Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Psychoanalytische Deutung des Unheimlichen
2.1 Etymologische Untersuchung
2.2 Überprüfung und Ergebnis Freuds
3. Rezeption und Erweiterung des freudschen Ansatzes
3.1 Das Unheimliche als Struktur
3.2 Das Doppelgänger-Motiv
3.3 Exkurs: Das Groteske
4. Das Unheimliche in Indigo
4.1 Das Indigo-Syndrom
4.2 Das Doppelgänger-Motiv in Indigo
4.2.1 Diegetische Ebene
4.2.2 Ebene der Erzählstruktur
4.2.3 Metaisierende Selbstreflexivität
4.3 Die Krise der Darstellung
5. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als „dialog- und abwechslungsreich, amüsant und anekdotisch, aber auch brutal und abgründig“[1], in der Lektüre „nicht immer leicht, manchmal abschreckend, gelegentlich zum Verrücktlachen“[2], als „ein schrilles Vexierkabinett, vollgestopft mit Verweisen auf alles Abseitige und Grausame“[3] – so beschreiben Stimmen des Feuilletons Clemens J. Setz' 2012 erschienenen Roman Indigo. Die Kritik des Werkes bewegt sich dabei zwischen der Anerkennung des Buches als „unheimliches Meisterwerk“[4] und einer Charakterisierung als „Luftnummer“ und „Mumpitz“.[5]
Durchgängig scheint jedoch die Beobachtung eines (angestrebten) Effekts beim Leser zu sein, der von Verwirrung bis zu Gefühlen des Schauderns reicht. So beschreibt beispielsweise Jens Jessens in seinem Artikel Kinder zum Kotzen eine „unheimliche[n] Expressivität“ des Textes, durch welche letztlich „der kognitive Prozess der Lektüre in eine physische Reaktion umschlägt“.[6]
Ein Phänomen, wie das der Unheimlichkeit wirkt allerdings schon auf den ersten Blick schwer greifbar. Man könnte durchaus kritisch anmerken, dass Gefühlsregungen generell zu unterschiedlich ausfallen, um einem Buch so etwas wie eine unheimliche Wirkung attestieren zu können. So betonen auch schon der berühmte Psychoanalytiker Sigmund Freud und vor ihm der Psychiater Ernst Jentsch, dass die Empfindlichkeit für die Gefühlsqualität des Unheimlichen bei Menschen sehr unterschiedlich angelegt sei.[7]
Dem zum Trotz erschien 1919 Freuds Essay Das Unheimliche, in welchem neben einer begrifflichen Definition versucht wird, die Funktionsweise des Unheimlichen in der fiktionalen Literatur zu erläutern.
Aufbauend auf Freuds Ansatz und dessen Rezeption soll in dieser Hausarbeit die Frage geklärt werden, in wie fern Indigo ein ‚unheimlicher’ Roman ist und an welchen textuellen Elementen genau eine ‚unheimliche Wirkung’ festgemacht werden kann.
Hierzu soll in zwei ersten, eher theoretischen Kapiteln ein begriffliches Instrumentarium für die Untersuchung dieser unheimlichen Elemente geschaffen werden. Ausgehend von Freuds psychoanalytischer Betrachtung des Unheimlichen und Einblicken in die darauf aufbauende Rezeption, sollen die literarischen Motive erarbeitet werden, die ein genaueres Verständnis und letzten Endes eine tragfähige Definition des Unheimlichen ermöglichen.
Im zweiten Teil (Kapitel 4) erfolgt schließlich die Untersuchung des Hauptgegenstandes Indigo. Hierbei wird versucht, die These einer unheimlichen Wirkung des Romans anhand der vorangehenden Überlegungen zu fundieren. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf den metafiktionalen Elementen des Textes liegen, die eine solche Wirkung verstärken.
2. Psychoanalytische Deutung des Unheimlichen
In seinem 1919 erschienenen Essay Das Unheimliche unternimmt Sigmund Freud den Versuch einer ästhetischen[8] Begriffsbestimmung. Denn hinter dem eigentümlichen Begriff des Unheimlichen, das zweifelsohne zum „Schreckhaften, Angst= und Grauenerregenden“[9] gehöre, erahnt der Psychoanalytiker eine besondere – wenn auch bis dato wenig beachtete – Bedeutung. Freuds Hypothese: Das Unheimliche sei „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“[10] Seine Untersuchung erfolgt in zwei Schritten. Im folgenden Kapitel soll nun zuerst die etymologische Entwicklung des Wortes ‚unheimlich‘ nach Freud betrachtet werden, um anschließend auf konkrete Fälle einzugehen, in denen das Unheimliche als Gefühl hervorgerufen wird.
2.1 Etymologische Untersuchung
Wesentlich für die Bedeutung des Unheimlichen scheint einerseits die Gegensätzlichkeit der Begriffe ‚unheimlichʼ und ‚heimlichʼ zu sein, was vermuten lasse, das Unheimliche sei eben das Nicht-Heimliche, Unbekannte. Andererseits weist das Wort ‚heimlichʼ selbst eine Ambivalenz zwischen häuslich-vertraut und versteckt/verborgen auf.
Eine „intellektuelle Unsicherheit“ sei die Ursache für eine unheimliche Gefühlsregung, vermutete der Psychiater Ernst Jentsch in seiner 1906 erschienenen Abhandlung Zur Psychologie des Unheimlichen, die Freud hier sowie im späteren Verlauf des Textes als Bezugspunkt für die eigenen Überlegungen heranzieht. Jedoch zweifelt er an der Vollständigkeit von Jentschs Definition, da diese weder die unheimliche Gefühlsregung von gewöhnlicher Angst unterscheiden, noch sie überhaupt hinreichend begründen könne.[11]
Um das Unheimliche auf der begrifflichen Ebene weiter vom allgemein Schreckhaften differenzieren zu können, werden von Freud Artikel aus Wörterbüchern zu Rate gezogen. Diese liefern mitunter einige höchst gewinnbringende Einsichten. So wird erkennbar, dass „das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt.“[12] Besonders hebt Freud eine Bemerkung Schellings hervor: Das Unheimliche sei dasjenige, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und dennoch hervorgetreten ist. Diese Definition kommt dem Kern der in der Einleitung dieses Kapitels genannten Hypothese Freuds schon sehr nahe.
2.2 Überprüfung und Ergebnis Freuds
Nach den Vorüberlegungen auf sprachlicher Ebene beginnt Freud die Analyse von Beispielen, in denen „[…] Personen und Dinge, Eindrücke, Vorgänge und Situationen […] das Gefühl des Unheimlichen in besonderer Stärke und Deutlichkeit in uns zu erwecken vermögen […].“[13]
In Anlehnung an Jentsch macht Freud E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann zum Hauptgegenstand seiner Untersuchungen, wobei anschließend auch Bezüge zu eigenen Erfahrungen und Beobachtungen aus seiner Arbeit als Psychotherapeut hergestellt werden.
Aus diesen Überlegungen lassen sich verschiedene unheimliche Motive ziehen, von denen vier bei Freud eingehender betrachtete im Folgenden kurz abgebildet werden sollen. Hierbei besteht keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, denn wie Freud selbst betont, kann die Gefühlswirkung völlig unabhängig von der Stoffwahl sein.[14]
Im Kastrationskomplex sieht Freud das in erster Linie für die unheimliche Wirkung des Sandmanns verantwortliche Motiv. Hierauf sei die Angst der Hauptfigur Nathanael, seine Augen zu verlieren, und sein daraus resultierender Wahnsinn in erster Linie zurückzuführen. Die Kastrationsangst selbst beinhalte laut Freud eine „Bedrohung der Integrität“ des eigenen Körpers und stelle somit die schwerwiegendste Störung des kindlichen Narzissmus dar.[15]
Eine starke unheimliche Wirkung schreibt Freud auch dem Doppelgänger-Motiv zu, das eine Art überwundener seelischer Zustand zu sein scheint, welcher zum Schreckensbild geworden ist. Eingeschlossen sind hier Themen wie Telepathie, Identifikation mit anderen, sowie all „jene Fälle, wo das Ich an seiner Identität durch Verdoppelung, Ich-Teilung oder Vertauschung irre wird.“[16]
Eng damit verbunden scheinen Wiederholungen, vor allem aber die beständige Wiederkehr des Gleichen zu sein. Diese entfaltet ihre unheimliche Wirkung vor allem in Verbindung mit einer gewissen Hilflosigkeit bzw. „Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren“, welche uns der Wiederholung eine „geheime Bedeutung“ zuschreiben ließen.[17]
Ein weiteres Motiv des Unheimlichen ist die Idee einer „Allmacht der Gedanken“. Diese verweise zurück auf einen überwundenen Animismus als Ergebnis einer „narzißtische[n] Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge“[18] und „Überbetonung der psychischen Realität im Vergleich zur materiellen“.[19] Hierunter fallen Vorstellungen von Magie und geheimen Kräften oder die Verwischung der Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit.
Aus diesen und weiteren Beispielen schließt Freud auf folgendes Ergebnis:
Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn [1.] verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn [2.] überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.[20]
Ferner kommt er zu dem Schluss, dass „das Unheimliche der Fiktion“ anderen Regeln unterliege, als das „Unheimliche des Erlebens“. So könnten Motive eines literarischen Werks, die auf überwundene kindliche Vorstellungen zurückgreifen und in der Realität unheimlich wären, beispielsweise den Leser eines Märchens völlig unberührt lassen. Umgekehrt verfüge dagegen die Dichtung über Mittel, in ihrer Lektüre eine unheimliche Wirkung zu erzeugen, die so im realen Leben nicht möglich wäre.[21] Die Ursache hierfür sieht Freud in dem Spielraum der dichterischen Ausgestaltung der erzählten Welt. So stehe es dem Dichter frei, uns über die Voraussetzungen einer Geschichte im Voraus aufzuklären, wie es beispielsweise im Märchen geschehe. Dieses habe offensichtlich „den Boden der Realität von vorneherein verlassen“. Das unheimliche Gefühl verbunden mit einem „Urteilsstreit […][darüber,] ob das überwundene Unglaubwürdige nicht doch real möglich ist“[22], fiele ganz weg.
Anders scheint dies in dem Fall zu sein, in welchem der Leser im Ungewissen darüber bleibt, ob für die Welt der Erzählung dieselben Bedingungen gelten, wie für die des realen Lebens. Hierin sieht Freud vielseitigere Möglichkeiten der Fiktion, ein unheimliches Gefühl zu erschaffen, als es im Erleben möglich sei. Dabei sei das von verdrängten Komplexen hervorgerufene Unheimliche am meisten resistent und es bleibe „[…] in der Dichtung ebenso unheimlich […] wie im Erleben.“[23]
3. Rezeption und Erweiterung des freudschen Ansatzes
Im Anschluss an die kompakte Darstellung von Freuds grundlegendem Aufsatz sollen ein paar der darin enthaltenen Elemente in diesem Kapitel noch erweitert werden. Zu diesem Zweck werden einzelne Texte der wissenschaftlichen Rezeption des freudschen Ansatzes herangezogen, die zu einem vertieften Verständnis des Unheimlichen in der Literatur führen sollen. Das Ziel des ersten Unterkapitels soll die Entwicklung einer Definition des Unheimlichen als objektive Struktur literarischer Texte sein. Das Vorgehen wird sich dabei stark an Samuel Webers Text Das Unheimliche als Struktur orientieren und versuchen, dessen Ergebnisse für die nachfolgende Arbeit am Primärtext fruchtbar zu machen.
Aufgrund der großen Relevanz für die Untersuchung des Unheimlichen in Indigo erfolgt im zweiten Unterkapitel eine differenziertere Ausarbeitung des Doppelgänger-Motivs, sowohl im Hinblick auf literaturwissenschaftliche als auch auf psychoanalytische Aspekte. Der letzte Teil dieses Kapitels stellt einen Exkurs in die Untersuchung des Grotesken dar, das hier vom rein Unheimlichen abgegrenzt werden soll.
3.1 Das Unheimliche als Struktur
In seinem Aufsatz Das Unheimliche als Struktur versucht Samuel Weber das Verständnis eines nur an individuelle Gefühlsprozesse gebundenen Unheimlichen zu erweitern. Sein Ziel ist es, zu zeigen, „daß das Unheimliche, obwohl zweifelsohne an das subjektive Gefühl gebunden, dennoch eine eigenständige literarische Struktur impliziert .“[24] Dazu betrachtet er das Unheimliche unter Einbezug von Freuds späterem Werk, in welchem die Angsttheorie, die dem 1919 erschienenen Aufsatz zugrunde liegt, bereits überarbeitet ist.
So gehe Freuds Essay noch von einer frühen Version der Angsttheorie aus, welche versucht, die Angst als Folge der Verdrängung zu erklären. Später sei Freud zu dem Schluss gekommen, dass umgekehrt die Angst selbst die Verdrängung verursache. Bei jener Angst handle es sich um die Kastrationsangst, weshalb diese ins Zentrum der freudschen Theorie des Unheimlichen gerückt werden müsse.[25]
Die Kastration markiere „jenen, bzw. jenes Moment […] wo das Subjekt entdeckt, daß das Objekt seines Begehrens fast nichts ist.“ Diese Entdeckung der Penislosigkeit der Mutter würde das erschüttern, was Freud „das System Wahrnehmung-Bewusstsein“ nenne. Das begehrende Subjekt begegne nur einer Differenz, also einem selbst kaum Erscheinenden, einer „Referenz ohne endgültigen oder begründenden Referenten.“ Letzten Endes werde die scheinbare Unvollständigkeit des weiblichen Körpers zur Bedrohung der eigenen körperlichen Integrität und störe so den kindlichen Narzissmus. Weber kommt zu folgendem Ergebnis:
Das, was verborgen hätte bleiben sollen und dennoch hervorgetreten ist, wirkt deswegen unheimlich, weil es gerade durch sein Hervortreten sich der Wahrnehmung entzieht, als Wiederholung, Verdopplung, Spaltung und Spiegelung. Damit impliziert das Unheimliche eine Krise der Wahrnehmung, aber gleichzeitig eine Gefährdung des Subjekts, vor allem aber: eine Bedrohung seiner körperlichen Integrität.[26]
[...]
[1] Volker Haage. 08.10.2012: „Romane? Nie genug“ <http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-88963919.html> (Zugriff:26.03.2012).
[2] Jan Wiele. 19.09.2012: „Clemens J. Setz: Indigo. Die X-Akten des postmodernen Romans“ <http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/clemens-j-setz-indigo-die-x-akten-des-postmodernen-romans-11896226.html> (Zugriff: 24.03.2015).
[3] Sebastian Hammelehle. 26.09.2012: „Buchpreis-Kandidat Clemens J. Setz: Mumpitz!“ <http://www.spiegel.de/kultur/literatur/deutscher-buchpreis-rezension-von-indigo-von-clemens-j-setz-a-858041.html> (Zugriff: 24.03.2015).
[4] Jens Jessen. 12.10.2012: „Kinder zum Kotzen. Wovor sich Eltern schon immer gefürchtet haben: Clemens J. Setz’ unheimliches Meisterwerk ‚Indigo‘“ <http://www.zeit.de/2012/41/Clemens-Setz-Indigo> (Zugriff: 24.03.2015).
[5] Hammelehle: „Buchpreis-Kandidat Clemens J. Setz: Mumpitz!“.
[6] Jessen: „Kinder zum Kotzen“.
[7] Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V. (1919) Heft 5/6, S. 297.
[8] Ästhetik wird hier verstanden als Gefühlslehre. Vgl. Freud: Das Unheimliche, S. 297.
[9] Ebd. S. 297.
[10] Ebd. S. 298.
[11] Vgl. ebd. S. 298 u. S. 306.
[12] Ebd. S. 301.
[13] Ebd. S. 303.
[14] Vgl. ebd. S. 323f.
[15] Vgl. Samuel M. Weber: Das Unheimliche als Struktur. Freud, Hoffmann, Villiers de l'Isle-Adam. In: Claire Kahane (Hg.): Psychoanalyse und das Unheimliche. Essays aus der amerikanischen Literaturkritik. Bonn 1981 (Modern German Studies, Band 4), S. 130.
[16] Ebd., S. 125.
[17] Vgl. Freud: Das Unheimliche, S. 311.
[18] Vgl. ebd. S.313f.
[19] Ebd. S. 317.
[20] Freud: Das Unheimliche, S. 321.
[21] Vgl. ebd., S. 321.
[22] Ebd. S. 321.
[23] Ebd. S. 323.
[24] Vgl. Weber: Das Unheimliche als Struktur, S. 123 u. 131.
[25] Vgl. ebd. S. 128f.
[26] Ebd. S. 144.