"Der neue Geist des Kapitalismus" in Zeiten der Krise

Die Notwendigkeit einer Zusammenführung von Künstler-, Sozial- und Umweltkritik als Antwort auf Vereinnahmungsstrategien des Kapitalismus


Term Paper (Advanced seminar), 2011

22 Pages, Grade: 1,35


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ausgangspunkt des Ansatzes vom neuen Geist des Kapitalismus

2.1 Stoßrichtung: Mittelweg zwischen Marxismus und liberaler Theorie
2.2. Anlehnung und Neuausrichtung von Webers „Geist des Kapitalismus“

3. „Der neue Geist des Kapitalismus“

3.1 Kapitalismus-Charakteristika: Akkumulation, Profitmaximierung und „Klassen“-Mechanismen
3.2 Liberale Denkungsart der Notwendigkeit eines kapitalistischen Geistes
3.3 Geist des Kapitalismus: Ideologie der Rechtfertigung
3.4 Der normative Bezugspunkt Polis
3.5 Dialektische Dynamik von Kapitalismus und Kritik
3.6 Unterschiedliche Kritikformen und Bewährungsproben
3.7 Sozialkritik, Künstlerkritik (und Umweltkritik)

4. Übertragung des Ansatzes auf das Krisen-Umfeld der Gegenwart

5. Zusammenfassung.

6. Literaturverzeichnis

6.1 Verwendete Internetquellen:

1. Einleitung

Die Verwendung des Begriffs „Kapitalismus“, im Gegensatz zum wohlwollender klingenden Begriff „Marktwirtschaft“, wird oft bereits mit einer generell anti-kapitalistischen Blickrichtung in Verbindung gebracht. Luc Boltanski und Ève Chiapello versuchen nun aber in ihrem Werk „der neue Geist des Kapitalismus“ eine eigene Herangehensweise der „ Soziologie der Kritik. zu entwickeln, die sie einer „kritischen Soziologie“.ntgegen stellen – nicht um die Kritik zu vernichten, sondern um ihre „Grundlagen zu stärken“.1 Der „ Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus und seiner Kritik. soll mit einem dialektischen Wechselverhältnis neuartig beschrieben werden.2 Dabei wird die grundsätzliche Notwendigkeit von Rechtfertigung für die Teilnahme am Kapitalismus jenseits der Profitlogik betont. Hierfür analysieren sie zwei „alte“ und einen im Entstehen begriffenen aktuellen, dritten „kapitalistischen Geist“ mit jeweils eigenen Rechtfertigungslogiken. Bereits zur Erstveröffentlichung ihres Werkes 1999 – lange vor dem aktuellen kapitalistischen Krisen-Umfeld aus Umwelt-Krise, Finanzkrise, Krise der sozialen Sicherungssysteme, sowie der Umbrüche in Nord-Afrika und im Nahen Osten – sehen die Autoren weitsichtig diesen dritten kapitalistischen Geist „in einer schweren Krisevon der eine wachsende Orientierungslosigkeit und gesellschaftliche Skepsis zeugen.“3 Dabei wird die Herausbildung eines kapitalistischen Geistes als wichtiger Stützpfeiler des Kapitalismus gesehen. In dieser Arbeit wird nun zunächst im zweiten Teil die grundsätzliche Stoßrichtung des Ansatzes der Autoren verdeutlicht, bevor dann ihre Grundzüge bei Max Weber verortet werden. Anschließend erfolgt im dritten Teil eine ausführliche Vorstellung ihrer eigenen Neuausrichtung, die an zentralen Stellen mit klassisch marxistisch-materialistischer, sowie einmalig neo-gramscianischer Gesellschaftstheorie kontrastiert und so schärfend reflektiert wird. Im vierten Abschnitt wird abschließend der Ansatz von Boltanski und Chiapello auf das aktuelle Krisen-Umfeld des Kapitalismus angewendet und diskutiert inwieweit die von den Autoren befürchtete alternativlose „Unterwerfung unter die Wirtschaftsgesetze“ bereits Realität geworden ist. Daran angeschlossen wird ein Ausblick gewagt, inwiefern das Zusammenwirken von verschiedenen Kritik-Sphären dabei als mögliche erfolgreiche Antwort auf die Vereinnahmungsstrategien des Kapitalismus gelten kann. Abschließend wird auf Gefahren aufmerksam gemacht, die auch aus einem krisenhaften Kapitalismus erwachsen können, die die Autoren nicht explizit vorsehen. Zum Schluss erfolgt eine Zusammenfassung.

2. Ausgangspunkt des Ansatzes vom neuen Geist des Kapitalismus

2.1 Stoßrichtung: Mittelweg zwischen Marxismus und liberaler Theorie

Die Autoren bemühen sich mit ihrem Ansatz des „kapitalistischen Geistes“ „den Gegensatz zu überwinden zwischen Theorien nietzscheanistisch-marxistischer Prägung, die in der Gesellschaft nichts weiter sehen als Gewalt, Machtverhältnisse, Ausbeutung, Herrschaft und Interessenkonflikte, und [den liberalen] Theorien, die sich eher auf die politischen Vertragsphilosophien beziehen und dabei die Formen der demokratischen Debatte und die Bedingungen sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen.“4 Diesen Mittelweg streben die Autoren an, weil ihnen in den Werken der ersten Richtung „die Schilderung der Welt als zu schwarz (…) um auf die Dauer (…) lebensfähig zu sein“ und in den Werken der zweiten Strömung als „zu rosarot um glaubwürdig zu sein“ erscheint.5

2.2. Anlehnung und Neuausrichtung von Webers „Geist des Kapitalismus“

Schon der Titel des Werkes „Der neue Geist des Kapitalismus“ deutet auf eine Anlehnung an Max Webers Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ hin. Weber hatte bereits versucht die Bedeutung eines „kapitalistischen Geistes“ für die Entwicklung des Kapitalismus herauszuarbeiten.6 Dabei lehnt er wie die Autoren eine rein materialistische Erklärung der Entwicklung des Kapitalismus – wie ihn der klassische Marxismus entwickelt – als „einseitig“ ab.7 Zum Verständnis wird der von Weber und den Autoren deutlich verworfene Ansatz kurz skizziert. Im historisch Materialismus des Marxismus wird das Verhältnis von Bewusstsein und Gesellschaft klar gedacht: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“8 Demnach bedingt die „Produktionsweise des materiellen Lebens (…) den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt“.9 Statt nun Bewusstsein als Resultat des gesellschaftlichen Seins – also der banalen materiellen Umstände – zu denken, macht Weber umgekehrt „in erster Linie“ idealistische Aspekte wie etwa religiöse Glaubensinhalte und Moralvorstellungen – insgesamt den „kapitalistischen Geist“ – als Entwicklungsmotor des Kapitalismus aus.10 Boltanski und Chiapello übernehmen nun in ihrem Werk, weniger die religiöse Komponente des Weberschen Ansatzes, als vielmehr die Annahme, dass „die Menschen überzeugende moralische Gründe benötigen, um sich dem Kapitalismus anzuschließen.“11 Diese grundlegende Annahme, dass die materielle Basis der Gesellschaft ideelle Zustimmung bei den Menschen erhalten muss um stabil funktionsfähig zu sein, charakterisiert den Ansatz vom neuen Geist des Kapitalismus.

3. „Der neue Geist des Kapitalismus“

3.1 Kapitalismus-Charakteristika: Akkumulation, Profitmaximierung und „Klassen“-Mechanismen

Als Minimaldefinition des Wirtschaftssystems Kapitalismus wird die „ Forderung nach unbegrenzter Kapitalakkumulation durch den Einsatz formell friedlicher Mittel. definiert.12 Die Formulierung „formell friedlich“ verweist bereits auf Dynamiken von sich gegenüber stehenden Gruppen.m Kapitalismus, die später genauer betrachtet werden. Die Autoren sprechen bewusst selbst nicht mehr von „Klassen“ wie im Marxismus – stattdessen widmen sie ein ganzes Kapitel ihres Werkes der Darstellung der Entwicklungsgeschichte bis hin zum Verschwinden des Klassen-Begriffs und sprechen selbst eher von dem Aspekt der Ausgrenzung.13 Das „Hauptmerkmal des Kapitalismus – das, was ihm die Wandlungsdynamik und -kraft verleiht (…) [wird darin gesehen], dass das Kapital mit dem Ziel der Profitmaximierung, d.h. der Mehrung des sodann erneut investierten Kapitals, immer wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückgeleitet wird“.14 Dabei wird von den Autoren betont zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft unterschieden. Hervorgehoben wird der Unterschied zwischen der ungebremsten Kapitalakkumulation des Kapitalismus und der durch rechtliche und staatliche Maßnahmen regulierten Marktwirtschaft. Demnach „fügt sich die kapitalistische Akkumulation den Marktregulierungen nur dann, wenn ihr direktere Profitwege verschlossen bleiben“.15 In dem kapitalistischen Akkumulationsprozess, der grundlegend auch einer regulierten Marktwirtschaft eigen ist, werden zwei grundsätzliche „Gruppen“ benannt – die „Kapitalisten“ und die „abhängig Beschäftigten“. Ein Kapitalist ist demnach, „wer einen Geldüberschuss besitzt und ihn investiert, um daraus einen Gewinn zu erzielen, der den ursprünglichen Überschuss vergrößert“.16 Diese breitgefasste Definition schließt zunächst sowohl den „Kleinanleger“ oder Sparer als auch den „Großeigentümer“ mit ein.17 Es könnte also der Eindruck entstehen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung im Kapitalismus, die über irgendeine Art von Sparguthaben samt Zinsen verfügt, gleich zur Gruppe der Kapitalisten gehört. Die Autoren machen aber deutlich, dass diese vermeintliche große Mehrheit der Bevölkerung „auf eine Minderheit zusammen [schrumpft], wenn man von einem bestimmten Mindestsparguthaben ausgeht“.18 So schätzen sie zur Erstveröffentlichung ihres Werkes 1999, dass sich „diese Gruppe [der Kapitalisten] in Frankreich (…) [auf] vermutlich lediglich 20% der Haushalte“ beläuft.19 Global gehen sie von einem wesentlich geringeren Anteil aus. Der Minderheit der Kapitalisten ist in jedem Fall eine Mehrheit abhängig Beschäftigter gegenübergestellt. Bei ihnen handelt es sich um einen „Bevölkerungsteil, der [erstens] kein oder wenig Eigenkapital besitzt“, zweitens aus „der Veräußerung seiner Arbeitskraft (und nicht aus dem Verkauf der Erzeugnisse seiner Tätigkeit) ein Einkommen bezieht“ und drittens „über keinerlei Produktionsmittel verfügt“ – der abhängig Beschäftigte ist demnach jemand „zu dessen Gunsten das [kapitalistische] System im Grunde nicht angelegt ist“.20 Theoretisch kann der abhängig Beschäftigte zwar eine „Anstellung unter den von dem Kapitalisten gebotenen Konditionen ablehnen“, langfristig ist er jedoch gezwungen seine Arbeitskraft an einen Kapitalisten zu verkaufen, weil er „nicht lange ohne Erwerbsarbeit überleben kann“.21 Dieses Ausbeutungsverhältnis ist keine klassische Sklaverei oder Zwangsarbeit, sondern „in gewissem Maße stets eine freiwillige Unterwerfung“.22 Diese tendenziell liberale Blickrichtung auf den Aspekt der Freiwilligkeit von Arbeit im Kapitalismus im Ansatz des neuen kapitalistischen Geistes stark betont.

3.2 Liberale Denkungsart der Notwendigkeit eines kapitalistischen Geistes

Die dargestellte Funktionsweise des „amoralischen Prozess[es] unbeschränkter Anhäufung von Kapital“ des Kapitalismus lässt Boltanski und Chiapello deutlich die Absurdität des Systems hervorheben.23 So haben auf der einen Seite die abhängig Beschäftigten im Kapitalismus „den Besitz an den Früchten ihrer Arbeit und die Möglichkeit, ein aktives Leben außerhalb der Unterordnung zu führen, verloren“24 und auf der anderen Seite sind die Kapitalisten an einem „endlosen und unersättlichen, durch und durch abstrakten Prozess gekettet, der von der Befriedigung der Konsumbedürfnisse – und seien es auch Luxusbedürfnisse – losgelöst ist“.25 Es drängt sich also für die Autoren die Frage auf, wieso die „beiden Protagonistentypen“ überhaupt an diesem unendlichen Kapital-Akkumulationsprozess teilnehmen sollten.26 Dabei ist der Kapitalismus dringend auf die Beteiligung gerade „einer breiten Masse an Arbeitskräften, deren Gewinnaussichten, insbesondere wenn sie über ein niedriges bzw. gar kein Ausgangskapital verfügen“ angewiesen.27 Infolgedessen befürchten die Autoren, dass die Motivation der abhängig Beschäftigten „zur Beteiligung an der kapitalistischen Produktion nicht sonderlich hoch“ ausfallen könnte – „wenn sie ihr nicht gar feindselig gegenüber stehen“.28 Hier wird ein wesentlicher Unterschied zur marxistischen Denkungsart offenbar. Gerade aufgrund der auch von den Autoren dargestellten Klassen-Mechanismen und durch die Konkurrenz bedingten Sachzwänge im Kapitalismus würde marxistisch argumentiert werden, bleibt der Mehrheit der Bevölkerung – den abhängig Beschäftigten – um überleben zu können, gar nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Folglich würde die Frage, warum sich abhängig Beschäftigte überhaupt am Kapitalismus beteiligen, klar mit schierer Abhängigkeit, materieller Not und sowohl materiellem als auch sozialem Zwang beantwortet werden. Diese marxistische Erklärung, die vorranging eine „materielle Beteiligungsmotivation“ ausfindig macht, können die Autoren zumindest für den abhängig Beschäftigten tendenziell noch begrenzt nachvollziehen.29 Vollkommen unzureichend erscheint ihnen das Argument aber in Bezug auf den Kapitalisten, „dessen Aktivität von einem bestimmten Einkommensniveau an nicht mehr an die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse gekoppelt ist“.30 Dieser Argumentation folgend hätte also auch der Kapitalist, der im Luxus lebt, keinen Grund mehr sich – und sei es nur in Form von Aktien oder Hedge-Fonds Investments – am Kapitalismus zu beteiligen, um etwa sein Luxusleben weiterleben zu können. Da zumindest größere Kapitalisten durch ihr „Engagement“ ein äußerst komfortables Leben führen können, erscheint an dieser Stelle die strikte Ablehnung der Autoren wenig plausibel. Begründet wird diese ablehnende Haltung einer rein materialistischen Erklärung auch in Bezug auf die abhängig Beschäftigten aber mit einer Erkenntnis aus der Arbeitspsychologie, wonach „die Entlohnung als solche unzureichend sei, um Einsatzbereitschaft zu wecken und den Arbeitseifer zu erhöhen (…) – Der Monatslohn stelle bestenfalls ein Motiv dar, um an einem Arbeitsplatz zu bleiben, nicht aber, um sich dort zu engagieren.“31 Stattdessen müssten zur Mobilisierung der abhängig Beschäftigten „kollektive, gesamtgesellschaftliche, mit Blick auf das Allgemeinwohl definierten Vorteile betont werden“.32

3.3 Geist des Kapitalismus: Ideologie der Rechtfertigung

Dieses notwendige Mobilisierungspotential verortet der Ansatz deshalb im „Geist des Kapitalismus“, der definiert wird als „ eine Ideologie (…). die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt“.33 Entscheidend dabei ist, dass die Autoren getreu ihres Mittelweg-Ansatzes die grundsätzlich wirkenden systemischen Zwänge des Kapitalismus nicht komplett ausblenden. Vielmehr muss der systemisch wirkende „Zwang (…) verinnerlicht und begründet werden, eine Aufgabe, die von der Soziologie traditionellerweise der Sozialisierung und den Ideologien zugeschrieben wurde“.34 Die Ideologie bewirkt, dass die „Menschen (…) ihr [kapitalistisches] Lebensumfeld nicht als unerträglich wahrnehmen“.35 Dafür müssen die „Rechtfertigungen (…) auf einer hinreichend soliden Argumentation beruhen (…) – Nur so können sie von einer ausreichend großen Zahl von Menschen als selbstverständlich hingenommen werden und Verzweiflung oder Nihilismus“, die der Kapitalismus systemisch auch produziert, begrenzt bzw. überwunden werden.36 Je erfolgreicher dieser Mechanismus der festen Etablierung eines speziellen Geistes stattfindet, umso eher kann von einer „dominanten Ideologie“ gesprochen werden. Gleichzeitig wollen die Autoren sicher gehen, dass in ihrem Ideologie-Konzept „nicht unbedingt eine Ablenkungsstrategie der Herrschenden, die sich das Einverständnis der Unterdrückten sichern wollen“ gesehen wird – wie es etwa marxistisch oder besonders in den Internationalen Beziehungen neo-gramscianisch gedacht werden könnte. Im Neo-Gramscianismus würde ein gesellschaftlicher Konsens, bzw. eine sogenannte „kulturelle Hegemonie“, u.a. dadurch erreicht, dass Herrschaftsinteressen der privilegierten Klasse durch Dominanz über Diskurse und aktive Prägung kollektiver Vorstellungen derart etabliert werden, dass Alternativen aus der Öffentlichkeit fast vollständig verdrängt werden.37 Diesen Gedankengang verwerfen die Autoren allerdings. Gleichwohl wird auch die blanke Rechtfertigungslogik der Wirtschaftswissenschaft als wenig erfolgsversprechend angesehen, die neben der Ansicht, dass Eigeninteresse über den Marktmechanismus dem Allgemeinwohl dient, drei Haupt-Argumente anführt: 1) Fortschritt im Kapitalismus seit 200 Jahren „in technologischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht“, 2) hohe Effizienz von Konkurrenz-Wirtschaften, sowie 3) die Besonderheit von individuellen und politischen Freiheiten.38 Diese Rechtfertigungsansätze einer reinen Wirtschaftslogik werden verworfen als zu „allgemein und zu statisch, um den Mann auf der Straße in konkrete Lebensumstände – vor allem in die Arbeitswelt – einbeziehen zu können“.39 Stattdessen muss es dem Geist des Kapitalismus gelingen in „jeder einzelnen Epoche (…) in Formen, die historisch sehr variieren (…) Ressourcen an[zu]bieten, um die Unsicherheit zu reduzieren.“40 Gerade dafür leistet der Geist des Kapitalismus demnach Beachtliches: Erstens stellt er zur Frage der Motivation individuelle, persönliche Einsatzmotive bereit („aufregender“ Aspekt), zweitens bietet er die Befriedigung von Sicherheitserwartungen („Sicherheitsaspekt“) und drittens liefert er entscheidende allgemeinwohlorientierte Rechtfertigungen für die Teilnahme am Kapitalismus („Gerechtigkeitsaspekt").41 Über die drei Aspekte legitimiert der Geist die Kapitalakkumulation und begrenzt sie durch die moralische Komponente gleichzeitig, so dass Stabilität herrscht.42 Drei Geister werden unterschieden: Der erste manifestierte sich zu Ende des 19 Jhd., in dem familienweltliche Aspekte ausgemacht werden, der zweite zwischen 1940-1970, in dem Industrie eine große Rolle spielt, und der dritte, in dem flexiblere ungesichertere Projekt-Arbeitsstrukturen vorherrschen, ist seit 1980 im Entstehen.

3.4 Der normative Bezugspunkt Polis

Im Konzept des kapitalistischen Geistes spielt der missverständliche Begriff der „Polis“ (eigentlich griechisch für „Stadt“) eine zentrale Rolle. Mit der Bezugnahme auf Rousseaus Gesellschaftsvertrag verdeutlicht sich der Begriff jedoch:43 Bei Rousseau bilden die Häuser die Stadt. während aber die Bürger die Polis.achen. Bei dem Polis-Begriff der Autoren handelt es sich also nicht um die physische Stadt, sondern um normative Rechtfertigungslogiken, die sich auf ganz allgemeine Konventionen beziehen, allgemeinwohlorientiert sind und eine universelle Gültigkeit beanspruchen.44 Sieben Polis-Formen werden unterschieden: 1) die erleuchtete Polis (Ordnung der Heiligkeit), 2) die familienweltliche Polis (Ordnung der persönlichen Abhängigkeiten, Verwandtschaften), 3) die Reputationspolis (Ordnung des Ansehens), 4) die bürgerweltliche Polis (Ordnung der Repräsentation des Allgemeinwillens), 5) die marktwirtschaftliche Polis (Ordnung der Wettbewerbsfähigkeit), sowie 6) die industrielle Polis (Ordnung der Effizienz). Die siebte Polis ist die projektbasierte Polis, die sich durch ein Höchstmaß an Flexibilität, Mobilität und Netzwerk-Strukturen in immer stärker vernetzten kapitalistischen Welt mit projektorientierten Beschäftigungsverhältnissen auszeichnet. Diese derzeit jüngste Polisform wird als dominante Rechtfertigungslogik im dritten Geist des Kapitalismus angesehen, der u.a. durch den ständigen Anpassungs- und Neuausrichtungsdruck in der Arbeitswelt, einer schweren Krise unterliegt.

3.5 Dialektische Dynamik von Kapitalismus und Kritik

Die klassisch-marxistische Dialektik erklärt Entwicklung und Wandel durch die permanente Wechselwirkung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen – also etwa zwischen technologischer Entwicklung und Besitzverhältnissen in der Gesellschaft. Um hingegen das Entstehen des kapitalistischen Geistes zu erklären, verwenden die Autoren einen eigenen dialektischen Ansatz der Beziehung von Kapitalismus und Kritik. Demnach kann der „Kapitalismus [zwar einerseits] nicht ohne eine Allgemeinwohlorientierung als Quelle von Beteiligungsmotiven auskommen“, andererseits ist er „aufgrund seiner normativen Unbestimmtheit doch nicht dazu im Stande, den kapitalistischen Geist aus sich selbst heraus zu erzeugen.“45 So sei der Kapitalismus gerade um überleben zu können auf Kritik angewiesen. Mehrere Möglichkeiten ergeben sich für den Kapitalismus mit Kritik umzugehen. Er kann erstens, eine Anpassung der zugrunde liegenden Rechtfertigungsprinzipien vornehmen, zweitens nur eine vordergründige Anpassung vortäuschen, obwohl Grund-Mechanismen gleich bleiben, sowie drittens eine tatsächliche Anpassung im Sinne eines gerechteren Systems erwirken. Gerade die dadurch erreichte Vereinnahmung der Kritik kann genutzt werden um antikapitalistische Kräfte abzuschwächen, in dem „die fehlende moralische Stütze“ über die Kritik integriert wird.46 Als Beispiel wird etwa der Wohlfahrtstaat genannt, der zwar gegen massive Widerstände einzelner Kapitalisten eingeführt, dank Abschwächung der sozialen Not, den Kapitalismus aber auch stabiler gemacht habt. In der Dynamik liegt jedoch auch die Gefahr für den Kapitalismus. Denn „paradoxerweise führt dies in Zeiten, in denen der Kapitalismus – wie es gegenwärtig der Fall ist – zu triumphieren scheint, zu einer gewissen Brüchigkeit, die immer dann auftritt, wenn die tatsächlichen Herausforderer verschwunden sind“.47 Wenn also Kritik vollständig verschwindet, gerät die dialektische Dynamik von Kapitalismus und Kritik in eine einseitige Schieflage. Der Kapitalismus kann sich dann verstärkt nach seiner eigenen amoralischen Profitlogik durchsetzen – was wiederum die systemische Gesamt-Stabilität gefährdet.

3.6 Unterschiedliche Kritikformen und Bewährungsproben

Unterschieden wird zwischen einer „korrektiven“ bzw. „reformistischen“, sowie einer „radikalen“ bzw. „revolutionären“ Kritik.48 Reformistische Kritik orientiert sich an der vorherrschenden Polis, während revolutionäre Kritik mit der vorherrschenden Polis bricht und sich neu an anderen Polis-Formen orientiert. Zusätzlich wird auch eine prinzipiell anti-kapitalistische Kritik gesehen, deren Chancen allerdings schlecht bewertet werden.49 „Die Kritik befasst sich dabei mit sogenannten „Bewährungsproben“. Dieser von den Autoren neu eingeführte Begriff soll getreu dem Mittelweg ihres Ansatzes mit der „deterministischen Auffassung des Sozialen“, sowohl in Bezug auf eine „Übermacht der Struktur“, als auch mit der „kulturalistischen Sicht auf die Herrschaft verinnerlichter Normen“, brechen.50 Betont werden soll letztlich die grundsätzliche Offenheit des Sozialen. Konkret bezeichnen sie damit den Wettbewerb zwischen Kontrahenten im Sozialen. Es gibt reine Bewährungsproben und legitime Bewährungsproben. Legitim sind sie dann, wenn die angewendete Gewalt im Rahmen der Polis, also der Rechtfertigungslogik bleibt. Eine legitime Bewährungsprobe wäre also etwa die Aussortierung von Schülern in der Grundschule je nach erbrachter Leistung, wenn die dominante Polis Form eine Wettbewerbs-Polis ist. Physische Gewalt gegen „Aussortierte“ wäre hingegen nicht unbedingt legitim und müsste sich der Kritik stellen. Je nachdem erfolgt dann durch die Kritik eine Anpassung der Bewährungsproben an Gerechtigkeitsvorstellungen, eine Wiederlegung der Kritik oder eine Umgehung der Kritik durch den Kapitalismus, was dass sich die Kritik neu an die Situation anpassen muss. Im Zuge der der Kritik muss die Bewährungsprobe sich dann einer Institutionalisierung unterziehen, also etwa neue gesetzliche Rahmenbedingungen. Die Glaubwürdigkeit des kapitalistischen Geistes hängt genau daran, ob er sich in kontrollierten Bewährungsproben niederschlagen kann. Wodurch die Problematik der Kritik deutlich wird: Entweder verhallt sie nutzlos oder wird durch den Kapitalismus vereinnahmt.

3.7 Sozialkritik, Künstlerkritik (und Umweltkritik)

Der Ausgangspunkt für Kritik ist die Empörung.51 Unterschieden wird hauptsächlich zwischen der sogenannten Sozialkritik. die sich mit Fragen von Armut, Ungleichheit, Opportunismus und Egoismus auseinandersetzt, sowie der Künstlerkritik. die um die Themenkomplexe Emanzipation bzw. Unterdrückung und Authentizität kreisen.52 Eine zentrale Schwierigkeit für die Kritik wird darin gesehen, dass „es nahezu unmöglich ist, diese verschiedenen Empörungsmotive gleichermaßen zu berücksichtigen“.53 Ferner werden unterschiedliche Kritikformen oft gegeneinander ausgespielt. Eine Kritikform wird vom Kapitalismus angenommen und dafür eine früher zugestandene Anpassung wieder abgeschwächt. So ist etwa Sozialkritik, die maßgeblich am zweiten kapitalistischen Geist des industriellen Rahmens mitgewirkt hat, im dritten Geist wieder massiv geschwächt worden. Dies geschah u.a. durch die Abkehr von dem Modell sozialer Klassen in einer Zeit, wo Klassen-Vorstellungen durch wachsenden Wohlstand und eine vorhandene breite Mittelschicht von Wissenschaft und Gesellschaft nicht mehr als zeitgemäß wahrgenommen und abgelehnt wurden. Anders die Künstlerkritik, die Forderung etwa nach freieren Arbeitsverhältnissen wurde durch den Kapitalismus im dritten Geist vereinnahmt. Nun haben die Beschäftigten durch Projektarbeit tendenziell „flexiblere“ Arbeitsverhältnisse – nur gerade dieser zunächst gewünschte positive Aspekt hat sich teilweise erheblich ins Gegenteil gewandelt: Die Freiheit der Flexibilität ist in verstärkte Unsicherheit übergegangen. Nur angedeutet wird von den Autoren noch eine dritte Kritik-Form auf die trotz auch 1999 bereits bekannter Umweltbewegungen nicht näher eingegangen wird – die Umweltkritik.54

4. Übertragung des Ansatzes auf das Krisen-Umfeld der Gegenwart

Boltanski und Chiapello liefern mit ihrem erstmals 1999 veröffentlichten Werk ein eindrucksvoll vorausschauendes Plädoyer für die Relevanz von Rechtfertigung für die Beteiligung am Kapitalismus – jenseits von reiner Profitlogik. Man kann die These der Autoren kurz auf den Punkt bringen: Herrschaft braucht Zustimmung. Reine, offensichtliche Unterwerfung als Mittel ist nicht in der Lage langfristig Herrschaft zu sichern. Ihre mahnende Diagnose ist dabei eindeutig:

„[E]in neues, mobilisierungsstärkeres Ideologiesystem [ist] Voraussetzung für den Fortbestand des [kapitalistischen] Akkumulationsprozesses, der sonst auf. lange Sicht Gefahr läuft, sich auf eine Minimalargumentation zu verengen, die eine Unterwerfung unter die Wirtschaftsgesetze als notwendig propagiert – genau das wird nicht gelingen.“55 .

Gerade in jüngster Gegenwart wird jedoch in zunehmendem Maße genau diese befürchtete „Unterwerfung unter die Wirtschaftsgesetze“ durch die Politik in Deutschland, aber auch weltweit, unverhüllt als „alternativlos“ propagiert. Egal ob „soziale“ oder konservative Partei in Deutschland – beide nutzen inzwischen die gleiche Rhetorik der Alternativlosigkeit.on wettbewerbsbedingten, ökonomischen Sachzwängen – Schröder 200456, genauso wie Merkel 201157. Die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses wird zur dominanten Rechtfertigungslogik im Krisenmanagement – höhere moralische Logiken wie Allgemeinwohl und Entfaltungsmöglichkeiten geraten immer mehr in den Hintergrund. Der kapitalistische Geist ist in der Krise. In dieser Hinsicht wird hier der dialektische Ansatz der Autoren vom dynamischen Wechselverhältnis von Kapitalismus und Kritik ernst genommen. Ohne Kritik kann sich der Kapitalismus mit seiner Profitlogik ungebremst durchsetzen und wird dadurch so in seiner zerstörerischen Natur in Fragen des Sozialen und der Umwelt – und auch für sich selbst – bedrohlich. So besteht die Gefahr für den ungebremsten Kapitalismus gegen jegliche allgemeinwohlorientierten Rechtfertigungslogiken zu verstoßen und so Legitimität vollständig zu verlieren. Dem Ansatz der Autoren folgend, könnte dies zur Folge haben, dass nicht mehr reformistische oder revolutionäre Kritikansätze, sondern fundamental antikapitalistische Kritik die Oberhand gewinnt. Alle drei wesentlichen Leistungskriterien des kapitalistischen Geistes sind durch die im Zuge der „alternativlosen“ Deregulierung von Märkten und damit die Freisetzung von purer Profitlogik bedroht: 1. Der aufregende Aspekt, 2. der Sicherheitsaspekt und 3. der Gerechtigkeitsaspekt. Der aufregende Aspekt soll den Einzelnen motivieren einer Arbeit nachzugehen. Aktuelle Studien von 2011 zeigen aber, dass jeder zweite Deutsche in seinem Beruf unzufrieden ist und die„Zufriedenheit in den letzten 30 Jahren kontinuierlich abgenommen“ hat.58 Wirkliche Erfüllung scheint also heute und mit Blick auf den Trend auch in Zukunft in den meisten Arbeitsverhältnissen nicht gegeben zu sein. Zudem hat sich laut Statistiken von 2011 „die Zahl der Menschen, die wegen einer Depression im Krankenhaus behandelt werden müssen, (...) in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt.“59 Der Zusammenhang mit der Arbeitswelt drängt sich auf.60 Auch beim Sicherheitsaspekt sieht es nicht besser aus – dabei geht es um die Frage, ob man für sich und seine Familie im Kapitalismus auf Formen der sozialen Absicherung zurückgreifen kann. Im Zuge von Agenda 2010, der Hartz-IV-Gesetzgebung, unsicheren Rentenversprechen, prekären Beschäftigungsverhältnissen, sowie drohender Inflation ist vorstellbar wie eng auch dieser Aspekt mit der steigenden Anzahl an Depressionen zusammenhängen könnte. Zumal Deutschland noch eines der Länder mit relativ „sicherem“ Sozialsystem ist. Die Sicherheitssituation in den USA sieht schon wesentlich dramatischer aus. Nach jüngsten Schätzungen leiden 49 von 311 Millionen US-Amerikanern an „Nahrungsmittelunsicherheit“ – wie in den USA euphemistisch Hunger bezeichnet wird.61 Wirkliche verlässliche Sicherheit in Form von stabilen sozialen Sicherungssystemen gibt es global mit wenigen Ausnahmen also nicht mehr. Zu alldem kommt die Frage nach Gerechtigkeit. Inwieweit ist die Beteiligung am kapitalistischen Akkumulationsprozess für das Allgemeinwohl wirklich förderlich? In Zeiten der sogenannten „Finanzkrise“ werden private Banken mit Steuergeldern buchstäblich über Nacht mit Billionen Euro gerettet.62 Gleichzeitig hungerten 2009 mit 1,2 Milliarden Menschen weltweit so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte.63 Die kurze Formel drückt es treffend aus: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Hinzukommt, dass Staaten wettbewerbsbedingt ihre Steuersätze senken und Großkonzerne durch Steueroptimierungen zusätzlich immer weniger oder gar keine Steuern bezahlen. Mediale Aufmerksamkeit erlangte etwa jüngst der besonders prägnante Fall vom größten amerikanische Industriekonzern General Electric, der 2010 nicht nur keine Steuern gezahlt, sondern auch noch 3,2 Milliarden US-Dollar vom Staat zurückbekommen, hat.64 Die Kosten für die Rettung der Banken tragen die Staaten der kapitalistischen Welt: Da sie immer weniger Steuereinnahmen haben, sind sie gezwungen weitreichende Sozialkürzungen umzusetzen. Es ist also davon auszugehen, dass sich die geschilderte Situation im Sozialwesen durch massive Einsparungen in den nächsten Jahren weiter dramatisch verschlechtern wird. Zusammengenommen werden alle drei Rechtfertigungs-Dimensionen in den kommenden Jahren schwer leiden. Die Autoren erachten es für die Kritik prinzipiell als sehr schwer mehrere Aspekte der Empörung zu bündeln. In der Tat weisen sie zu Recht darauf hin, dass „die Dialektik zwischen Kapitalismus und Kritik zwangsläufig (…) endlos“ ist, “solange man am kapitalistischen System festhält“.65

Die Frage ist, ob das in Zukunft der Fall sein wird. Wie oben skizziert sind sich soziale, wie konservative Parteien einig, dass die Profitlogik des Kapitalismus „alternativlos“ ist – die verheerenden Konsequenzen dieser entfesselten Marktlogik werden aber immer offensichtlicher. Derartige Durchsetzungskraft von Kapitalakkumulation gegen bestehende Rechtfertigungslogiken, etwa gleiche Chancen auf dem Markt, müsste den Autoren entsprechend neue massive Kritik hervorbringen. Wenn nun aber einzelne Kritik-Aspekte am Kapitalismus geäußert werden, wird es ihm stets aufs Neue gelingen, sie zu integrieren. Die Schlussfolgerung muss also lauten, dass nicht einzelne Aspekte, sondern alle drei Kritikformen gleichzeitig thematisiert werden müssen. Das konsequente Zusammendenken aller Kritikformen von Künstler-, Sozial- und Umweltkritik bedeutet aber eine insgesamt anti-kapitalistische Form der Kritik. Marxistisch argumentiert, sind die Anliegen der einzelnen Kritikformen prinzipiell aufgrund von Klassengegensätzen und wettbewerbsbedingten Systemzwängen mit dem Kapitalismus unvereinbar. Solange es Privateigentum an Produktionsmitteln gibt, wird es interessensbedingt Unterdrückung und zwangsläufig Armut und Ungleichheiten geben – solange es um Profit und nicht um Bedürfnisbefriedigung geht, wird es keine wirkliche Authentizität im Sinne der Künstlerkritik geben – solange es aus Profitlogik Sinn macht, die Umwelt zu schädigen, weil es schlicht billiger ist, wird es keinen nachhaltigen Umweltschutz geben. Die Folgen eines ausbleibenden Umweltschutzes und einer zunehmenden Verelendung der Mittelschichten in westlichen Zentren des Kapitalismus sind fatal. Andererseits erstaunt wie Parallelen zur marxistischen Revolutionstheorie erkennbar werden. Verelendung der Mittelschichten könnten marxistisch gesehen revolutionäre Dynamiken erzeugen. In jedem Fall bleibt zu hoffen, dass sich der dritte kapitalistische Geist von seiner „schweren Krise“ nicht mehr, wie bisher, durch Vereinnahmung einzelner Kritikaspekte, erholen kann. Stattdessen bietet die „schwerste Krise seit [dem] Zweitem Weltkrieg“66 ideale Voraussetzungen für ein Zusammenwirken der unterschiedlichen Kritik-Sphären, um die Grundfeste des Kapitalismus fundamental angehen zu können.67 Vorläufer hierfür können bereits die Unruhen in Großbritannien, die Proteste in Griechenland, Spanien und Israel gewesen sein. Die Bewegungen in Nordafrika und im Nahen Osten wären vor Jahren undenkbar gewesen. Dass Deutschland oder gar die USA, tatsächlich Banken verstaatlichen würden um das System zu retten, ebenso. Es sind außergewöhnliche Zeiten. Einen Aspekt, den die Autoren dabei leider nicht verfolgen, sollte man allerdings nicht übersehen. Was kann auch geschehen, wenn die „Unterwerfung unter die Wirtschaftsgesetze“ tatsächlich fundamental bedroht wird? Historisch hat sich der Kapitalismus – bei allen demokratischen Freiheitstendenzen, die wir ihm heute generell andichten – in Krisen auch autoritär gezeigt. So sind Tendenzen autoritärer Strukturen auch in Europa bereits abzusehen. Bis 2014 soll das von der EU-Kommission finanzierte europäische Überwachungssystem „INDECT“ vollständig einsatzbereit sein. Dabei geht es um die zentrale Bündelung und per Computer automatisierte Auswertung bestehender Überwachungstechnologien wie etwa Videoüberwachung, Handyortung, Gesichtserkennung, Telekommunikationsüberwachung sowie dem Einsatz von fliegenden Überwachungsdrohnen zur Personenverfolgung in der ganzen EU. Die Wochenzeitung Zeit bezeichnet INDECT als „Traum der EU vom Polizeistaat“ und führt aus: „Begriffe wie Unschuldsvermutung oder gerichtsfester Beweis haben dabei keine Bedeutung mehr, ersetzt es doch die gezielte Suche nach Verdächtigen durch das vollständige und automatisierte Scannen der gesamten Bevölkerung“.68

Es gilt Max Horkheimers berühmter, wie kluger Satz:

„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“[69].

5. Zusammenfassung.

In der Arbeit wurde zunächst die grundsätzliche Stoßrichtung des Ansatzes der Autoren in Form eines Mittelweges zwischen nietzscheanistisch-marxistischer und liberaler Theorie skizziert, bevor dann mit Bezugnahme auf Max Weber der Ausgangspunkt des Ansatzes vom neuen Geist des Kapitalismus verortet wurde. Anschließend erfolgte die Darstellung des Ansatzes mit Gegenüberstellung und Reflektion von klassisch marxistisch-materialistischer Gesellschaftstheorie. Im vierten Teil wurde schließlich der Ansatz von Boltanski und Chiapello auf das aktuelle Krisen-Umfeld des Kapitalismus angewendet und gezeigt inwieweit die von den Autoren befürchtete alternativlose „Unterwerfung unter die Wirtschaftsgesetze“ bereits teilweise Realität geworden sind. Das Zusammenwirken von der Künstler-, Sozial- und Umweltkritik wurden dabei als mögliche erfolgreiche Antwort auf Vereinnahmungsstrategien des Kapitalismus vorgestellt. Abschließend wurde auf die Gefahr eines sich autoritär entwickelnden Krisen-Kapitalismus aufmerksam gemacht.

6. Literaturverzeichnis

Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2001): Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel. In: Berliner Journal für Soziologie 11/4. S. 459 – 477.

Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK.

Cox, Robert (1981): Social Forces, States and World Orders: Beyond International Relations Theory, in Millennium - Journal of International Studies, Band 10, S. 125-155.

Horkheimer, Max (1988): Die Juden und Europa, in: Gesammelte Schriften, Band 4, Frankfurt am Main: Fischer.

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1971): Werke, Band 13. 7. Aufl. Berlin/DDR: Dietz.

Rousseau, Jean-Jacques (2008): Der Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Wiesbaden: Marixverlag.

Weber, Max (1988): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie: Band 1. 9. Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag.

6.1 Verwendete Internetquellen:

Bernzen, Anne K. (2011): Aktuelle Studie: Jeder Zweite ist mit seinem Job unzufrieden. Online unter: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/buero-special/jeder-zweite-ist-mit-seinem-job-unzufrieden/4484016.html [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

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[...]


1 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2001): Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel. In: Berliner Journal für Soziologie 11/4. S. 460.

2 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. S. 38.

3 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 44.

4 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 67.

5 Ebd.

6 Vgl. Weber, Max (1988): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie: Band 1. 9. Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Verlag.

7 Ebd., S. 205-206.

8 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1971): Werke, Band 13. 7. Aufl. Berlin/DDR: Dietz. S. 9.

9 Ebd.

10 Weber, Max (1988). S. 53.

11 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 45.

12 Ebd., S. 39.

13 Ebd., S. 338ff.

14 Ebd., S. 39.

15 Ebd., S. 40.

16 Ebd.

17 Ebd., S. 41.

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Ebd., S. 42.

21 Ebd.

22 Ebd.

23 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2001): Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel. In: Berliner Journal für Soziologie 11/4. S. 462.

24 Ebd.

25 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 42.

26 Ebd.

27 Ebd., S. 43.

28 Ebd.

29 Ebd.

30 Ebd.

31 Ebd.

32 Ebd.

33 Ebd.

34 Ebd.

35 Ebd.

36 Ebd.

37 Vgl. Cox, Robert (1981): Social Forces, States and World Orders: Beyond International Relations Theory, in Millennium - Journal of International Studies, Band 10, S. 125-155.

38 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2001). S. 462.

39 Ebd.

40 Ebd.

41 Ebd., S. 462-463.

42 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 65.

43 Rousseau, Jean-Jacques (2008): Der Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Wiesbaden: Marixverlag.

44 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 61.

45 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 68.

46 Ebd.

47 Ebd.

48 Ebd., S. 75.

49 Ebd., S. 85.

50 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2001). S. 471.

51 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 79.

52 Ebd. 80-81.

53 Ebd.

54 Ebd. 513.

55 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 44.

56 DPA (2004): Gerhard Schröder: Umbau des Sozialstaats alternativlos. Online unter: http://www.stern.de/politik/deutschland/gerhard-schroeder-umbau-des-sozialstaats-alternativlos-528565.html [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

57 Göbel, Heike (2011): „Alternativlos“. Merkels Verdrusswort. Online unter: https://www.faz.net/artikel/C30106/alternativlos-merkels-verdrusswort-30324866.html [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

58 Bernzen, Anne K. (2011): Aktuelle Studie: Jeder Zweite ist mit seinem Job unzufrieden. Online unter: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/buero-special/jeder-zweite-ist-mit-seinem-job-unzufrieden/4484016.html [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

59 dapd/dpa/jobr (2011): Krankenkassen-Studie. Immer mehr Depressions-Patienten. Online unter: http://www.sueddeutsche.de/leben/krankenkassen-studie-immer-mehr-depressive-menschen-1.1124842 [Letzter Zugriff: 13.08.2011].

60 N-TV (2008): Stress, Zeitdruck, Unsicherheit. Arbeit macht oft krank. Online unter: http://www.n-tv.de/panorama/Arbeit-macht-oft-krank-article263041.html [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

61 Moll, Sebastian (2011): New York. Tabuthema Hunger. Online unter: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/politik/334707/334708.php [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

62 Freiberger, Harald/Oldag, Andreas (2009): Kosten der Rettung: Fünf Billionen für die Banken. Online unter: http://www.sueddeutsche.de/geld/kosten-der-rettung-fuenf-billionen-fuer-die-banken-1.142632 [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

63 Neubert, Susanne (2009): Welternährungstag. Nie war der Hunger größer. Online unter: http://www.zeit.de/meinung/2009-10/hunger-duerre-krise [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

64 Kocieniewski, David (2011): G.E.’s Strategies Let It Avoid Taxes Altogether. Online unter: https://www.nytimes.com/2011/03/25/business/economy/25tax.html?_r=1 [Letzter Zugriff: 18.08.2011].

65 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 85.

66 HVG/AFP/BRG/DAPD/RTR (2011): Trichet sieht „schwerste Krise seit Zweitem Weltkrieg“. Online unter: http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/trichet-sieht-schwerste-krise-seit-zweitem-weltkrieg/4480630.html [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

67 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003). S. 44.

68 Biermann, Kai (2009): Indect – der Traum der EU vom Polizeistaat. Online unter http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2009-09/indect-ueberwachung [Letzter Zugriff: 30.08.2011].

69 Horkheimer, Max (1988): Die Juden und Europa, in: Gesammelte Schriften, Band 4, Frankfurt am Main: Fischer. S. 308f.

Excerpt out of 22 pages

Details

Title
"Der neue Geist des Kapitalismus" in Zeiten der Krise
Subtitle
Die Notwendigkeit einer Zusammenführung von Künstler-, Sozial- und Umweltkritik als Antwort auf Vereinnahmungsstrategien des Kapitalismus
College
LMU Munich  (Institut für Soziologie)
Course
Neuere Gesellschaftstheorien: Luc Boltanski/Eve Chiapello
Grade
1,35
Author
Year
2011
Pages
22
Catalog Number
V456343
ISBN (eBook)
9783668871731
ISBN (Book)
9783668871748
Language
German
Keywords
geist, kapitalismus, zeiten, krise, notwendigkeit, zusammenführung, künstler-, sozial-, umweltkritik, antwort, vereinnahmungsstrategien
Quote paper
Carl Philipp Trump (Author), 2011, "Der neue Geist des Kapitalismus" in Zeiten der Krise, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/456343

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