Der Einfluss sensomotorischer Förderkonzepte auf den individuellen Lernprozess am Beispiel der INPP-Methode und des psychomotorischen Konzeptes


Master's Thesis, 2013

122 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Stand der Forschung

3. Methodisches Vorgehen

4. Neurophysiologische Grundlagen
4.1. Aufbau des Nervensystems
4.1.1. Neuron
4.1.2. Gliazellen
4.1.3. Peripheres Nervensystem
4.1.4. Zentrales Nervensystem
4.1.5. Vegetatives Nervensystem
4.2. Sinneswahrnehmungen
4.2.1. Sehen
4.2.2. Hören
4.2.3. Berührung, Tastempfinden
4.2.4. Gleichgewicht
4.2.5. Propriozeption
4.3. Sensomotorisches Zusammenwirken

5. Lernen
5.1. Neurophysiologische Prozesse
5.1.1. Synaptogenes
5.1.2. Neuronale Plastizität
5.2. Der Lernvorgang aus kognitiv-konstruktivistischer Perspektive
5.3. Schlussfolgerung: Definition von Lernen
5.4. Komponenten des individuellen Lernprozesses: Das INVO-Modell.
5.4.1. Selektive Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis
5.4.2. Vorwissen
5.4.3. Lernstrategien und ihre metakognitive Regulation
5.4.4. Motivation und Selbstkonzept
5.4.5. Volition und lernbegleitende Emotionen

6. Exkurs: Lernstörungen
6.1.Definition
6.2.Klassifikation
6.3.Ursachen .
6.4.Bedeutung für die Praxis

7.Darstellung der Förderkonzepte
7.1.Institut für neurophysiologische Psychologie (INPP)
7.1.1. Theoretische Grundlagen
7.1.1.1. Reflexe und Reaktionen
7.1.1.2. Neuromotorische Unreife
7.1.1.3. Frühkindliche Reflexe
7.1.2. Behandlungskonzept
7.1.2.1. Ausbildung der Therapeuten
7.1.2.2. Diagnostischer Prozess
7.1.2.3. Interventionen
7.2. Psychomotorik
7.2.1. Theoretische Grundlagen
7.2.1.1. „Theoriebrillen“
7.2.1.2. Konzeptionelle Ansätze
7.2.2. Behandlungskonzept
7.2.2.1. Ausbildung der Therapeuten
7.2.2.2. Diagnostischer Prozess
7.2.2.3. Interventionen

8. Vergleich der Konzepte
8.1. Welcher theoretische Ansatz zur Erklärung von Lernstörungen liegt zugrunde?
8.1.1. INPP
8.1.2. Psychomotorik
8.2. Wie wird die sensomotorische EntwicklungmitLernprozessenin Verbindung gebracht?
8.2.1. INPP
8.2.2. Psychomotorik
8.3. Welche Komponenten des individuellen Lernprozesses werden beeinflusst? .
8.3.1. INPP
8.3.2. Psychomotorik

9. Diskussion
9.1. WelchertheoretischeAnsatzzurErklärungvonLernstörungenliegt zugrunde?
9.2. Wie wird die sensomotorische EntwicklungmitLernprozessenin Verbindung gebracht?
9.3. Welche Komponenten des individuellen Lernprozesses werden beeinflusst?

10.Schlussfolgerungen und Ausblick

Quellenverzeichnis

Darstellungsverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Die Kultusministerkonferenz von Deutschland (KMK) stellt in ihren Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen (1999, 3f.) fest:„Die pädagogische Ausgangslage von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen des Lernund Leistungsverhaltens, insbesondere des schulischen Lernens, stellt sich vielfach mit Beeinträchtigungen der motorischen, sensorischen, kognitiven, sprachlichen sowie sozialen und emotionalen Fähigkeiten dar. Diese können unmittelbare Auswirkungen auf alle grundlegenden Entwicklungsbereiche haben und zeigen sich vor allem

in der Grobund Feinmotorik
in Wahrnehmungsund Differenzierungsleistungen
in der Aufmerksamkeit
in der Entwicklung von Lernstrategien
in der Aneignung von Bildungsinhalten
in Transferleistungen
im sprachlichen Handeln
in der Motivation
im sozialen Handeln
im Aufbau von Selbstwertgefühl und einer realistischen Selbsteinschätzung“.

In dieser Beschreibung wird ein Sachverhalt formuliert, der sich in unterschiedlichen schulischen und außerschulischen Fördermaßnahmen wiederfindet: Der Zusammenhang zwischen sensomotorischen1 Kompetenzen (oder Defiziten) und schulischem Lernverhalten.

Unterschiedliche Erklärungsansätze versuchen dabei den Zusammenhang zwischen sensomotorischen und kognitiven Leistungen theoretisch zu untermauern, wobei sich einige der Grundannahmen überschneiden: Psychologisch orientierte Erklärungsan-sätze suchen eine Begründung in handlungsregulativen Aspekten, die sich z.B. auf das Selbstbild oder die Motivation auswirken und auf diese Weise entwicklungsfördernd auf motorische und kognitive Leistungen wirken. Neurophysiologische Theorien betrachten den Reifezustand des zentralen Nervensystems (ZNS) als Voraussetzung für sensomotorische Leistungen und daran anschließende kognitive Leistungen. Perzeptuell-motorische Erklärungstheorien nehmen an, dass sich die Wahrnehmung auf der Basis von motorischen Kompetenzen entwickelt, und dass Wahrnehmungsprozesse wiederum die Grundlage für höhere kognitive Leistungen sind (vgl. Moser & Christiansen 2000, 93f.).

Aus jedem dieser Blickwinkel gelten Bewegungserfahrungen als elementare Grundlage für weitere Lernprozesse des Kindes. Motorik ist ein zentrales Instrument, das sowohl Wahrnehmung, Denken und Emotionen hervorbringen kann, als auch durch konkrete Handlungen dem Kind ermöglicht, in eine Beziehung zur Umwelt zu treten und eine individuelle Wirklichkeit zu konstruieren (vgl. Scherler 1979, 21). Durch jede Bewegung eines Kindes entsteht nach Stemme & von Eickstedt (1998, 13ff.) eine innere oder äußere Veränderung, die mit einer Anpassungsreaktion beantwortet werden muss. Ein Säugling lernt auf diese Weise, sich von seiner Umgebung zu differenzieren und entwickelt ein erstes Selbstbewusstsein. In der handelnden Auseinandersetzung mit der Umwelt bilden sich erste, elementare Erkenntnisse über Gesetzmäßigkeitenund Zusammenhänge heraus, die erprobt, überprüft, bestätigt, erweitert oder wieder verworfen werden. Der Entwicklungspsychologe Piaget bezeichnet dieses Phänomen in seinem Entwicklungsstufenmodell der kognitiven Entwicklung im Rahmen der ersten, sensomotorischen Stufe, die sich über die ersten zwei Lebensjahre eines Kindes erstreckt, als sensomotorische Intelligenz. Diese resultiert aus direkten sinnlichen Erfahrungen sowie aus der Planung und Koordination von Verhaltensakten. (vgl. Piaget 1974, 3ff.).

Auf der Grundlage dieser Überlegungen wurden verschiedene Behandlungskonzepte entwickelt, deren Interventionen durch die Aktivierung sensorischer und motorischer Verarbeitungsprozesse eine positive Beeinflussung des kindlichen Lernprozesses hervorrufen soll.

Konzepte, die ihre therapeutischen Maßnahmen in einen direkten Bezug zu der Verbesserung von Komponenten des kindlichen Lernverhaltens setzen sind z.B. die Psy-chomotorik, die Sensorische Integration, das Konzept nach Marianne Frostig, die Padovan-Methode, die Methode des Instituts für neurophysiologische Psychologie (INPP), die Entwicklungsund Lerntherapie nach PäPKI oder die klinische Lerntherapie.

Die zugrunde gelegten Annahmen über Voraussetzungen für Lernen, den eigentlichen Lernvorgang sowie über geeignete Interventionen unterscheiden sich dabei z.T. erheblich.

Für die sonderpädagogische Förderpraxis erscheint es lohnenswert, diese Darstellungen zu hinterfragen und die verschiedene Vorgehensweise solcher Förderkonzepte näher zu betrachten um herauszufinden, inwieweit sie tatsächlich geeignete Begleitmaßnahmen für die Förderung schulischer Lernprozesse bereitstellen können. Zu diskutieren ist insbesondere die Differenz zwischen den unterschiedlichen theoretischen Grundannahmen, die den Interventionen zugrunde liegen.

In dieser Arbeit sollen zwei recht konträr anmutende Behandlungskonzepte untersucht werden: Das Psychomotorik-Konzeptsowie die Methodedes Instituts für neurophysiologische Psychologie (INPP).

Eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung lässt sich bereits in der Namensgebung erkennen und findet sich entsprechend in der Gestaltung der jeweiligen Interventionen wieder: Das psychomotorische Konzept verfolgt das Ziel, psychische Vorgänge mithilfe von Bewegungserlebnissen positiv zu beeinflussen. Auf diese Weise soll die persönliche Entwicklung und damit verbunden Lernprozesse verschiedenster Art gefördert werden (vgl. Aktionskreis Psychomotorik 2013). Die INPP-Methode stellt einen Zusammenhang her zwischen Restreaktionen frühkindlicher Reflexe und Lernund Verhaltensstörungen eines Kindes. Ein gezieltes Übungsprogramm, in dem frühkindliche Bewegungsabläufe in abgewandelter Form über einen längeren Zeitraum regelmäßig durchgeführt werden, soll die nachträgliche neuromotorische Ausreifung forcieren und sich auf diese Weise förderlich u.a. auf schulische Lernprozesse auswirken (vgl. Institut für neurophysiologische Psychologie 2012a).

Diese Arbeit soll von der Frage geleitet werden, wie sich die beiden Behandlungsansätze im Hinblick auf die Förderung schulischer Lernprozesse positionieren.

In einer vergleichenden Analyse sollen folgende Kriterien herausgearbeitet werden:

- Welcher theoretische Ansatz zur Erklärung von Lernstörungen liegt zugrunde?
- Wie werden sensomotorische Prozesse mit kognitiven Prozessen in Verbindung gebracht?
- Welche Komponenten des kognitiven Lernvorgangs werden beeinflusst?

2. Stand der Forschung

Eine Korrelation zwischen sensomotorischer und kognitiver Entwicklung belegen unterschiedliche Studien (vgl. Chissom et al. 1974, 467ff.; Cobb et al., 539ff.; Eggert & Schuck 1978, 71; Zimmer 1981, 97).Empirische Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen motorischer Förderung und der Steigerung kognitiver und/oder schulischer Leistungen zu belegen versuchen, kommen jedoch zu eher negativen Ergebnissen: Kavale & Mattson (1983, 165ff.) konnten anhand einer Metaanalyse von 180 Studien zur Wirksamkeit verschiedener sensomotorischer Trainingsprogramme keinen nennenswerten Zusammenhang zwischen dem Training und der Steigerung kognitiver Fähigkeiten feststellen. Auch Krombholz (1985, 77f.), der 14 Studien aus den Jahren 1969 bis 1981 sichtete, kommt zu dem Ergebnis, dass sich eine generelle positive Wirkung sensomotorischer Fördermaßnahmen auf nichtmotorische Persönlichkeitsaspekte nicht belegen lässt, anzumerken sei allerdings die schwierige Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Vorgehensweisen sowohl innerhalb der Förderung als auch im Rahmen der Evaluation. Kirkendall (1986, 58f.) verglich 42 Studien aus den 1950er und 1960er Jahren und fasste die Ergebnisse wie folgt zusammen: Es besteht ein moderater Zusammenhang zwischen der motorischen und der kognitiven Leistungsfähigkeit eines Kindes. Dieser Zusammenhang wird in frühen Lebensjahren besonders deutlich. Es konnte kein Hinweis für einen positiven Zusammenhang zwischen der Förderung von motorischen Fähigkeiten und der Verbesserung kognitiver Kompetenzen gefunden werden. Der Autor verweist auf die Notwendigkeit, diesen letzten Punkt mithilfe weiterer Studien differenziert zu betrachten, insbesondere, da die Termini „motorische“ bzw. „kognitive Leistungsfähigkeit“ zum Zeitpunkt der gesichteten Untersuchungen nicht explizit definiert seien.

Graf et al. (2003, 144ff.) stellten im Rahmen der Einschulungsuntersuchung einen positiven Zusammenhang fest zwischen der Konzentrationsfähigkeit von Kindern und der motorischen Koordinationsfähigkeit.

Studien, die sich mit psychomotorischen Interventionen im Hinblick auf die Verbesserung kognitiver Aspekte beschäftigen, liefern ebenfalls ein recht uneinheitliches Ergebnisprofil: So konnten Schuck & Adden (1971, 273ff.) in einer Studie an siebenjährigen, lernbeeinträchtigten Schülern mithilfe eines sechswöchigen psychomotorischen Trainings eine leichte Verbesserung der Intelligenzleistung feststellen. Eggert et al. (1975, 49ff.) verglichen an Grundschülern mit Lese-Rechtschreibschwäche die Auswirkungen einer symptomorientierten, kognitiv-verbal ausgerichteten Förderung mit einem psychomotorischen Training und stellten hingegen ein uneinheitliches Resultat fest. In beiden Gruppen konnte bei einzelnen Schülern eine Verbesserung von Teilleistungen der Lese-Rechtschreibkompetenz ermittelt werden, jedoch konnte der psychomotorischen Übungsbehandlung kein überlegener Erfolg zugeschrieben werden. Beudels (1996, 32ff.) stellte in einer zweijährigen Längsschnittstudie, in der die Wirksamkeit psychomotorischer Fördermaßnahmen bei Kindern, die von der Schule zurück gestellt wurden, überprüft wurde, fest, dass sich die Interventionen sowohl auf motorische als auch auf intellektuelle Fähigkeiten der Kinder positiv auswirkten. Moser & Christiansen (2000, 94f.) konnten in einer Feldstudie, bei der ein zehnwöchiges psychomotorisches Training mit 40 siebenund achtjährigen Kindern durchgeführt wurde, keinen nachweisbaren Effekt des Trainings auf die kognitive Leistungsfähigkeit erkennen. Sie stellen allerdings ebenfalls einen korrelativen Zusammenhang zwischen dem motorischen und dem kognitiven Funktionsniveau fest. Voelcker-Rehage (2005, 360f.) konnte hingegen anhand einer Studie an 85 Vorschulkindern eine positive Korrelation zwischen motorischen Fähigkeiten und der optischenDifferenzierungsleistung, diealsbasalekognitiveFunktioneingestuft wird, nachweisen. Auch Lommer (2009, 122f.) wies anhand von zwei Einzelfallstudien an 12jährigen Jungen mit diagnostizierter Dyskalkulie nach, dass sich bei beiden Kindern die Rechenleistung nach einer psychomotorischen Übungsbehandlung signifikant verbesserte. Eggert & Koller (2006, 221f.) fassen den Forschungsstand zur Wirksamkeit psychomotorischer Interventionen in Bezug auf die Verbesserung von Lernverhalten wie folgt zusammen: Eine Verbesserung des schulischen Lernens lässt sich durch die bisherigen Forschungsergebnisse noch nicht befriedigend nachweisen, wobei erwiesen ist, dass Kinder mit niedrigem kognitiven Ausgangsniveau stärker von psychomotorischen Übungsmaßnahmen profitieren als ihre leistungsstärkeren Mitschüler. Positive Ergebnisse erzielt die Psychomotorik v.a. im emotionalsozialen Förderbereich, und eine Verbesserung motorischer Fähigkeiten kann am ehesten im Alter zwischen vier und zwölf Jahren erzielt werden.

Zur INPP-Methode finden sich bislang eine weit geringere Anzahl empirischer Arbeiten. Aus diesem Grund werden an dieser Stelle Studien hinzugezogen, die sich mit thematisch verwandten Fragestellungen beschäftigten. Erste Ausführungen über eine kausale Beziehung zwischen einer mangelhaften Ausreifung des ZNS und einer Beeinträchtigung des schulischen Lernverhaltens stammen von Bender (1978, 322). McPhillips et al. (2000, 539ff.) untersuchten in einer Doppelblindstudie Grundschüler mit einem unzureichend integrierten frühkindlichen Reflex (ATNR-asymmetrisch tonischer Nackenreflex) und diagnostizierter Lese-Rechtschreib-Schwäche. Sie konnten durch die Therapie des fortbestehenden Reflexmusters, in der Elemente der INPP-Methode verwendet wurden, diesen Reflex vermehrt hemmen. Weiterhin verbesserten sich die Lese-Rechtschreib-Kompetenzen der Experimentalgruppe deutlich im Vergleich zu den Fähigkeiten der Kontrollgruppe. Die Autoren verweisen abschließend jedoch auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen, um die Auswirkungen persistierender Reflexe auf die sensomotorische Entwicklung, die Sprachentwicklung sowie die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten näher zu bestimmen. Taylor et al. (2004, 28ff.) konnten anhand einer Studie an 109 Jungen im Alter von sieben bis zehn Jahren einen Zusammenhang zwischen vier persistierenden frühkindlichen Reflexen und Symptomen der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung feststellen. Bein-Wierzbinski (2004, 305f.) stellt anhand einer Studie an 46 Kindern einen Zusammenhang her zwischen einem nicht vollständig durchlaufenen neuromotorischen Aufrichtungsprozess, der die Entwicklung der Blickmotorik beeinflusst und sich in der Folge auf räumlich-konstruktive Fähigkeiten des Kindes beeinträchtigend auswirkt. McPhillips & Sheehy (2004, 334ff.) konnten feststellen, dass der ATNR häufiger bei Kindern mit Lese-Rechtschreibschwäche zu finden ist, als bei Kindern mit mittleren oder starken Lese-Rechtschreibkompetenzen. Sie wenden allerdings ein, dass kein monokausaler Zusammenhang zu bestehen scheint, da sich der Reflex auch bei einigen Kindern der stärkeren Testgruppe findet und bei einigen Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht nachweisbar ist. Bittmann et al. (2005, 350f.) fanden in einer Untersuchung an 773 Grundschulkindern heraus, dass diejenigen Kinder, die sehr gute Leistungen im Bereich Lesen, Schreiben sowie Mathematik erbrachten, auch eine bessere posturale Balancefähigkeit [die Fähigkeit, den Körper im Gleichgewicht zu halten (Anm. d. Verf.)] aufwiesen als diejenigen Kinder, die schlechtere Leistungen in den schulischen Bereichen aufwiesen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Chan (2006, 84ff.),die anhand einer Studie an 349 Kindern im Vorschulalter eine positive Korrelation zwischen posturaler Balance und Intelligenzparametern, gemessen mit dem bildbasierten Intelligenztest für das Vorschulalter, feststellen konnte. Goddard Blythe (2005a, 425ff.) fasst die Ergebnisse von sechs unabhängig voneinander durchgeführten Studien zusammen, die an Regelschulen durchgeführt wurden. Es wurde der Zusammenhang zwischen drei unzureichend integrierten frühkindlichen Reflexen und Lernschwierigkeiten sowie die Effizienz der Intervention nach der INPP-Methode untersucht. In allen Studien zeigte sich ein Zusammenhang zwischen unzureichend integrierten frühkindlichen Reflexen und Lernschwierigkeiten. Das Training nach dem INPP-Konzept, durchgeführt über die Dauer eines Schuljahres, wirkte sich bei allen Kindern positiv auf sensomotorische Fähigkeiten wie Koordination und Gleichgewicht aus. Eine Verbesserung der Lernleistung konnte lediglich bei den eingangs als lernschwach eingestuften Kindern festgestellt werden.

3. Methodisches Vorgehen

Um den Ablauf sensomotorischer Prozesse nachvollziehbar zu machen, erfolgt zunächst die Darstellung relevanter neurophysiologischer Grundlagen, indem der Aufbau des Nervensystems, die Funktion der Sinnesorgane sowie abschließend das sensomotorische Zusammenwirken erörtert wird. Im nächsten Kapitel werden neurophysiologische Grundlagen des Lernvorgangs dargestellt und es wird der Begriff „Lernen“ aus kognitiv-konstruktivistischer Perspektive erläutert. Darauf aufbauend wird ein Lernmodell vorgestellt, das individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens aufzeigt, um den schulischen Lernprozess als Teil der Bezugsgrundlage für die Ana-lyse der Förderkonzepte darzulegen. In einem kurzen Exkurs wird die Schwierigkeit einer prägnanten Definition und Klassifikation des vielschichtigen Phänomens „Lernstörung“ aufgezeigt, da die Zuweisung der „Ressource Förderung“ zumeist auf der Basis einer festgeschriebenen Symptomatik beruht. In einem nächsten Schritt werden das Förderkonzept nach der INPP-Methode sowie das PsychomotorikKonzept vorgestellt, wobei zunächst auf theoretische Grundlagen eingegangen wird, um in einem nächsten Schritt das Behandlungskonzept zu erörtern. In einer vergleichenden Analyse erfolgt daraufhin die differenzierte Betrachtung der Konzepte mit dem Ziel, den jeweiligen Einfluss auf den individuellen Lernprozess herauszustellen. In der abschließenden Diskussion werden die erarbeiteten Ergebnisse kritisch betrachtet und es wird ein Bezug zur sonderpädagogischen Förderpraxis hergestellt.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit die männliche Schreibweise verwendet.

4. Neurophysiologische Grundlagen

Um das komplexe Geschehen der motorischen Steuerung zu verdeutlichen, werden im folgenden Abschnitt neurophysiologische Grundlagen erläutert. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden lediglich diejenigen Strukturen in ihrer Anatomie, Funktionsweise und ihrem Zusammenspiel beschrieben, die für das thematische Verständnis der Arbeit relevant sind.

Es wird zunächst ein Überblick über den Aufbau des Nervensystems und dessen unterschiedliche Komponenten gegeben, um darauf aufbauend die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen und die entsprechenden Sinnesorgane zu beschreiben. Im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels erfolgt die zusammenfassende Darstellung des sensomotorischen Zusammenspiels.

4.1. Aufbau des Nervensystems

Über das Nervensystem kann ein Individuum Informationen aus der Umwelt aufnehmen, verarbeiten und mit der Umwelt in Kontakt treten. Es lässt sich funktionell unterteilen in das zentrale Nervensystem (ZNS), das sich aus Gehirn und Rückenmark zusammensetzt, und das periphere Nervensystem (PNS), das aus den Hirnund Spinalnerven besteht. Eine weitere Differenzierung lässt sich vornehmen in somatisches und vegetatives Nervensystem. Das somatische Nervensystem dient der bewussten sensiblen Wahrnehmung und der bewussten motorischen Steuerung, während das vegetative Nervensystem für die (meist unbewusste) Steuerung verschiedener Körperfunktionen über die inneren Organe zuständig ist (vgl. Trepel 2003, 18).

4.1.1.Neuron

Die Nervenzelle ist die funktionelle Grundeinheit des Nervensystems. Sie besteht aus einem Zellkörper, der den Zellkern beinhaltet, und aus einem oder mehreren Fortsätzen, die Erregung weitergeben oder empfangen können. Über diese Dendriten (Erregungsempfang) und Axone (Erregungsweitergabe) steht jedes Neuron mit anderen Nerven-, Muskeloder Drüsenzellen in Verbindung. Während das PNS vorwiegend aus Fortsätzen der Nervenzellen besteht, finden sich im ZNS vollständige Neuronen, die auf vielfache Weise miteinander verknüpft sind und auf diese Weise Informationen über elektrische Signale austauschen.

An der Verbindungsstelle von zwei Neuronen, der Synapse, erfolgt die Reizweiterleitung über bestimmte chemische Botenstoffe, die Transmitter, die erregend oder hemmend auf die nachfolgende Zelle (Erfolgszelle) wirken. Die Erfolgszelle registriert die Anzahl ankommender erregender und hemmender Impulse und leitet nach dem „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ eine Erregung weiter oder hemmt sie (vgl. Trepel 2003, 2ff.).

Die Anzahl der Neuronen erreicht vor der Geburt ihr Maximum und nimmt postpartal nur noch ab, während die Anzahl und Ausbildung der Synapsen ab dem Zeitpunkt der Geburt rapide zunimmt. Diese flexiblen Verknüpfungen des sich entwickelnden Gehirns, die in der individuellen Interaktion mit den jeweiligen Gegebenheiten der Umwelt erfolgen, werden als neuronale Plastizität bezeichnet. Diese Plastizität (die Eigenschaft, formbar zu sein) besteht zwar lebenslänglich, in der Kindheit ist sie allerdings besonders ausgeprägt, so dass Lernprozesse in dieser Lebensphase häufig schneller und „einfacher“ erfolgen (vgl. Petermann et al. 2003, 93f.). Des Weiteren lässt sich die Verknüpfung der Synapsen unterscheiden in erfahrungserwartende und erfahrungsabhängige Prozesse: Die erfahrungserwartenden Prozesse (z.B. der menschliche Spracherwerb) sind durch eine Synapsenüberproduktion hinsichtlich arttypischer Erfahrungen zu bestimmten, kritischen Lernphasen gekennzeichnet, während erfahrungsabhängige Prozesse lebenslänglich erfolgen und durch eine Veränderung der Synapsen aufgrund individueller Umwelterfahrungen gekennzeichnet sind (vgl. Petermann et al., 105f.).

4.1.2.Gliazellen

Die Gliazellen haben vielfältige Aufgaben. Sie fungieren als Stützgewebe der Neuronen und sind an Abwehr, Stoffwechselversorgung und Isolierung der Nervenzellen beteiligt (vgl. Faller & Schünke 2008, 113). Sie ummanteln die Fortsätze der Neuronen mit einer sog. Myelinscheide, die aufgrund ihrer isolierenden Funktion die Weiterleitung der neuronalen Impulse beschleunigt. Diese Myelinisierung beginnt intrauterin mit den Neuronen des Rückenmarks und setzt kurz vor der Geburt im Gehirn ein. Postpartal erstreckt sich dieser Prozess im Laufe der ersten Lebensjahre in einer genetisch grob bestimmten Abfolge zunächst auf ältere Hirnregionen und anschließend auf Regionen, die für höhere kognitive Prozesse zuständig sind. Das Ausmaß dieses Prozesses lässt sich an der Gewichtszunahme des Gehirns verdeutlichen: zum Zeitpunkt der Geburt wiegt es ca. 350g, während es bei einem 20jährigen Menschen ca. 1350g wiegt (vgl. Petermann et al. 2003, 77ff.).

4.1.3.Peripheres Nervensystem

Das PNS als Rezeptorund Effektororgan des ZNS leitet diesem über afferente Nervenbahnenankommende Informationen derunterschiedlichen Körperregionen zu und gibt über abgehende (efferente) Nervenbahnen Impulse des ZNS an die Erfolgsorgane zurück. Es besteht aus 31 Spinalnervenpaaren, die aus dem Rückenmark austreten und Hals, Rumpf und Extremitäten versorgen, sowie 12 Hirnnervenpaaren, die ihren Ursprung im Gehirn haben und Kopf und Hals versorgen (vgl. Trepel 2003, 21ff.).

4.1.4.Zentrales Nervensystem

Rückenmark

Das Rückenmark befindet sich im Wirbelkanal. Es enthält Neurone, die für die Motorik zuständig sind (Motoneurone), solche, die im Dienst der Sensibilität stehen, sowie im Brustund Lendenwirbelbereich vegetative Neuronengruppen. Die meisten sensiblen und motorischen Nervenbahnen, die die Neurone des Rückenmarks mitdem Gehirn verbinden, kreuzen die Körpermittellinie, so dass die Körperperipherie im Gehirn spiegelbildlich repräsentiert ist (vgl. Trepel 2003, 81ff.). Die absteigenden Bahnen werden namentlich unterschieden in die Pyramidenbahn, der eher die Leitung willkürlich gesteuerter motorischer Impulse zugesprochen wird, und die extrapyramidale Bahn, die vorwiegend für die Leitung der unwillkürlichen Muskelaktivität zuständig ist. Diese Differenzierung gilt mittlerweile zwar als veraltet, da sich diese motorischen Abläufe funktionell nicht voneinander trennen lassen, die Nomenklatur wird derzeit jedoch weiterverwendet (vgl. Kirsch et al. 2010, 774).

Hirnstamm: Verlängertes Mark, Brücke, Mittelhirn

Hier finden sich die meisten Ursprungsorte der Hirnnerven, die Hirnnervenkerne. Im Bereich des verlängerten Marks kreuzen 4/5 der aufund absteigenden Nervenbahnen, so dass die Körperhälften vorwiegend durch die kontralateralen Gehirnhälften gesteuert werden. Wichtige Gebiete für die motorische Steuerung sind der Olivenkernkomplex, dessen Kerne Bestandteil der extrapyramidalen Bahn sind, die Formatio reticularis, ein Komplex von Nervenzellen, der verschiedene vegetative Funktionen steuert und ebenfalls über die extrapyramidale Bahn an der Steuerung von motorischen Funktionen beteiligt ist. Der Nucleus ruber beeinflusst über die extrapyramidale Bahn die Muskelspannung, die für die aufrechte Körperhaltung nötig ist. Die Substantia nigra steht in enger Verbindung mit den weiter unten beschriebenen Basalkernen und ist u.a. für die Bewegungsinitiierung zuständig. Weiterhin finden sich hier verschiedene Zentren für die Steuerung der Augenbewegung (vgl. Kirsch et al. 2010, 774ff.).

Kleinhirn

Nahezu alle Funktionen des Kleinhirns beziehen sich auf motorische Funktionen, wobei sich verschiedene Areale unterscheiden lassen: Das Vestibulocerebellum erhält vom Gleichgewichtsorgan des Körpers, das sich im Innenohr befindet, Informationen über die Position des Körpers sowie über Körperbewegungen. Auf dieses Basis ist es für die Stabilisation von Haltung und Bewegung zuständig und steuert die Bewegung der Augen. Aus der Körperperipherie empfängt das Spinocerebellum über die Spinalnerven und das Rückenmark Informationen über die Stellung der Extremitäten und des Rumpfes sowie über den Zustand der Muskelspannung. Die Informationen werden direkt verarbeitet und ggf. werden entsprechende Signale zur Korrektur der Muskelspannung und zur Initiierung von Bewegung v.a. der Extremitäten über das Rückenmark zurück geleitet. Das Pontocerebellum ist maßgeblich beteiligt beim Erlernen und bei der Feinabstimmung von Bewegungen (vgl. Trepel 2003, 162ff.).

Zwischenhirn

Das Zwischenhirn lässt sich unterteilen in Epithalamus, Thalamus, Subthalamus und Hypothalamus. Von Bedeutung für das Verständnis motorischer Abläufe ist der Thalamus, der in Verbindung mit nahezu allen sensorischen und sensiblen Nervenbahnen steht, die von hier aus zum Großhirn weiterlaufen und damit zu bewusster Wahrnehmung werden. Eine wichtige Funktion des Thalamus als „Tor zur Großhirnrinde“ ist somit die Integration, aber auch die selektive Auslese von Sinneswahrnehmungen, die schließlich ins Bewusstsein gelangen (vgl. Trepel 2003, 170f.).

Großhirn

Das Großhirn als differenziertester und komplexester Teil des ZNS ist in dieser Form nur beim Menschen zu finden und in vielen Bereichen erst im Ansatz erforscht. Zwar lassen sich viele Hirnareale mit bestimmten Funktionen verbinden, dennoch lässt sich das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Strukturen aufgrund individueller Unterschiede nicht en detail wiedergeben (vgl. Petermann et al. 2003, 93f.).

Das Großhirn ist in zwei Hälften (Hemisphären) unterteilt, die über ein Bündel von Nervenfasern, den Balken, miteinander in Verbindung stehen. Die Großhirnrinde (Kortex) bedeckt das Großhirn, ihre Oberfläche ist für eine maximale Oberflächenvergrößerung bei minimalem Raumverbrauch stark gefaltet, so dass sich Furchen und Windungen erkennen lassen. Hier werden bewusste Eindrücke und höhere kognitive Prozesse verarbeitet. Die Großhirnrinde lässt sich grob in vier Lappen gliedern: Im Frontallappen finden abstrakte kognitive Prozesse wie Planung oder Entscheidungsfindung statt Ein wichtiger Bereich für die motorische Steuerung ist der motorische Kortex, der die letzte Station für motorische Impulse darstellt, die von hier aus über das Rückenmark und periphere Nerven an die ausführende Muskulatur geleitet werden. In Form des „Homunculus“ sind die einzelnen Körperabschnitte dabei als Areale von unterschiedlicher Größe auf dem Motokortex repräsentiert. Je differenzierter die motorischen Aufgaben, desto größer das repräsentierte Areal: Hand und Mund nehmen die größte Fläche in Anspruch (vgl. Waldeyer 2003, 499).

Im Schläfenlappen finden sich Gebiete, die zuständig sind für Sprachfähigkeit, Hören, Lernprozesse und auch emotionale Vorgänge. Im Scheitellappen werden Sinneseindrücke verarbeitet, weiterhin findet sich hier die räumlich Wahrnehmung und die Fähigkeit zu abstraktem Denken. Im Hinterhauptslappen werden visuelle Eindrücke verarbeitet (vgl. Trepel 2003, 188).

Das limbische System, das aus den drei Komponenten Hippokampus, Amygdala und Hypothalamus besteht, ist für die Regulation von Verhalten und emotionalen Zuständen in Verbindung mit kognitiven Zuständen zuständig (vgl. Petermann 2003, 137). Eine wichtige Funktion für die Steuerung der Motorik nehmen die Basalkerne ein, eine Ansammlung von Neuronen, die für die Koordination willkürlich geplanter Bewegungsabläufe zuständig sind. Über Afferenzen aus dem gesamten Cortex und dem limbischen System werden von hier aus Bewegungsimpulse initiiert. Die Bewegungsabläufe werden vorbereitet, durch die Rückmeldung sensibler Afferenzen ständig angepasst und ggf. als erlernte Bewegungsprogramme abgespeichert. Über Rückmeldungen an den Kortex erfolgt auch eine Beeinflussung emotionaler und kognitiver Prozesse (vgl. Kirsch et al. 2010, 774).

4.1.5. Vegetatives Nervensystem

Dieser Teil des Nervensystems steuert zumeist unbewusst die Funktion der inneren Organe und Gefäße. Es lassen sich zwei Systeme unterscheiden: Der Sympathikus wirkt energiemobilisierend und aktivitätssteigernd, während der Parasympathikus dämpfend und energiekonservierend wirkt. Die Steuerung erfolgt über Zentren im Hirnstamm und im Rückenmark sowie über den Hypothalamus und das limbische System (vgl. Trepel 2003, 277ff.).

4.2.Sinneswahrnehmungen

Das ZNS nimmt über verschiedene Sinneszellen (Rezeptoren) Informationen aus der Umwelt auf und wandelt diese in elektrische Erregung um, so dass der jeweilige Reiz verarbeitet werden kann (vgl. Faller & Schünke 2008, 708).

Im folgenden Abschnitt werden die Sinnesorgane für die bewussten Empfindungen Sehen, Hören und Tasten dargestellt. Riechen und Schmecken werden an dieser Stelle nicht näher erläutert, da sie für die Thematik dieser Arbeit keinen nennenswerten Stellenwert besitzen. Weiterhin werden die unbewusst aufgenommenen Sinnesempfindungen der Propriozeption und des Gleichgewichts erörtert.

4.2.1. Sehen

Das Sehorgan besteht aus dem Augapfel und seinen Hilfsstrukturen, der Augenhöhle, der Bindehaut, der Tränendrüse, dem Augenlid und den Augenmuskeln. Der Augapfel besitzt einen lichtbrechenden (Hornhaut, Linse, Glaskörper) und einen lichtwahrnehmenden Anteil (Netzhaut) (vgl. Trepel 2003, 297ff.). Die Rezeptoren der Netzhaut (Stäbchen und Zäpfchen) nehmen visuelle Reize auf und leiten diese über die Nervenzellen der Sehbahn an optische Verarbeitungszentren im Hirnstamm, wo die Informationen in Beziehung zu anderen Umwelteindrücken, v.a. von Muskeln, Gelenken und dem Gleichgewichtsorgan, gesetzt werden. Die Impulse werden an weitere Zentren des Hirnstamms und des Kleinhirns geleitet, so dass Augenund Kopfbewegungen vornehmlich im Zusammenhang mit visuellen Reizen erfolgen. Einige Impulse werden an andere Hirnareale geleitet, in denen komplexe Funktionen wie schematische Einordnung des Gesehenen oder Integration emotionaler Impulse stattfinden (vgl. Ayres 2002, 57f.).

4.2.2. Hören

Das Ohr enthält zwei Sinnesorgane, die im Innenohr eine anatomische Einheit bilden: das Hörorgan für die akustische Wahrnehmung und das Gleichgewichtsorgan für das Lageund Beschleunigungsempfinden.

Akustische Eindrücke in Form von Schallwellen gelangen über die Ohrmuschel, äußeren Gehörgang und Trommelfell ins Mittelohr, wo der Schall über die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel vom Medium Luft auf das Medium Peribzw. Endolymphe in den Schneckengängen im Innenohr übertragen wird. Das eigentliche Hörorgan, die Schnecke, besteht aus einem schneckenartig gewundenen Gang mit insgesamt 15000 Sinneszellen (Haarzellen), die durch den Flüssigkeitsstrom der Perilymphe an unterschiedlichen Stellen in Bewegung versetzt werden. Die Haarzellen stehen mit Neuronen in Kontakt, die die Impulse über den Hörnerv an den Hirnstamm weiterleiten (vgl. Trepel 2003, 314ff.). Hier werden die Hörimpulse gemeinsam mit Informationen aus dem Gleichgewichtsorgan, den Berührungsund Lagerezeptoren sowie optischen Eindrücken verarbeitet. Wie bei der visuellen Verarbeitung werden einige Informationen an weitere Hirnareale geleitet, wo sie ebenfalls in Beziehung zu anderen Informationen gesetzt werden bzw. als gebündelte Sinneswahrnehmung weiterverarbeitet werden (vgl. Ayres 2002, 58).

4.2.3. Berührung, Tastempfinden

In der Haut befinden sich Rezeptoren für mechanische und thermische Reize sowie für Schmerz. Die Empfindsamkeit der einzelnen Körperregionen variiert dabei stark, wobei sich die höchste Dichte an Sinneszellen im Bereich von Zunge, Gesicht und Handflächen findet (vgl. Kirsch et al. 2010, 699f.).

4.2.4. Gleichgewicht

Das Vestibularorgan ist mit dem Hörorgan im Innenohr verbunden. Das sog. Labyrinth besteht aus drei unterschiedlich angeordneten Bogengängen, die mit Endolymphe gefüllt sind, und Drehbeschleunigung des Kopfes registrieren, sowie aus einem großen und einem kleinen Vorhofsäckchen, deren Sinneszellen durch vertikale und horizontale Bewegungen stimuliert werden. Die Sinneszellen registrieren über Sinneshärchen, die durch die Bewegung der Endolymphe stimuliert werden, die Bewegung des Kopfes und melden diese Information über den Gleichgewichtsnerv, der mit dem Hörnerv als gemeinsame Hörbahn verläuft, an den Hirnstamm (vgl. Faller & Schünke 2008, 739f.). Vornehmlich Hirnstamm und Kleinhirn verarbeiten die vestibulären Informationen und senden motorische Impulse über das Rückenmark an die Muskulatur, so dass Gleichgewichtsreaktionen größtenteils unbewusst erfolgen. Bestimmte Informationen werden an höhere Hirnzentren geleitet und in Beziehung zu anderen Sinneswahrnehmungen gesetzt, so dass eine Raum-Lage-Orientierung erfolgen kann (vgl. Ayres 2002, 62f.).

4.2.5. Propriozeption

Rezeptoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken leiten Informationen über den Spannungszustand der Muskulatur v.a. an Hirnstamm und Kleinhirn, wo diese zumeist unbewusst verarbeitet werden. Diese Eigenwahrnehmung ist maßgeblich beteiligt an der Steuerung und Feinabstimmung von Bewegungen (vgl. Ayres 2002, 59f.).

4.3.Sensomotorisches Zusammenwirken

Die physiologischen Bewegungsabläufe des Menschen benötigen als Voraussetzung eine der Haltung oder Bewegung des Körpers angemessene Muskelspannung (Muskeltonus), ein koordiniertes muskuläres Zusammenspiel sowie eine adäquate sensorische Rückmeldung über die Position bzw. Bewegung des Körpers im Raum. Angeborene und erworbene sensomotorische Bewegungsmuster entwickeln sich im Laufe der kindlichen Entwicklung zu immer komplexeren Bewegungsabläufen (vgl. Stemme & von Eickstedt 1998, 20f.). Einfache motorische Funktionen wie Dehnungsreflexe oder die Sicherung der aufrechten Körperhaltung (über sog. Halteund Stellreflexe) werden über Reflexbögen gesteuert. Je nachdem, welchen Grad an Komplexität ein Bewegungsablauf aufweist, sind weitere Systeme involviert. Die Planung einer willkürlichen Bewegung erfolgt u.a. im präfrontalen Cortex, wobei über den motorischen Cortex Bewegungsprogramme aus dem Kleinhirn und den Basalkernen abgerufen werden. Über die Pyramidenbahn und das PNS werden die Bewegungsimpulse an die Muskulatur weitergeleitet. Rezeptoren aus der Körperperipherie geben dem ZNS Rückmeldung über den jeweiligen Spannungszustand der Muskulatur, so dass eine ständige Anpassung bzw. Variation der Bewegungsimpulse erfolgen kann (vgl. Kirsch et al. 2010, 768).

5. Lernen

Um einen Bezugsrahmen für die Analyse der Behandlungskonzepte herzustellen, ist es erforderlich, den individuellen Lernprozess und die Vorgänge, die unter diesem Begriff subsumiert werden, näher zu betrachten.

Hierfür wird zu Beginn des folgenden Kapitels dargestellt, welche neurophysiologischen Prozesse sich im Gehirn beim Lernen ereignen. Weiterführend wird der Lernvorgang aus kognitiv-konstruktivistischer Perspektive erläutert. Hieraus ergibt sich die für die nachfolgenden Kapitel gültige Definition von Lernen. Im Anschluss daran erfolgt die differenzierte Betrachtung des individuellen Lernprozesses anhand eines Modells, das individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens darstellt und analysiert.

5.1. Neurophysiologische Prozesse

5.1.1. Synaptogenese

In der ersten Hälfte der Schwangerschaft entstehen pro Minute etwa 500.000 Nervenzellen. Diese Nervenzellen können nach der Geburt häufig noch nicht miteinander kommunizieren, so dass sich postpartal im Zuge der sog. Synaptogenese Verbindungen entwickeln, über die sich die Neurone miteinander vernetzen. Die Synaptogenese erfolgt zunächst unspezifisch und führt vielerorts zu überzähligen Verbindungen. Die Hälfte davon wird im Laufe der weiteren Entwicklung wieder abgebaut, so dass nicht die Zunahme, sondern die Selektion und der Abbau der unbenötigten synaptischen Verbindungen die biologische Grundlage für Entwicklungsprozesse bilden (vgl. Klatte 2007, 123f.). Die Hirnareale reifen dabei in unterschiedlicher Geschwindigkeit: So reifen im Bereich des Kortex zunächst die sensorischen Gebiete und anschließend die motorischen Bereiche, während die für komplexe kognitive Funktionen zuständigen Hirnareale einen Reifungsprozess von mehreren Jahren benötigen (vgl. Blakemore & Frith 2005, 41).

Zwischen der Entwicklung motorischer und kognitiver Fähigkeiten besteht ein Zusammenhang: Kognitive Vorgänge drücken sich über motorische Aktionen aus und werden wiederum durch motorische Aktivität stimuliert. Neue Bewegungsabläufe werden häufig durch mentales Probehandeln vorbereitet, bei der bereits diejenigen Hirnareale aktiviert werden, die auch für die willkürliche Ausführung zuständig sind (vgl. Fahle 2003, 662).

Lernprozesse finden statt, wenn ein Individuum sich mental und körperlich mit den Gegebenheiten seiner Umwelt auseinandersetzt. Die Neuronen, die dabei miteinander in Verbindung treten, schaffen auf diese Weise Verbindungswege, die sich je nach Dauer, Intensität und Häufigkeit der Nutzung zu komplexen Netzwerken verbinden können. Viele dieser Netzwerke spezialisieren sich in entsprechenden Hirnregionen auf bestimmte Funktionen, dennoch bestehen unzählige Verbindungen zwischen den einzelnen Hirnarealen. Ca. eine Trillion Neuronenverbindungen weist das Gehirn eines erwachsenen Menschen auf (vgl. Hannaford 2001, 27ff.). Diese Netzwerke oder Zellverbände speichern bestimmte Sachverhalte ab und weisen bei erneutem Abruf eine erhöhte Verhaltensbereitschaft auf, so dass sie immer effizienter reagieren können. Je öfter bestimmte Neuronenverbindungen aktiviert werden, desto stärker bilden sich die beschriebenen Verbindungen aus, so dass Lernen schließlich zu sichtbaren materiellen Veränderungen im Gehirn führen kann (vgl. Mackowiak et al. 2008, 22).

5.1.2. Neuronale Plastizität

Die immense Anzahl an Neuronen und möglicher neuronaler Vernetzungen sorgt für eine hohe Flexibilität im Anpassungsprozess eines Säuglings an individuelle Umweltbedingungen. Durch die jeweiligen Erfahrungen, die ein Säugling mit den Gegebenheiten seiner Umwelt macht, differenzieren sich verschiedene Hirnfunktionen mehr und mehr aus. So können Säuglinge z.B. nach der Geburt verschiedene Gesichtsformen, darunter auch Affengesichter, oder jegliche in menschlichen Sprachen vorkommenden Laute unterscheiden. Ab ca. sechs Monaten reduziert sich diese globale Fähigkeit. Gesichtszüge aus dem individuellen Lebensumfeld werden differenzierter erkannt, während die Unterscheidungsfähigkeit für fremdartige Gesichter nach und nach abnimmt, ebenso verhält es sich mit sprachlichen Lauten. Durch diese Reduktion kann das Gehirn die jeweiligen relevanten Informationen effizienter und präziser verarbeiten (vgl. Klatte 2007, 126f.).

Die größte Plastizität weist das Gehirn im frühen Kindesalter auf, so dass viele Fähigkeiten und Fertigkeiten in diesem Alter besonders leicht erlernt werden können. Je nach Hirnareal schränkt sich diese Anpassungsfähigkeit im Laufe des Jugendalters immer mehr ein und ist im Erwachsenenalter nur noch in geringem Maße vorhanden. In bestimmten sensiblen Phasen vollzieht sich der Abbau bzw. die Stabilisierung von Synapsen bei entsprechendem Input in bestimmten Hirnarealen besonders zügig, so dass sich Lernprozesse in diesem Zeitraum besonders effizient vollziehen können (vgl. Schneider & Margraf 2009, 67).

5.2 . Der Lernvorgang aus kognitiv-konstruktivistischer Perspektive

Der Begriff „Lernen“ beinhaltet viele Facetten. Je nach zugrunde gelegter Theorie variieren die Auffassungen darüber, mit welchem Ergebnis sich ein Lernprozess vollzieht: Während verhaltensorientierte Theorien das beobachtbare, äußerliche Verhalten eines Individuums thematisieren, betrachtet die kognitiv orientierte Psychologie Bereiche wie Wissenserwerb, Sprache, Informationsverarbeitung in Form von Modellen der Begriffsund Konzeptbildung, des Handelns und Problemlösens. Kognitives Lernen umfasst demzufolge den Strukturierungsprozess zwischen dem Aufbau von Wissen, der Verknüpfung einzelner Wissensbereiche und der Initiierung daraus abgeleiteter Handlungen unter Berücksichtigung der Variablen Motivation, Volition und Emotionen (vgl. Wagner et al. 2009, 33). Es lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln untersuchen: Fokussiert man den Wissenserwerb, so vollzieht sich dieser Prozess durch die aktive Auseinandersetzung des Lernenden mit seiner Umwelt. Neu erworbenes Wissen wird z.B. durch schlussfolgerndes Denken in den bereits vorhandenen Wissensbestand eingegliedert und zu Netzwerken verknüpft (vgl. Winkel et al. 2006, 145ff.). Wird die Informationsverarbeitung in den Vordergrund gestellt, finden die mentalen Vorgänge des Verstehens, Abspeicherns und Abrufens von Informationen besondere Beachtung. Die Repräsentation von Wissen wird dabei mit den Begriffen Proposition, Schema und Skript umschrieben. Propositionen stellen die kleinsten Wissenseinheiten dar, während in Schemata bereits Wissenskomplexe als verallgemeinerte Erfahrungen gebündelt sind, die wiederum Subschemata beinhalten können, oder Teil eines übergeordneten Schemas sind. Skripte als Varianten von Schemata repräsentieren das Wissen über Handlungsabläufe und Ereignisfolgen (vgl. Edelmann & Wittmann 2012, 131f.).

Wird Lernen als Konstruktion von Wissen betrachtet, so wird die eher passive Darstellung des Wissenserwerbs durch einen konstruktivistischen Blickwinkel ergänzt, um die aktive Rolle des Lernenden hervorzuheben. Gestaltpsychologische Forschungen beschäftigen sich u.a. mit dem Lernen durch Einsicht. Die grundlegende Annahme dieser wissenschaftlichen Strömung ist, dass die menschliche Wahrnehmung als Ganzes betrachtet werden muss (das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile) und nicht mithilfe der Analyse isolierter Einzelfunktionen. Lernen durch Einsicht bedeutet, dass sich in der Betrachtung einzelner Elemente einer Situation neue Zusammenhänge erschließen, so dass sich schließlich ein neues Beziehungsgefüge für die Lösung eines Problems entwickeln kann (vgl. Hasselhorn & Gold 2009, 61f.).

Der Entwicklungspsychologe Piaget war ebenfalls der Ansicht, dass sich Erkenntnis nicht durch ein bloßes Registrieren und Übernehmen vorgefundener Strukturen vollzieht, sondern indem sich das Individuum aktiv mit der Umwelt auseinandersetzt und das erworbene Wissen in Schemata einordnet. In seiner Entwicklungstheorie entwickelte Piaget eine festgelegte Abfolge von Entwicklungsstadien, mithilfe derer sich das Kind durch konkrete oder gedanklich ausgeführte Operationen die Zusammenhänge seiner Umwelt erschließt (vgl. Piaget 2010, 44). Das erste Stadium stellt das sensomotorische Stadium dar. Dieses umfasst etwa die ersten zwei Lebensjahre und bildet die Grundlage für darauf aufbauende kognitive Prozesse. Die Organisation von Lernprozessen beschreibt Piaget folgendermaßen: Ein Organismus nimmt Informationen auf der Umwelt auf und reagiert darauf vor dem Hintergrund der ihm eigenen (kognitiven) Strukturen, d.h. er assimiliert diese. Lernverhalten beinhaltet aus der Sicht Piagets jedoch auch eine Veränderung der Strukturen des Organismus, so dass Flexibilität und Variantenreichtum möglich wird. Diese Anpassungsreaktion bezeichnet er als Akkomodation. Diese Prozesse vollziehen sich stets in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, und ihr Verhältnis sollte in einem stabilen Gleichgewicht stehen. Während des sensomotorischen Entwicklungsstadiums entwickelt sich die direkte Koordination von Verhaltensakten in der Interaktion mit der Umwelt und das Kind formt durch unterschiedliche Verhaltensschemata elementare Strukturen der Wahrnehmung und des Verhaltens aus (vgl. Piaget 1974, 4f.).

5.3 . Sc hlussfolgerung: Definition von Lernen

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Lernen aus kognitiv-konstruktivistischer Perspektive als ein selbstständiges, aktives Verarbeiten von Informationen und daraus resultierend als eine individuelle Konstruktion von Wissen betrachtet wird, die von einer Vielzahl individueller Faktoren abhängig ist (vgl. Hasselhorn & Gold 2009, 63f.). Lernen wird aus dieser Perspektive folglich als ein nicht direkt beobachtbares Konstrukt verstanden werden, das sich mittels definierter Ergebnisse (z.B. angemessenes Verhalten, Abruf von Wissen) erschließen lässt. Es ist durch wiederholte Erfahrungen des Individuums im Rahmen eines bestimmten Lernkontextes anhand einer überdauernden Änderung des Verhaltens oder der Verhaltensmöglichkeiten zu erkennen (vgl. Mackowiak et al. 2008, 13).

Als Verständnisgrundlage für das nachfolgend vorgestellte Lernmodell sollen Lernende daher als „aktive Informationsverarbeiter, die ihr Wissen selbstständig optimieren“ (Hammes-Schmitz 2011, 2) betrachtet werden.

5.4 . Komponenten des individuellen Lernprozesses: Das INVO-Modell

Für die nähere Betrachtung der unterschiedlichen Faktoren, die kognitive Lernprozesse beeinflussen, existieren verschiedene Lernmodelle, die jeweils bestimmte Parameter fokussieren. So thematisieren z.B. frühe Modelle insbesondere das Verhältnis zwischen Lehrund Lernzeit, während z.B. das ökosystemisch orientierte Makromodell der Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen von Helmke (2009) die wechselseitige Beeinflussung einer Vielzahl unterschiedlicher Wirkfaktoren berücksichtigt.

Um für die nachfolgende Analyse der Förderkonzepte einen Bezugsrahmen herzustellen, sollen an dieser Stelle individuelle Einflussfaktoren auf den Lernprozess erörtert werden. Hierfür erscheint das Modell individueller Voraussetzungen erfolgreichen Lernens (INVO-Modell) von Hasselhorn & Gold ein geeignetes Medium.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Darstellung 1: INVO-Modell (Hasselhorn & Gold 2009, 68)

Die Autoren (vgl. 2009, 68f.) erweitern in diesem Modell das von Pressley, Borkowski & Schneider (1989) entwickelte „Modell der guten Informationsverarbeitung“, in dem vorwiegend kognitive Aspekte thematisiert werden, um eine motivational-volitionale Komponente. Anhand der im nachfolgenden Abschnitt erörterten fünf Merkmalsbereiche, die einander wechselseitig beeinflussen, lassen sich individuelle Elemente des Lernprozesses differenziert analysieren.

5.4.1. Selektive Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis

Gedächtnis

Wahrnehmungsprozesse sind mit Gedächtnisleistungen verbunden, da das Wahrgenommene in Beziehung zu Bekanntem gesetzt wird. Aufgenommene Informationen werden enkodiert, d.h. ins Gedächtnis transferiert und dort abgespeichert, um bei Bedarf abgerufen zu werden. Dieser Vorgang kann in Form eines Mehrspeichermodells verstanden werden mit den unterschiedlichen Systemen des sensorischen Gedächtnisses, des Arbeitsgedächtnisses und des Langzeitgedächtnisses.

Das sensorische Gedächtnis speichert die von den Sinnesorganen aufgenommenen Reize zunächst für wenige Sekunden. Obwohl derzeit lediglich die Existenz eines sensorischen Registers für visuelle und auditive Stimuli belegt ist, nimmt man an, dass für jede sensorische Modalität ein sensorisches Gedächtnis existiert (vgl. Schermer 2006, 118). Das Arbeitsoder Kurzzeitgedächtnis betrachten Hasselhorn & Gold (2009, 73) als ein „internes, kognitives System, das es ermöglicht, mehrere Informationen vorübergehend bewusst zu halten und miteinander in Beziehung zu setzen“. Es kann als temporärer Zwischenspeicher fünf bis neun Informationen für einen begrenzten Zeitraum abspeichern und wird in einem Modell von Baddeley & Hitch (1974) mithilfe von drei Systemen veranschaulicht: der zentralen Exekutive sowie ihren zwei „Dienstleistungssystemen“ für die Verarbeitung sprachbasierter und visuell-räumlicher Informationen (vgl. Schneider & Lindenberger 2012, 423).

Das phonologische Arbeitsgedächtnis (phonologische Schleife), das für die Speicherung sprachbasierter Informationen zuständig ist, besteht aus zwei Komponenten: dem phonetischen Speicher, der klangliche und sprachliche Informationen für ein bis zwei Sekunden repräsentiert, und dem subvokalen Kontrollprozess, der wichtige Informationen durch ein „inneres Sprechen“ über einen längeren Zeitraum präsent halten kann. Das visuell-räumliche Arbeitsgedächtnis (visuell-räumlicher Notizblock) lässt sich ebenfalls in zwei Komponenten unterteilen: visuelle Muster werden in einem statisches Repräsentationsformat gespeichert, während räumliche Bewegungen dynamisch repräsentiert werden. Das Konstrukt der zentralen Exekutive, in der unterschiedliche mentale Vorgänge vereint werden, beschreibt die Kontrolle der Aufmerksamkeit und die Koordination von Informationen aus unterschiedlichen Quellen (vgl. Hasselhorn & Gold 2009, 75ff.).

Die Gedächtnisleistung ist abhängig von der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, der vorhandenen Wissensbasis sowie metakognitiven Aktivitäten des Lerners (vgl. Büttner & Mähler 2004, 210).

Aufmerksamkeit

Selektive Aufmerksamkeit ist eine wichtige Lernvoraussetzung, und im Umkehrschluss resultieren Lernschwierigkeiten vielfach aus Problemen bei der Fokussierung der Aufmerksamkeit. Auch lässt sich ein Zusammenhang zwischen Problemen bei der Aufmerksamkeitssteuerung und einer herabgesetzten Kapazität des Arbeitsgedächtnisses herstellen (vgl. Hasselhorn & Gold 2009, 72).

Über den Vorgang der Aufmerksamkeitssteuerung existieren in der Wissenschaft verschiedene Modelle und Theorien. So besagt z.B. das Flaschenhalsmodell, dass eine Selektion der eingehenden sensorischen Informationen durch einen „Engpass“ im Informationsverarbeitungsprozess, der mit einer Filterfunktion einhergeht, stattfindet. Demgegenüber gehen Theorien über begrenzte Ressourcen davon aus, dass eine selektive Informationsverarbeitung aus einer begrenzten Verarbeitungskapazität resultiert. Laut dieser Theorie ist eine geteilte Aufmerksamkeit bei der gleichzeitigen Durchführung unterschiedlicher Tätigkeiten möglich. Fraglich ist allerdings, ob tatsächlich mehr als ein Verarbeitungsprozess gleichzeitig stattfinden kann, oder ob es sich bei gleichzeitig ablaufenden Handlungen nicht eher um bereits automatisierte Prozesse handelt, die keine bewusste Aufmerksamkeit mehr benötigen (vgl. Kebeck 1994, 158f.).

Gerichtete Aufmerksamkeit ist abhängig von den individuellen Zielen, Wünschen oder Bedürfnissen und dient dazu, bestimmte Informationen zu fokussieren und konkurrierende Informationen unbeachtet zu lassen. Hierfür sind metakognitive Aktivitäten wie die Steuerung des Aktivitätsniveaus oder die Selbstmotivierung notwendig (vgl. Lauth 2004, 240).

Aufmerksamkeit bezeichnet die Fokussierung des Bewusstseins auf bestimmte Wahrnehmungen oder Handlungsprozesse, während mit Konzentration das Durchhalten der fokussierten Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Erlebensoder Handlungsgegenstand bezeichnet wird (vgl. Scharfetter 2010, 133). Auch die Konzentration wird in der Wissenschaft unterschiedlich konzeptualisiert. Sie kann zum einen im Rahmen des Informationsverarbeitungsprozesses als eine besondere Form von Aufmerksamkeit (genauer: als kontrollierende bzw. koordinierende Instanz für das Aufmerksamkeitsssystem) verstanden werden. Andere Theorien beziehen die Aufmerksamkeit auf den Wahrnehmungsprozess und die Konzentration auf die Verarbeitung von Informationen, so dass ihre Funktion in der Selektion von Information und in der Koordination und Kontrolle von Aktionsmustern zu sehen ist (vgl. Schweizer 2006, 29ff.).

5.4.2. Vorwissen

Der Begriff Vorwissen impliziert bereits, dass ein Lernprozess und damit ein Lernzuwachs stattfindet. Für den Lernerfolg ist das Ausmaß und die Qualität des Vorwissens eine entscheidende Komponente, denn wenn neue Informationen mit bereits bekannten Wissensstrukturen verbunden werden können, so gewinnen diese direkten Bedeutungsgehalt und können besser im individuellen Wissensbestand verknüpft und verankert werden. Vorwissen kann implizit, also unbewusst, oder explizit in Form von bewusst abrufbaren Wissensstrukturen vorliegen. Dabei lassen sich verschiedene Arten von Vorwissen unterscheiden: das (deklarative) Wissen über Situationen und Fakten, sowie das (prozedurale) Wissen über Handlungen und die Möglichkeit, eigene Handlungen zu kontrollieren (vgl. Büttner 2004, 57f.). Deklaratives Vorwissen wird anhand bestimmter Assoziationen abgerufen (z.B. „ist ein...“), während prozedurales Vorwissen als „Wenn-dann-Regel“ abgerufen wird: „Wenn die Bedingung a vorliegt, handle gemäß dem Handlungsmuster b“. Vorwissen kann vernetzt oder verinselt vorliegen, was sich auf die Effizienz der Aktivierung auswirkt. Je besser das Wissen vernetzt ist, desto schneller kann es abgerufen werden (vgl. Krause & Stark 2006, 38ff.). Hasselhorn & Gold (2009, 84ff.) bemerken, dass für den Lernerfolg die

Kompatibilität des Vorwissens mit den neu zu erlernenden Informationen eine ent-

scheidende Rolle spielt. „Passiges“ Vorwissen erleichtert es einem Lerner, neue Informationen hinsichtlich ihrer Relevanz für den jeweiligen Lerngegenstand einzuschätzen. Auf diese Weise wird wiederum der Prozess der selektiven Aufmerksamkeitssteuerung gefördert. Indem die Informationen schnell mit bereits vorhandenen Strukturen verknüpft werden, wird zum einen das Arbeitsgedächtnis entlastet, zum anderen entsteht eher ein vertieftes Interesse am Thema, einhergehend mit der vermehrten Bereitschaft, weitere Lernaktivitäten zu mobilisieren (vgl. ebd., 88f.).

5.4.3. Lernstrategien und ihre metakognitive Regulation

Lernstrategien

„Das Wissen über sowie der Einsatz von Lernstrategien werden als wesentliche Elemente selbstgesteuerten Lernens verstanden“ (Mackowiak 2004, 147). Friedrich & Mandl (2006, 1) definieren Lernstrategien als „Verhaltensweisen und Gedanken, die Lernende aktivieren, um ihre Motivation und den Prozess des Wissenserwerbs zu beeinflussen und zu steuern“. Der komplexe Lernprozess lässt sich durch unterschiedliche Strategien beeinflussen, hierzu zählen kognitive Strategien, die der Erarbeitung, Strukturierung und Nutzung von Wissen dienen, metakognitive Strategien zur Selbstkontrolle und Selbstregulation, sowie weitere metakognitive Kompetenzen, um diese Strategien nutzbringend verwenden zu können.

Kognitive Strategien beinhalten Mnemotechniken, die dazu dienen, Informationen derart abzuspeichern, dass sie bei einem späteren Abruf zuverlässig zur Verfügung stehen (z.B. Auswendiglernen), strukturierende Strategien, die den Lerninhalt einerseits auf das Wesentliche reduzieren und andererseits in sinnvollen größeren Themeneinheiten (z.B. Bilden von Kategorien) organisieren, sowie generative Strategien, die dazu dienen, ein vertieftes Verständnis für den Lerninhalt zu entwickeln (z.B. durch Bilden von Analogien) (vgl. Hasselhorn & Gold 2009, 89ff.).

Metakognition

Metakognitive Strategien dienen der Kontrolle kognitiver Strategien durch Planung, Überwachung, Bewertung und Regulation des eigenen Lernprozesses. Notwendige Voraussetzung hierfür ist die Festlegung eines angestrebten Lernziels und eine möglichst konkrete Vorstellung darüber, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Im Zuge der Überwachung wird durch eine gute Kenntnis der Aufgabe der Prozess der Aufgabenlösung kontrolliert, während die Bewertung unter Rückbezug auf die Planung das Ergebnis evaluiert (vgl. Schreblowski & Hasselhorn 2006, 152f.).

Metakognitives Wissen umfasst das Wissen über eigene kognitive Funktionen, die Steuerung und Kontrolle des eigenen Denkens und Lernens, sowie metakognitive Empfindungen, die während der Bearbeitung einer Aufgabe auftreten (z.B. Gefühle der Verwirrung) (vgl. Guldimann & Lauth 2004, 177ff.). Mangels (2012, 178ff.) sieht im metakognitiven Wissen die Basis für weitere metakognitive Kontrollprozesse und erläutert dies anhand eines Modells von Chan (2000, 37ff.): Metakognitives Wissen beinhaltet personen-, aufgabenund strategiebezogenes, sowie epistemisches Wissen. Es besteht eine wechselseitige Beeinflussung mit metakognitiven Kontrollprozessen, deren Bestandteile die Analyse, Planung, Überwachung und Evaluation eines Lernprozesses sind. Aus diesen Kontrollprozessen geht metakognitive Erfahrung hervor, die mit dem metakognitiven Wissen Einfluss nimmt auf die metakognitive Sensitivität, die dem Lerner das Gespür für ggf. erforderliche Strategien in einer Lernsituation vermittelt. Metakognitive Empfindungen sowie Motivation und Lernhaltung stehen in einer Wechselwirkung mit dem metakognitiven Wissen.

Hasselhorn & Gold (2009, 97) gehen davon aus, dass verschiedene der genannten Komponenten die Reflexion über einen Lernprozess initiieren können und sehen die zentrale Bedeutung von Metakognitionen in der Reflexion über den Lernprozess sowie in der Auslösung geeigneter strategischer Aktivitäten.

Schüler mit Lernstörungen sind wenig metakognitiv aktiv, d.h. sie überwachen ihren Lernprozess nicht oder nicht ausreichend und haben Schwierigkeiten, motivationale und emotionale Komponenten zu regulieren (vgl. Hammes-Schmitz 2011, 48).

5.4.4. Motivation und Selbstkonzept

Motivation

Motive als individuelle Beweggründe des Handelns geben einer Handlung Energie und Richtung. Ein Motiv kennzeichnet jeweils einen Beweggrund, während die Motivation als aktuelles oder überdauerndes prozesshaftes Geschehen die Summe der in einer bestimmten Situation auftretenden Motive umfasst. In einer Situation können unterschiedliche, konkurrierende oder sogar widersprüchliche Motive gleichzeitig auftreten und die Handlung beeinflussen (vgl. Schlag 2009, 11ff.).

[...]


1 Wie in Kapitel über neurophysiologische Grundlagen aufgezeigt wird, sind Bewegung (Motorik) und Wahrnehmung (Sensorik) zwei Prozesse, die untrennbar miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen (vgl. z.B. Flehmig 2007, 9). Um diesem Zusammenhang gerecht zu werden, wird in dieser Arbeit für die Bezeichnung von Bewegung und bewegungsbezogenen Vorgängen der Begriff „Sensomotorik“ verwendet.

Excerpt out of 122 pages

Details

Title
Der Einfluss sensomotorischer Förderkonzepte auf den individuellen Lernprozess am Beispiel der INPP-Methode und des psychomotorischen Konzeptes
College
University of Hannover
Grade
1,3
Author
Year
2013
Pages
122
Catalog Number
V455332
ISBN (eBook)
9783668886070
ISBN (Book)
9783668886087
Language
German
Keywords
einfluss, förderkonzepte, lernprozess, beispiel, inpp-methode, konzeptes
Quote paper
Claudia Spiess (Author), 2013, Der Einfluss sensomotorischer Förderkonzepte auf den individuellen Lernprozess am Beispiel der INPP-Methode und des psychomotorischen Konzeptes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/455332

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