung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

32 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Christliche Religion und kommunistische Ideologie
1. Religion im Zarenreich um 1917
2. Warum betrieben die Bolschewiken antireligiöse Propaganda?

II. Kampf gegen die Religion
1. Der Konflikt zwischen Kirche und Staat in der Gesetzgebung
2. Kommunistische Propaganda gegen den Glauben
a) Antireligiöse Literatur
b) Die „Nutzbarmachung des Nutzlosen“
c) Spott und Satire
d) Die „pädagogische Front“
e) Ersatzreligion
g) Bund der militanten Gottlosen (1925-1947)
g) Die Periode der Kollektivierung

III. War die Kampagne gegen die Religion erfolgreich?
Abschließende Reflexion
Benutzte Literatur:
1) Quellen
2) Sekundärliteratur

Einleitung

Das untergehende Sowjetreich zu Beginn der 1990-er Jahre hinterließ nicht nur ein wirtschaftlich marodes Land, sondern eine riesige Anzahl von völlig desillunsionierten und haltlosen Bewohnern. In diesen ersten Jahren nach dem Zusammenbruch waren Kirchen und Gemeindehäuser der ehemaligen UdSSR überfüllt und religiöse Massenveranstaltungen zogen Menschenmengen an, wie es im Westen wohl nur der Fussball vermag. Kommt darin die Verzweiflung der enttäuschten Menschen oder ein Hunger nach bleibenden Werten zum Ausdruck? In der UdSSR waren bereits mindestens zwei Generationen herangewachsen, die den Glauben an Gott nur vom Hörensagen kannten, Gläubige als rückständig oder auch gemeingefährlich betrachteten, nicht abgeneigt waren Schauergeschichten zu glauben wie jener, Baptisten würden in geheimen Ritualen Kinder opfern. Die ehemals so fromme „Rus“ hatte ihren Glauben in den Wind geschrieben. Wie konnte es dazu kommen? Hatten die allgemeinen Säkularisierungstendenzen der westlichen Welt auch den schon immer als rückständig betrachteten riesigen Vielvölkerstaat Russland erreicht oder hatte hier noch eine andere gewaltige Macht ihre Hand im Spiel?

Der große Wendepunkt in dieser Entwicklung war die bolschewistische Revolution und mit ihr der Wechsel von einer stark religiös gebundenen Regierung zu einer entschieden atheistischen. Mit der Machtergreifung der Bolschewiken bekam das Land eine Regierung, die den Glauben an Gott kategorisch ablehnte und jeglicher Religion den Kampf ansagte. Das Ziel der kommunistischen Regierung war die Erziehung eines „neuen Menschen“, also eines Wesens, das völlig losgelöst ist von den alten Strukturen des Staates, der Gesellschaft, der Religion und das tauglich für die Verwirklichung der kommunistischen Ideale wäre. Die Methoden, mit denen der junge Staat gegen den von ihm gehassten Glauben vorging, waren sehr vielschichtig. Millionen Menschen mussten in der gesamten Sowjetzeit ihren Glauben mit der Freiheit und oft auch mit dem Leben bezahlen. Neben der Gewalt gegen Gläubige wurde von den Kommunisten massive Propaganda gegen den Glauben und gegen die Anhänger des christlichen, muslimischen, jüdischen und anderer Glaubensbekenntnisse betrieben. Systematische und flächendeckende gewaltsame Aktionen geschahen erst ab der Mitte der 1930-er Jahre, als Stalin auf der Höhe seiner Machtentfaltung war, vorher war aber die antireligiöse Propaganda umso vielfältiger und facettenreicher. Propaganda war ein wesentliches Merkmal des Sowjetstaates (wie auch anderer totalitärer Staaten) und wurde in allen Lebensbereichen sehr stark eingesetzt. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit unterschiedlichen Propagandamitteln, die gegen den Glauben angewandt wurden. Der von mir gewählte Zeitraum beginnt mit der Novemberrevolution und endet mit dem Abschluss der Kollektivierung. Auf Gewaltaktionen in diesem Zusammenhang gehe ich nur an einer Stelle kurz ein, da sie nicht unmittelbar das Thema berühren und außerdem in dieser Zeit noch nicht zu den wesentlichsten Kampfmitteln gehörten.

Bei der Beschreibung des Kampfes gegen die Religion beziehe ich mich größtenteils auf die christliche Religion. Das soll keine Abwertung anderer Glaubensüberzeugungen sein, die es in der UdSSR auch gegeben hat und die ich auch erwähne. Diese anderen Religionen wären sicher eine eigenständige Forschung wert. In dem Material, das mir zur Verfügung stand, ging es aber fast ausschließlich um das Christentum, zu dem sich im alten Russland auch die weit größte Mehrheit der Bevölkerung bekannte.

Bei der Erstellung dieser Arbeit habe ich eine Reihe von zeitgenössischen Quellen ausgewertet, deren Autoren entweder ehemalige russische Bürger im Exil waren (Iljin, Trubetzkoy) oder europäische Gläubige, die regen Anteil am Schicksal ihrer verfolgten Glaubensbrüder in der Sowjetunion nahmen. Auch einige Artikel von sowjetischen Atheisten und Propagandisten sind dabei sowie eine Anzahl von amtlichen Dokumenten. Eine Schwierigkeit bei der Benutzung zeitgenössischer Artikel stellte der Umstand dar, dass man es wohl in den 1920-30-er Jahren noch nicht so genau mit den Quellenangaben bei Zitaten nahm, wie das heute üblich ist, und diese oft ziemlich unvollständig sind oder ganz fehlen. Wenn es mir an manchen Stellen nicht gelungen ist, die Originalquelle zu finden, so habe ich das ein einer Fußnote vermerkt. Ebenfalls bei zeitgenössischen Autoren zu bedenken ist, dass ihnen insofern sie nicht in Russland schrieben, meistens nur begrenzte und unvollständige Informationen vorliegen konnten und insofern sie Sowjets waren, sie möglicherweise nicht zum Ziel hatten Informationen authentisch weiterzugeben, sondern eher sie ihren eigenen Zwecken anzupassen. Ich habe jedoch versucht, zu jedem Punkt mehrere verschiedene Quellen heranzuziehen und auch gesichertere Daten aus neueren Forschungen zu verwenden.

Naemi Fast, Eppstein

im Mai 2004

I. Christliche Religion und kommunistische Ideologie

Ideologisch gesehen trafen bei der bolschewistischen Revolution in Russland zwei gänzlich verschiedene Welten aufeinander. Einerseits die große Mehrheit des einfachen Volks, das seit Jahrhunderten im Christentum oder zumindest in seinen Ausdrucksformen und Traditionen verwurzelt war und andererseits die dünne Schicht der Revolutionäre, die sich zur „Intelligenzija“ zählten und theoretisch mit dem Glauben an Gott gebrochen hatten. Die kommunistische Ideologie lehnte einen Gott rigoros ab, der einfache Gläubige dagegen konnte sich eine höhere Macht aus seinem Weltbild nicht wegdenken. Gegen diesen, aus ihrer Sicht naiven Gottglauben wollten die Bolschewiken in erster Linie ankämpfen. Um die Hintergründe der antireligiösen Propaganda des jungen kommunistischen Staates besser nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, sich zunächst die Religionslandschaft in dem großen ehemaligen Zarenreich vor Augen zu führen[1] und einige Aussagen zur ideologischen Begründung der kommunistischen Antireligiosität zu machen.

1. Religion im Zarenreich um 1917

Fast alle Bürger russischer Nationalität im russischen Reichs gehörten zur russisch-orthodoxen Staatskirche, die 1917 aus 70 Diözesen mit 130 Bischöfen bestand, 50.960 Priester, rund 95.000 Klosterinsassen und über 100 Millionen Mitglieder hatte.[2] Die sogenannte „Intelligenzija“ hatte sich schon im 19. Jahrhundert innerlich zunehmend von der Kirche entfernt, bis zum Toleranzedikt 1905 war es jedoch einem Russen bei hoher Strafandrohung verboten, die Staatskirche zu verlassen.

Die orthodoxe Kirche hatte eine hohe Machtfunktion im Reich und war eine wesentliche Stütze des Zarenregimes, in dem weltliche und geistliche Macht völlig voneinander abhängig waren.[3] Keine andere religiöse Gemeinschaft konnte je das Monopol der orthodoxen Kirche brechen. Russische Sekten waren bis 1905 offiziell verboten, Existenzberechtigung neben der orthodoxen Kirche hatten nur Gemeinden nationaler Minderheiten.

Die Kirche band die Menschen an den Staat und an den Zaren. Praktizierte Religion und Loyalität zum Herrscherhaus waren ähnlich miteinander verflochten wie auch im mittelalterlichen und teilweise auch neuzeitlichen Europa. Als sich im 19. Jahrhundert revolutionäres Gedankengut in Russland verbreitete, wurden revolutionäre Bewegungen von der Kirche aufs Heftigste verurteilt.[4]

Neben der Staatskirche gab es in Russland eine Reihe von Glaubensrichtungen, die aus der orthodoxen Kirche hervorgegangen waren. Die größte davon war die Bewegung der Starowery (Altgläubigen), die aufgrund ihres Widerstands gegen die Neuerungen des Patriarchen Nikon auf der Kirchensynode 1666-67 gebannt wurden. Sie waren für eine weitgehend asketische Lebensweise bekannt, lehnten die Welt und den in ihr herrschenden „Antichrist“ rigoros ab, predigten das nahe Weltende und hielten an den alten Riten fest. Innerhalb der Gemeinschaft zerfielen die Altgläubigen wieder in einige Teile, z. B. Ende des 17. Jahrhunderts in Popowzy (mit Priestern) und Bespopowzy (ohne Priester).[5] Weitere Sekten der orthodoxen Kirche waren Duchoboren („Geisteskämpfer“ - eine der wichtigsten schismatischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts), Molokanen („Milchtrinker“ - im 18. Jahrhundert entstanden),[6] Malewanzy, Tolstojaner, Pawlowzy, außerdem eine Reihe ekstatischer Sekten mit sehr bildhaften Namen: Chlysty (Geißler), Skakuny (Hüpfer), Pryguny (Springer), Trjassuny (Zitterer), Skopzen (Verschnittene).[7] Die Mitgliederzahl der kleineren Sekten fällt gegenüber den großen Religionsgemeinschaften natürlich nicht ins Gewicht, aber ihre Vielzahl verrät einiges über die Suche der russischen Seele nach dem wahren Glauben.

Protestantische Kirchen gab es im Russischen Reich nur unter Nichtrussen. Die lutheranische Kirche hatte es nach langen beschwerlichen Kämpfen 1832 geschafft, offiziell als Staatskirche anerkannt zu werden. Sie bestand aus Esten, Letten, Finnen und Deutschen. Um die Jahrhundertwende bekannten sich 5,2% der Bevölkerung des Russischen Reichs (einschließlich der baltischen Länder) zum Protestantismus - 3,5-3,7 Millionen zum evangelisch-lutherischen Glauben und 30-40 000 zu den Reformierten.[8]

Die römisch-katholische Kirche im Russischen Reich bestand ebenfalls aus Nichtrussen: Polen, Litauern, Weißrussen und Deutschen und hatte 1917 sieben katholische Bistümer mit etwa 6 Millionen Kirchenmitgliedern.[9]

Im 19. Jahrhundert entstanden in Russland einige evangelische Freikirchen. In den 1860-ern breiteten sich im Süden, ausgehend von der Ukraine, Baptistengemeinden unter Ukrainern und Russen aus, fast parallel dazu war 1874 in Petersburg die vergleichbare und ebenfalls schnell wachsende Bewegung der Evangeliumschristen entstanden. Eine ausschließlich aus Deutschen bestehende Gemeinderichtung waren die Mennoniten, deren Ursprung in der schweizer und niederländischen Täuferbewegung zu finden ist. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts siedelten sie in selbstverwalteten Kolonien im Steppenstreifen der Ukraine, der Krim, an der Wolga, im Nordkaukasus und in Sibirien an. Weitere Freikirchen waren Adventisten und Pfingstler. Eine nationale Kirche war die armenisch-gregorianische unter den Armeniern.

Neben der Mehrheit der christlichen Glaubensgemeinschaften gab es im Zarenreich eine Vielzahl von moslemischen Völkern: Tataren, Kirgisen, Usbeken, Tadshiken, Baschkiren, Aserbaidschaner, Kasachen, kaukasische Völker u.a. Fernöstliche Völker und die Bewohner der Kalmückensteppe gehörten dem Buddhismus an. Die meisten Nordvölker und sibirische Stämme pflegten verschiedenen heidnische Naturreligionen. Für Juden gab es im Reich ein „ständiges jüdisches Siedlungsgebiet“, bestehend aus 10 Gouvernements von Russisch-Polen und 15 im Nordgebiet (Weißrussland) und Südwestgebiet (Ukraine).

Der russische Philosoph und Professor Iljin nennt in seinem Vortrag „Wider die Gottlosigkeit“ vom 23. Februar 1930 einige runde Zahlen zu den prozentualen Verhältnissen der Kirchenmitgliederzahl zur Zeit der Revolution:

„die Ost-Orthodoxie, [umfaßte] mit ihrer „altgläubigen“ Abzweigung zusammen, rund 70 Prozent der Bevölkerung [...]; dagegen [zählten] die anderen christlichen Konfessionen zusammen rund 14 Prozent der Bevölkerung [...]; und die nichtchristlichen Konfessionen [hatten] rund 15 Prozent zu veranschlagen [...]“.[10]

2. Warum betrieben die Bolschewiken antireligiöse Propaganda?

Sowohl die christliche Religion als auch der Kommunismus erheben einen unbestreitbaren Absolutheitsanspruch. Wer an den christlichen Gott glaubt, kann nicht gleichzeitig einer anderen Religion oder einer totalitären Ideologie dienen. Umgekehrt muss ein echter Kommunist zwangsläufig auch Atheist sein, denn das Leugnen einer höheren Macht liegt im Wesen des Kommunismus begründet. Der Kommunismus ist eine durch und durch materialistische Ideologie, für deren erfolgreiche Ausbreitung in der neu entstandenen Sowjetunion die tief im Volk verwurzelte Religion ein wesentliches Hindernis darstellte. Die Parole Lenins und seiner Anhänger war ein Zitat aus Marx‘ „Kritik der Hegelschen Philosophie des Rechts“: „Religion ist [...] ein Opium für das Volk“. In seiner Schrift „Sozialismus und Religion“ von 1905 bezeichnet Lenin Religion als „eine Art geistiger Fusel, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.“[11] Das Verhältnis der Partei zur Religion wird von ihm folgendermaßen festgelegt:

„Die Religion muß als jedermanns Privatsache erklärt werden. Mit diesen Worten wird gewöhnlich das Verhältnis der Sozialisten zur Religion bezeichnet. [...] Wir verlangen, daß die Religion dem Staate gegenüber eine Privatsache sei, wir können aber keineswegs die Religion als Privatsache unserer eigenen Partei gegenüber betrachten. [...] Im Verhältnis zur Partei des sozialistischen Proletariats ist die Religion keine Privatsache. Unsere Partei ist ein Bund selbstbewußter Vorkämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse. Ein derartiger Bund kann und darf sich gegenüber dem Stumpfsinn und dem Obskurantismus in religiöser Form nicht gleichgültig verhalten. [...] Unsere Propaganda schließt auch unbedingt die Propaganda des Atheismus mit ein.“[12]

Lenin bezeichnet Gott in einem späteren Artikel als „Ideenkomplex, der sowohl durch eine stumpfe Klassenunterdrückung des Menschen, wie auch durch die äußere Natur erzeugt ist“[13]. Ivan Iljin zitiert Lenins Begründung seiner marxistische Religionsfeindschaft:

„Alle unterdrückenden Klassen brauchen, um ihre Herrschaft zu schützen, - zwei soziale Funktionen: die Funktion des Henkers und die Funktion des Pfaffen. Der Henker soll den Protest und die Empörung der Unterdrückten niedertreten, der Pfaffe soll ihnen Aussichten auf Erleichterung der Not und der Opfer vormalen unter Erhaltung der Klassenherrschaft. [...] Marxismus ist Materialismus. Als solcher ist er genauso schonungslos feindlich der Religion gegenüber, wie der Materialismus der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts oder der Materialismus von Feuerbach.“[14]

Lenins Witwe Krupksaja bringt die Sache ein paar Jahre später schließlich auf den Punkt:

„Die Klasseninteressen des Proletariats sind den Interessen des Christentums direkt entgegengesetzt. Revolutionäre ‚Leidenschaft‘, grenzenlose Ergebenheit an seine Klasse, eiserne Sinnes- und Willensdisziplin, Unversöhnlichkeit dem Klassenfeind gegenüber, totale Sentimentalitätslosigkeit, Ausdauer, Takt, Selbstbeherrschung und die Fähigkeit, andere (Millionen) zu beherrschen – sind einem süßlich-gleißnerischen Christentum direkt entgegengesetzt. Jede Religion ist eine giftige Waffe der ‚Bourgeoisie‘, ein Feind des Kommunismus [...] Sklavenideen müssen herausskalpiert werden, Sklavengefühle müssen erstickt werden, Sklavenworte müssen mit glühendem Eisen herausgebeizt werden.“[15]

Neben den ideologischen Gründen steht natürlich auch der rein pragmatische im Vordergrund: die Machtfunktion der orthodoxen Kirche, die es zu brechen galt. Als mächtige Institution und wesentliche Stütze des alten Zarenreichs stand sie der Etablierung der kommunistischen Macht im Wege. Deshalb galt der Kampf der Bolschewiken in erster Linie der orthodoxen Kirche, der gegenüber die kleinen Glaubensgemeinschaften in den ersten Jahren noch bevorzugt wurden.[16] Trotz einiger Einschränkungen existierten diese Gemeinschaften in den 1920-er Jahren noch relativ ungestört, was sich radikal änderte, als Stalins Macht sich gefestigt hatte. Dann konnten auch kleinere Glaubensgemeinschaften, die man pauschal als „Sekten“ bezeichnete, von den Kommunisten nicht mehr geduldet werden, denn obwohl sie nicht so mächtig waren wie die Staatskirche, stand ihre Glaubensüberzeugung doch der kommunistischen Ideologie direkt entgegen und hinderte sie daran, sich dieser zu beugen.

Propaganda war an sich ein wichtiges Mittel zur Verbreitung bolschewistischer Anschauungen und zur Beeinflussung des Volkes. Bezüglich der Religion wollte man sich nicht nur auf „wissenschaftliche Aufklärung“ beschränken, sondern gezielt Propaganda gegen den Glauben betreiben. Lenin schreibt in einem Artikel für die Zeitschrift „Pod znamen’em marxizma“ im März 1922:

„Der größte und schicksalschwerste Fehler, den ein Marxist begehen kann, wäre zu glauben, dass die Millionenmassen des Volkes, die durch die jetzige Gesellschaftsordnung zu Dunkel, Unwissenheit und Vorurteilen verurteilt sind, aus dieser Dunkelheit allein durch eine marxistische Aufklärung herauskommen könnten. Diesen Massen muss man das manigfaltigste atheistische Propagandamaterial in die Hand geben, um sie aus dem religiösen Schlaf zu wecken, und muss sie mit den verschiedensten Methoden wecken.“[17]

Schon vorher waren in dem Programm der Komintern 1919 hinsichtlich der antireligiösen Propaganda Richtlinien ausgearbeitet worden:

„Eine besondere Stellung unter den Aufgaben, welche der die breiten Massen umfassenden Kulturrevolution zukommen, nimmt der Kampf gegen das ‚Opium für das Volk‘ ein, gegen die Religion. Dieser Kampf muss hartnäckig und systhematisch geführt werden; die proletarische Macht muß jede staatliche Unterstützung der Kirche beseitigen, die in Werkzeug der einmal herrschenden Klasse gewesen ist; jede Einmischung der Kirche in das staatlich organisierte Erziehungs- und Bildungswesen muss verhindert werden, und die konterrevolutionäre Tätigkeit der kirchlichen Organisationen muss mit Gewalt unterdrückt werden. Die proletarische Macht erlaubt wohl die Bekenntnisfreiheit aber sie unterhält zugleich mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln eine antireligiöse Propaganda, vernichtet die privilegierte Stellung der ehemaligen Staatsreligion und gestaltet das ganze Erziehungs- und Bildungswesen auf der Grundlage der wissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung um.“[18]

[...]


[1] Zu den Mitgliederzahlen der einzelnen Kirchen und religiösen Gruppen findet man in der Literatur voneinander abweichende Angaben. Die hier angeführten Zahlen sollen nur einen Eindruck von den ungefähren Verhältnissen vermitteln und sind nicht im Sinne einer genauen Statistik zu verstehen, die bei der Behandlung dieses Themas nicht vorrangig ist. Zur Einschätzung der Zahlenverhältnisse in Bezug auf die Gesamtbevölkerung einige Zahlen zur Orientierung: 1914 betrug die Gesamtbevölkerung des Reiches 185,2 Mio. (10% der Weltbev.), davon waren 80,5 Mio. (43,4%) Russen, 33,3 Mio. (18,1%) Ukrainer und 7,4 Mio. (4%) Weißrussen. Zahlen nach A.A. Danilow; L.G. Kossulina: Istorija Rossiji. XX Wek, Moskau: Prosweščenie 1999. S. 5.

[2] Zahlen nach Kurt Hutten: Christen hinter dem eisernen Vorhang. Die christliche Gemeinde in der kommunistischen Welt. Bd. 1: Sowjetunion, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn. Stuttgart: Quell-Verlag 1962. S. 12. Danilow und Kossulina nennen auf S. 27-28 Zahlen für 1912: 111.000 Priester, über 1000 Klöster mit fast 100.000 Insassen, 4 geistliche Akademien, 57 Priesterseminare, 186 geistliche Oberschulen, über 40.000 Kirchenschulen, über 2.000.000 Desjatin Land.

[3] Seit den Reformen Peters des Großen 1700 war nicht mehr ein Patriarch, sondern der Zar offizielles Kirchenoberhaupt, unter dem die Kirche von dem Allerheiligsten Synod unter der Leitung des Oberprokureurs verwaltet wurde. Dazu siehe Waldemar Gutsche: Religion und Evangelium in Sowjetrussland zwischen zwei Weltkriegen (1917-1944). Kassel: Oncken 1959. S. 17.

[4] Zur Kirche im Zarenreich siehe auch Efraim Briem: Kommunismus und Religion in der Sowjetunion. Ein Ideenkampf. Basel: Friedrich Reinhard o.J. und Hans Brandenburg: Christen im Schatten der Macht. Die Geschichte des Stundismus in Rußland. Wuppertal: R. Brockhaus 1974.

[5] Siehe: Istoria Otečestwa. Enzyklopäditčeski Slowar‘. Moskau: Wissenschaftlicher Verlag 1999. Weiteres bei Hutten, Christen hinter dem eisernen Vorhang, S. 17-20.

[6] Näheres dazu bei Hutten, Christen hinter dem eisernen Vorhang.

[7] Siehe Bernhard Harder: Freikirchen und Sekten in Russland. In: ders. (Hg.): Russische Blätter. Zweites Heft: Das Christentum in Russland. Wernigerode am Harz: Hans Harder Verlag 1928. S. 41-53.

[8] Zahlen nach Gabriel A.: Geschichte der Kirche Osteuropas im 20. Jahrhundert. Ferdinand Schöning. Paderborn / München / Wien / Zürich 1992, S. 12 und Litzenberger, O.A.: Evangeličesko-l’uteranska’a zerkov‘ i sovetskoje gossudarstvo (1917-1938). Moskva: Gotika 2000. S. 27.

[9] Siehe Hutten, Christen hinter dem eisernen Vorhang, S. 75. Nach Gerd Stricker: Religion in Rußland. Darstellung und Daten zu Geschichte und Gegenwart. Reihe: Religion in Europa. GTB 634. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1993, S. 141 waren es um 1910 etwa 4,5 Mio Katholiken.

[10] Iljin, Iwan: Wider die Gottlosigkeit. Berlin: Eckart-Verlag 1931, S. 10, er beruft sich dabei auf Mendelejew: „K posnaniju Rossii“, S. 36-41.

[11] Lenin, W.I.: Sozializm i religia, in: ders. Polnoje sobranije sočinenij. Bd. 12 (Oktober 1905- April 1906). Moskau: Gosudarstvennoje izdatel’stvo političeskoj litreatury 51960. S. 142-147. Dieses Zitat übersetzt und zitiert bei Gutsche, Waldemar: Religion und Evangelium in Sowjetrussland zwischen zwei Weltkriegen (1917-1944). Kassel: Oncken 1959, S. 13.

[12] Lenin, Sozializm i religia, ebenda, S. 142-147. Dieses Zitat übersetzt und zitiert bei Gregor Trubetzkoy: Die Glaubensverfolgung in Sowjetrussland. Der Kampf gegen Gott und die Verteidigung des Glaubens in der heutigen Sowjetunion. Hg. von Nikolaus von Arseniew. Reihe: Russland-Bücherei Bd. 6. Wernigerode am Harz: Hans Harder Verlag 1930. S. 10.

[13] W.I. Lenin: Sozializm i religia, ebenda, S. 142-147. Dieses Zitat übersetzt und zitiert bei Trubetzkoy, Die Glaubensverfolgung in Sowjetrussland, S. 11.

[14] Lenin, W.I. in: „Mysli Lenina o religii“ Sowjetausgabe. S. 23 u. 25. Zitiert bei Iljin, Iwan: Wider die Gottlosigkeit. Berlin: Eckart-Verlag 1931, S. 6. Dieselbe Stelle zitiert Waldemar Gutsche auf S. 16, seine Quellenangabe lautet: Lenin, Werkausgabe, Band XVIII, S. 259.

[15] Nadeschda Krupskaja, zitiert bei Trubetzkoy, Die Glaubensverfolgung in Sowjetrussland, S. 11.

[16] Dazu siehe Brandenburg, Christen im Schatten der Macht, S. 160-179.

[17] Lenin, W.I.: O značeniji voinstvujuščego materializma. In: ders. Polnoje sobranije sočinenij. Bd. 45 (März 1922 – März 1923). Moskau: Gosudarstvennoje izdatel’stvo političeskoj litreatury 51964. S. 23-33. Dieses Zitat übersetzt und zitiert bei Briem, Kommunismus und Religion, S. 256.

[18] übersetzt und zitiert bei Efraim Briem: Kommunismus und Religion, S. 257.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Antireligiöse Propaganda im Sowjetstaat von der Oktoberrevolution bis zur Kollektivierung
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Osteuropäische Geschichte)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
32
Katalognummer
V45320
ISBN (eBook)
9783638427425
Dateigröße
632 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antireligiöse, Propaganda, Sowjetstaat, Oktoberrevolution, Kollektivierung, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Naemi Fast (Autor:in), 2004, Antireligiöse Propaganda im Sowjetstaat von der Oktoberrevolution bis zur Kollektivierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45320

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