Im Zentrum des mittelalterlichen Versepos von Hartmann von Aue steht Heinrich, ein tugendhafter und dem Ideal entsprechender Ritter, der in der Welt hohes Ansehen genießt. Die Weltzugewandtheit Heinrichs stellt zugleich sein Verderben dar, denn Gott bestraft bzw. prüft ihn, indem er ihn am Aussatz erkranken lässt. Seine Rettung beruht auf der Erkenntnis des allmächtigen Schöpfers - dass er sich Gott hingeben, ihm vertrauen und sich seinem Willen unterordnen muss. Als Kontrast zu Heinrich führt Hartmann das Mädchen ein, die fromme Tochter eines Bauern, die völlig der Welt abgewandt ist und ihre Seele retten möchte, indem sie sich für Heinrich opfert. Sie möchte ins Paradies gelangen und die Braut Christi werden. Auch sie wird am Ende geheilt, wenn sie die Welt, die die Schöpfung Gottes ist, akzeptiert. Das Hauptthema des mittelalterlichen Textes ist demzufolge die Beziehung des Menschen zu Gott und zu der von ihm geschaffenen Welt. Tankred Dorst problematisiert in seinem Drama „Die Legende vom armen Heinrich“ die Religiosität des modernen Menschen. Doch anders als Hartmann lässt Dorst die Ursachen der Erkrankung Heinrichs offen. Der Leser respektive der Zuschauer erfährt auch nicht den Namen der Krankheit. Eine weitere schwerwiegende Abweichung in der Ausgangslage der Geschichte ist die Distanzierung der Bauernfamilie von ihrem Herrn Heinrich. Dieser wird von ihnen als selbstsüchtiger Herr geschildert, der kein Mitleid verdient hat, weshalb er in einem dunklen Turm im Wald einsam haust. Ein weiterer Unterschied zu Hartmanns Version besteht in der ausführlichen Gestaltung der Reise nach Salerno, die im mittelalterlichen Versepos nur kurz als Fakt erwähnt wird. Das Wunder, das heißt die Heilung geschieht nicht aufgrund der Hingabe zu Gott, sondern in dem Moment als sich Heinrich und Elsa umarmen. Aus diesen Differenzen zwischen beiden literarischen Bearbeitungen des Stoffes lässt sich folgern, dass es Dorst nicht um die Gottergebenheit des Menschen geht, sondern um die zwei Hauptcharaktere Heinrich und Elsa, wobei erwähnt werden muss, dass das Mädchen Elsa hier im Vergleich zu Hartmanns Text in den Vordergrund rückt, denn es erhält bei Dorst einen Namen und mehr Raum in der Darstellung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. „Glauben und Wissen“ – Jürgen Habermas
3. Charakterisierung der Hauptfiguren vor Beginn der Reise bis zum Labyrinth
3.1 Elsa – die Welt des Glaubens
3.2 Heinrich – die Welt der Ratio
4. Wandlung, Erkenntnis und Wunder – die Liebe
5. Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Zentrum des mittelalterlichen Versepos von Hartmann von Aue steht Heinrich, ein tugendhafter und dem Ideal entsprechender Ritter, der in der Welt hohes Ansehen genießt. Die Weltzugewandtheit Heinrichs stellt zugleich sein Verderben dar, denn Gott bestraft bzw. prüft ihn, indem er ihn am Aussatz erkranken lässt. Seine Rettung beruht auf der Erkenntnis des allmächtigen Schöpfers – dass er sich Gott hingeben, ihm vertrauen und sich seinem Willen unterordnen muss. Als Kontrast zu Heinrich führt Hartmann das Mädchen ein, die fromme Tochter eines Bauern, die völlig der Welt abgewandt ist und ihre Seele retten möchte, indem sie sich für Heinrich opfert. Sie möchte ins Paradies gelangen und die Braut Christi werden. Auch sie wird am Ende geheilt, wenn sie die Welt, die die Schöpfung Gottes ist, akzeptiert. Das Hauptthema des mittelalterlichen Textes ist demzufolge die Beziehung des Menschen zu Gott und zu der von ihm geschaffenen Welt.
Tankred Dorst problematisiert in seinem Drama „Die Legende vom armen Heinrich“ die Religiosität des modernen Menschen. Doch anders als Hartmann lässt Dorst die Ursachen der Erkrankung Heinrichs offen. Der Leser respektive der Zuschauer erfährt auch nicht den Namen der Krankheit. Eine weitere schwerwiegende Abweichung in der Ausgangslage der Geschichte ist die Distanzierung der Bauernfamilie von ihrem Herrn Heinrich. Dieser wird von ihnen als selbstsüchtiger Herr geschildert, der kein Mitleid verdient hat, weshalb er in einem dunklen Turm im Wald einsam haust. Ein weiterer Unterschied zu Hartmanns Version besteht in der ausführlichen Gestaltung der Reise nach Salerno, die im mittelalterlichen Versepos nur kurz als Fakt erwähnt wird. Das Wunder, das heißt die Heilung geschieht nicht aufgrund der Hingabe zu Gott, sondern in dem Moment als sich Heinrich und Elsa umarmen. Aus diesen Differenzen zwischen beiden literarischen Bearbeitungen des Stoffes lässt sich folgern, dass es Dorst nicht um die Gottergebenheit des Menschen geht, sondern um die zwei Hauptcharaktere Heinrich und Elsa, wobei erwähnt werden muss, dass das Mädchen Elsa hier im Vergleich zu Hartmanns Text in den Vordergrund rückt, denn es erhält bei Dorst einen Namen und mehr Raum in der Darstellung.
Dennoch geht es wie schon erwähnt auch bei Tankred Dorst um Glaube und Religion. In seinem Drama setzt er sich mit der Frage auseinander, welche Bedeutung der Glaube für den Menschen hat. Dabei lenkt er die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Wunder, indem er den Chor zwischendurch skandieren lässt: „Ez sol ze Salerne geschehen“. Auch der Titel mit dem Wort „Legende“ nimmt diesen Leitgedanken des Dramas vorweg, denn der Inhalt der Legende ist der Konvention nach die „Demonstration eines vorbildlichen, gottgefälligen Erdenwandels, in dem sich Wunderbares manifestiert“[1]. Warum betitelt Dorst sein Drama als „Legende“? Was ist an Heinrichs Verhalten exemplarisch oder vorbildlich? Was vollbringt das Wunder? Diesen Fragen wird nachzugehen sein.
Ähnlich wie bei Hartmann sind auch die Figuren Heinrich und Elsa konträr angelegt. Doch anders als im mittelalterlichen Text, worin der Gegensatz von irdischer Weltzugewandtheit bei Heinrich und aufs Jenseits gerichtete Gottzugewandtheit bei Elsa deutlich werden soll, scheinen in den Hauptfiguren bei Tankred Dorst unterschiedliche Epochen der Menschheitsentwicklung präsent zu sein. Während Elsa nämlich die naive Wundergläubigkeit des Mittelalters zugeschrieben wird, inkarniert die elegante Gesellschaft, in der Heinrich in seinem früheren Leben verkehrte, den Verlust der Gläubigkeit und die Prävalenz der Ratio in der Moderne. Das Wasserschloss Beauséjour samt seiner eleganten Gesellschaft lässt Assoziationen zum Zeitalter des Barock im 17. Jahrhundert zu, das bei Dorst die Spezifika der Moderne markiert.
Besonders Elsa ist während der Reise einer Entwicklung unterzogen, die sich auch als solche des Kindes zur Erwachsenen beschreiben lässt, da sie ihre Naivität verliert und in den Besitz des Verstandes oder der Ratio gelangt. Neben der Personifikation verschiedener Epochen der Menschheit sind in den Figuren auch die Entwicklungsstadien des einzelnen Menschen angelegt. In Elsa kann man zu Beginn des Dramas sowohl das naive Kind als auch die Naivität des mittelalterlichen Menschen verkörpert sehen, so wie man Heinrich als Erwachsenen betrachten kann oder als modernen von der Ratio bestimmten Menschen.
Während der Reise findet ein Prozess statt, der beide völlig konträr angelegten Figuren verändert und die Bedingungen des Wunders konstituiert. Der Konflikt zwischen dem Charakter Heinrichs und dem Elsas wird gelöst, indem ein drittes Wertsystem eröffnet wird, nämlich die Emotion. Das Wunder wird zum Schluss durch die Liebe vollbracht. Damit macht Tankred Dorst nicht die Beziehung des Menschen zu Gott, sondern die Beziehung der Menschen zueinander zum Hauptthema des Stückes. Zur Religion wird am Ende die Liebe zum Mitmenschen. An dieser Stelle möchte ich auf den Titel der Arbeit verweisen: „Glaube, Wissen, Liebe“ sind nämlich meines Erachtens drei Wertsysteme, die Dorst in diesem Stück einführt, die er mit verschiedenen Zeitaltern der Menschheitsgeschichte in Verbindung bringt. Das Mittelalter, das Elsa verkörpert, hat den Glauben als oberstes Wertsystem. In der Moderne wird dieses von der Ratio, dem Wissen, der Naturwissenschaft ersetzt, wobei Heinrich und die elegante Gesellschaft für das 17. Jahrhundert respektive die Neuzeit stehen, in dem Ratio und Naturwissenschaft ihren Anfang nahmen. Zu einer befriedigenden Lösung des Konflikts dieser beiden einander ausschließenden Wertsysteme gelangt Dorst schließlich durch die Einführung der Emotion als drittes Wertsystem. Am Rande sei erwähnt, dass in dem Drama weitere Zeitalter parallel dazu repräsentiert werden, zum Beispiel durch die Anwesenheit des Chores, der der antiken Tragödie entlehnt ist. Außerdem kommen auch Entwicklungen der Moderne zur Sprache wie beispielsweise die Fotografie, ein Cadillac oder die Zeitung. Für mich sind jedoch ausschließlich die Zeitalter für diese Arbeit relevant, die mit den Figuren unmittelbar verbunden sind.
Um die drei Wertsysteme besser beschreiben und meine Aussagen auf eine fundierte Grundlage aufbauen zu können, möchte ich die Rede von Jürgen Habermas aus dem Jahre 2001, die er anlässlich des Friedenspreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels hielt, zu Rate ziehen und die für mich wichtigsten Thesen zu Beginn zusammenfassen. Dann werde ich zunächst auf Elsas und danach auf Heinrichs „Welt“ bis zur Ankunft auf dem Wasserschloss Beauséjour eingehen und mit den von ihnen inkarnierten Zeitaltern assoziieren. Darüber hinaus wird die Entwicklung Elsas auf der Reise und Heinrichs Wandlung zu schildern sein, um dann die sich verändernde Beziehung zwischen Elsa und Heinrich zu erläutern.
Zu diesem Drama von Tankred Dorst gibt es kaum Forschungsliteratur bis auf einen Aufsatz von Judith Klinger, die sich insbesondere auf die „Inszenierungen ›mittelalterlicher‹ Wundergläubigkeit und Religiosität“[2] kapriziert. Da zu diesem durchaus spannenden Thema so wenig geforscht wurde, es aber trotz seiner mittelalterlichen Vorlage Aktualität besitzt, wie die Rede von Habermas beweist, halte ich es für lohnenswert und interessant, sich damit zu beschäftigen.
2. „Glauben und Wissen“ – Jürgen Habermas
Ausgehend von den Vorfällen am 11. September 2001 und den Debatten um gentechnische Forschung beschreibt Habermas die Gleichzeitigkeit religiöser Wertvorstellungen und die moderne Weltsicht einhergehend mit dem Fortschreiten der Naturwissenschaften. Um die Gefahren einer „entgleisenden Säkularisierung“ einschätzen zu können, müssten wir uns über ihre Bedeutung in der „postsäkularen Gesellschaft“ bewusst werden. Der Begriff „Säkularisierung“ bezeichnete zunächst die „Übereignung von Kirchengütern an die säkulare Staatsgewalt“, wobei diese Bedeutung auf Kultur und Gesellschaft in der Moderne übertragen worden ist. Einerseits sei das Wort positiv konnotiert, in der Weise, dass die kirchliche Autorität durch die weltliche Macht eingeschränkt und „religiöse Denkweisen und Lebensformen durch vernünftige, jedenfalls überlegene Äquivalente ersetzt“ worden seien. Auf der anderen Seite könne man die Säkularisierung einer negativen Betrachtung unterziehen, wenn die widerrechtliche Aneignung von Kirchengütern durch den Staat in den Vordergrund rücke und die modernen Denk- und Lebensformen damit als illegitim erklärt würden. Beide Denkmodelle machten nach Habermas denselben Fehler, wenn sie „die Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der einen, den haltenden Mächten von Religion und Kirche auf der anderen Seite“ verständen. Dieses Bild passe nicht zu der postsäkularen Gesellschaft, die auf einem demokratisch aufgeklärten „Common sense“ beruhe und pluralistisch angelegt sei. Der Common sense stelle sich gleichsam als dritte Partei zwischen Wissenschaft und Religion. Im Streit zwischen den verschiedenen Ansprüchen der beiden Mächte treffe der „weltanschaulich neutrale Staat politische Entscheidungen keineswegs zugunsten einer Seite“. Die pluralisierte Vernunft des Common sense sei „osmotisch nach beiden Seiten hin geöffnet“.[3]
Der Common sense – so Habermas – müsse sich von den Wissenschaften vorbehaltlos aufklären lassen. Jedoch würden wissenschaftliche Theorien nicht ohne weiteres in die Lebenswelt „sprach- und handlungsfähiger Personen“ eindringen, wenn sie nicht gerade unser Selbstverständnis berührten: „Wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen unser Selbstverständnis um so mehr zu beunruhigen, je näher sie uns auf den Leib rücken.“ Als Beispiele führt Habermas die Revolutionierung des geozentrischen und anthropologischen Weltbildes durch Kopernikus und Darwin an, wobei letzterer mit seinen Erkenntnissen über die Stellung des Menschen in der Naturgeschichte mehr Einfluss auf die Lebenswelt der Menschen hätte. Habermas stellt sich nun die Frage, ob die Erforschung der Physiologie unseres Bewusstseins unser Handeln, das in unserem Selbstverständnis intuitiv von Zurechnungsfähigkeit und Autorschaft begleitet würde, beeinflussen könne. Was passiert mit Menschen, deren Verhalten sich vollkommen naturwissenschaftlich objektiv beschreiben ließe? Zur Beantwortung dieser Frage verweist er auf den Soziologen Max Weber und einen Vortrag des Philosophen Winfried Sellars im Jahre 1960. Habermas kommt zu dem Schluss, dass die vollständige Erforschung der Natur des Menschen seine Entpersonalisierung und Entsozialisierung zur Folge hätte:
Die Natur wird in dem Maße, wie sie der objektivierenden Beobachtung und kausalen Erklärung zugänglich gemacht wird, entpersonalisiert. Die wissenschaftlich erforschte Natur fällt aus dem sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen, die sich gegenseitig Absichten und Motive zuschreiben, heraus.
[...]
[1] Metzler Literatur Lexikon, 1990, 262
[2] Klinger, 99
[3] alle folgenden Zitate aus Habermas, 2001
- Arbeit zitieren
- Janine Dahlweid (Autor:in), 2003, Glaube, Wissen, Liebe - Wertsysteme auf der Reise vom Mittelalter zur Moderne in Tankred Dorsts "Legende vom armen Heinrich", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45627
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