"Boom and Bust"-Phasen im Kapitalismus. Folge menschlicher Fehleinschätzung oder systemischer Produktionsbedingungen?

George Soros‘ Theorie der Reflexivität und Karl Marx‘ Analyse der Produktionsbedingungen


Trabajo Escrito, 2012

23 Páginas, Calificación: 1,15


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. George Soros‘ Theorie der Reflexivität
2.1 Dialektik der Reflexivität
2.2 Fehleinschätzungen als Motor der Geschichte
2.3 „Falsches“ Paradigma als Ursache der Krise des Kapitalismus
2.4 „Boom and Bust“ statt Gleichgewicht
2.5 Reflexivität als neues Paradigma der Finanzmärkte
2.6 Regulierung – Kapitalismus ohne Krise?
2.7 Krisen der Wirtschaft als Natur des Menschen

3. Marxistische Analyse der krisenhaften Produktionsbedingungen
3.1 Motor der Geschichte: Materielle Strukturen statt Ideen
3.2 Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse
3.3 Klassenantagonismus durch Privateigentum an Produktionsmitteln
3.4 Überproduktions-Dynamik: Die Krisen des Kapitalismus
3.5 Revolution und klassenlose Gesellschaft

4. Reflexivität und Marxismus
4.1 Einig über Krisennotwendigkeit
4.2 Dissens über Ursachen – offene oder determinierte Geschichte
4.3 Der Einfluss des Denkens auf die kapitalistische Welt

5. Ausblick

6. Literaturverzeichnis
6.1 Verwendete Internetquellen

1. Einleitung

In dieser Arbeit werden die „Boom and Bust“-Phasen – also Aufschwung und Krise – des Kapitalismus aus zwei theoretischen Perspektiven auf ihre Ursachen hin unter- sucht. Vor dem Hintergrund der „schwersten Krise [des Kapitalismus] seit dem Zwei- tem Weltkrieg“1 – wie der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank Jean- Claude Trichet die gegenwärtige Lage einschätzt – erhält das Thema auch eine ak- tuelle Relevanz. Dabei wird gezielt auf zwei Theoretiker zurückgegriffen, die nicht den neoklassischen Mainstream der Volkswirtschaftslehre verkörpern. Herangezo- gen werden die Theorie der Reflexivität des US-Milliardärs George Soros und die marxistischen Analyse der Produktionsbedingungen. Begonnen wird im Folgenden nun mit der Theorie der Reflexivität. Anschließend wird dann im dritten Teil der Arbeit die marxistische Analyse der Produktionsbedingungen dargestellt. Daran ange- schlossen erfolgt im vierten Teil eine Gegenüberstellung und kritische Reflektion der beiden Ansätze. Abschließend wird ein Ausblick gewagt.

2. George Soros‘ Theorie der Reflexivität

2.1 Dialektik der Reflexivität

George Soros‘ Theorie der Reflexivität stellt einen grundsätzlich dialektischen Ansatz dar. Entsprechend einer dialektischen Konzeption wird für die Erklärung von sozialen Phänomenen keine einfache Kausalität zugrunde gelegt, sondern eine prozesshafte Wechselwirkung. Soros vermeidet jedoch bewusst den Begriff „Dialektik“ und spricht stattdessen von „Reflexivität“, um sich von der Dialektik von Hegel und Marx abzu-grenzen.2 Dabei greift sein Ansatz die beiden Konzepte jedoch explizit auf und ver-sucht sie zusammenzuführen: Die Theorie der Reflexivität beabsichtigt dabei nicht weniger als eine Synthese zu bilden aus Hegels Dialektik der Ideen und Marx’ dialek- tischem Materialismus:3

„ Instead of either thoughts or material conditions evolving in a dialectic fashion on their own, it is the interplay between the two that produces a dialectic pro-cess. […] I find Hegel obscure, and Marx propounded a deterministic theory of history that is diametrically opposed to my own view.” 4

Verkörpert werden soll diese Synthese der beiden Ansätze in der Theorie der Refle- xivität durch eine allgemeine Dialektik von „Denken und Realität“.5 Dabei geht Soros im Gegensatz zur marxistischen Dialektik grundlegend davon aus, dass die Entwick- lung der Geschichte immer offen verläuft.6 Gleichzeitig soll aber auch eine rein idea- listische Vorstellung von geschichtlicher Entwicklung vermieden werden.

2.2 Fehleinschätzungen als Motor der Geschichte

Die Theorie der Reflexivität konzentriert sich dabei auf zwei dialektisch zusammen- wirkende Funktionen durch die denkende Individuen mit ihrer Umwelt interagieren: Demnach versuchen die Menschen einerseits die Welt zu verstehen, was Soros als„kognitive Funktion“ bezeichnet, und andererseits versuchen sie die Welt auch zu verändern, was als „manipulative Funktion“ bezeichnet wird.7 Entscheidend dabei ist, dass das Erkenntnisvermögen der Menschen im Rahmen der kognitiven Funktion niemals allumfassend sein kann, sondern immer nur von Absichten und Erwartungen in Bezug auf die Zukunft der Realität geprägt ist. Insofern besitzen die Menschen generell kein vollkommenes Wissen über die Welt, sondern handeln immer unter Un- sicherheit.8 Diese prozessimmanente Unsicherheit führt jedoch im Rahmen der ma- nipulativen Funktion zu ungeeigneten Handlungen. Insofern wird also durch Fehlein- schätzungen, die zu fehlerhaftem Handeln führen, die Realität beeinflusst. Dieses Wechselverhältnis von begrenztem Wissen und deshalb auch fehlerhaftem Handeln bildet den Kern des Reflexivitätsansatzes. Soros erklärt nun dieses Prinzip der Fehl- einschätzung zur entscheidenden Triebkraft der Geschichte:

“ The historical process, as I see it, is open ended. Its main driving force is the participants' bias. […] I contend that historical processes are shaped by the misconceptions of the participants. I would even go as far as to say that the ideas that make history consist of fertile fallacies.” 9

Es sind demnach also hauptsächlich die Ideen und Vorstellungen der Menschen im Zusammenspiel mit der von den Vorstellungen abweichenden Empirie, die die Ge- schichte bedingen. Die Zukunft ist demnach nicht durch die materiellen Rahmenbe- dingungen der Produktion vorstrukturiert, sondern eröffnet dem Individuum jederzeit freie Entscheidungsmöglichkeiten – auch wenn Entscheidungen dabei unter Unsi- cherheit getroffen werden und somit notwendigerweise fehlerhaft sind. Die als Syn- these von Hegels und Marx‘ Dialektik konzeptualisierte Theorie der Reflexivität ge- wichtet also deutlich die Dynamik der Ideen stärker und verwirft entschieden die prin- zipielle Vorstrukturiertheit der Entwicklung durch die vorherrschenden Produktions- bedingungen.

2.3 „Falsches“ Paradigma als Ursache der Krise des Kapitalismus

Entsprechend macht Soros für die aktuell „schlimmste Finanzkrise [des Kapitalismus] seit den 1930er Jahren“ auch ein falsches Paradigma verantwortlich und nicht die vorherrschenden Produktionsstrukturen:10

“ The currently prevailing paradigm, namely that financial markets tend towards equilibrium, is both false and misleading; our current troubles can be largely attributed to the fact that the international financial system has been devel- oped on the basis of that paradigm.” 11

Hauptverantwortlich soll folglich die Gleichgewichtsvorstellung der Volkswirtschafts- lehre sein, wonach Finanzmärkte immer zum Gleichgewicht tendieren. Grundlegend sind dafür die zwei Annahmen der „Lehrbuch“-VWL in Form von vollständigem Wett- bewerb und vollständigem Wissen der Marktteilnehmer.12 Vor dem Hintergrund des Reflexivitäts-Konzepts, wonach soziales Handeln gerade durch Unsicherheit und Fehleinschätzungen gekennzeichnet sein muss, wird die Lehrbuch- Gleichgewichtskonzeption vollständig verworfen: Denn in Bezug auf den Finanzmarkt führen die Fehleinschätzungen der Marktteilnehmer über die zukünftige Entwicklung von Finanzwerten dazu, dass der Marktpreis von den Finanzwerten in eine bestimm-te Richtung beeinflusst wird, was wiederum zur Folge hat, dass auch die zugrunde- liegenden Werte beeinflusst werden. Beispielsweise kann die Fehleinschätzung dar-über, dass der Aktienkurs eines Unternehmens steigen wird, dadurch bestärkt wer- den, dass der Kurs durch Aktienkäufe vieler anderer Marktteilnehmer, die der glei- chen Fehleinschätzungen unterliegen, tatsächlich steigt. Durch den gestiegenen Ak- tienkurs ist das Unternehmen zudem tatsächlich in der Lage mehr Kredite aufzu- nehmen. In der Folge wird der Glauben daran, dass das Unternehmen in Zukunft mehr Gewinn erwirtschaften wird, noch weiter verstärkt – auch dann, wenn das Un- ternehmen im Marktumfeld möglicherweise aufgrund anderer Faktoren, trotz der hö- heren Kredite, gar nicht in der Lage ist mehr Gewinn zu generieren. Durch die Beein- flussung der zugrundeliegenden Werte, wird also in der Folge die ursprüngliche Fehleinschätzung noch weiter angetrieben. Diese sich immer weiter selbstverstär- kende Wirkung wird – sofern keine Korrektur stattfindet – irgendwann so weit über-steigert, dass der Aktienkurs in einem Crash zusammenbricht.13 Am Finanzmarkt entwickelt sich demnach also nicht – wie die neoklassische Wirtschaftstheorie vor- sieht – ein Gleichgewichts-Zustand, sondern es prägen sich Trendphänomene und Herdenverhalten aus. Dabei können sich die Trendentwicklungen, sowohl in Form eines steigenden, als auch eines fallenden Kurses von einem Finanzprodukt auswir- ken. Ins Extrem getrieben entwickeln sich diese Trends zu „Boom and Bust“-Phasen.

2.4 „Boom and Bust“ statt Gleichgewicht

Die Theorie der Reflexivität beansprucht nun für sich dieses Trendverhalten – wie es in den „Boom and Bust“-Phasen im Kapitalismus zum Ausdruck kommt – überwie- gend zurückführen zu können auf die Dynamik der Reflexivität. Demnach sind „Boom and Bust“ Phänomene also nicht die direkte Folge von strukturellen Ereignissen, wie etwa sinkenden Zentralbankzinsätzen oder Überproduktion, sondern das Ergebnis zugrundeliegender Fehleinschätzungen der Marktteilnehmer. Die konkrete zugrunde- liegende Fehleinschätzung ist dabei nach Soros je nach historischem Kontext unter- schiedlich: Im Falle der Subprime-Krise war es beispielsweise die Fehleinschätzung dahingehend, dass die Immobilienpreise in den USA immer steigen werden und dass es deshalb problemlos möglich sei, sogenannte „Ninja“-Kredite (No Income, No Job, No Assets) an Personen ohne jegliche finanzielle Sicherheiten zu vergeben:

“ In practice, the bankers and the rating agencies grossly underestimated the risks inherent in absurdities like ninja loans.” 14

Soros geht im Zuge seiner Theorie also davon aus, dass sich die betreffenden Fi- nanzakteure im Rahmen der Kreditvergabe nicht im Klaren darüber waren, welche Konsequenzen ihr Handeln langfristig haben wird und es deshalb überhaupt zur Kri- se kommen konnte. Erst im Zuge der Finanzkrise, hätten nun aber auch Ökonomen erkannt, dass sich etwas am herrschenden Paradigma einer realitätsfremden Wirt- schaftstheorie ändern müsse:

“ Economists realize that the prevailing paradigm is inadequate, but they have not yet developed a new one.” 15

Soros geht also davon aus, dass es außer seinem Ansatz der Reflexivität noch kein anderes „wissenschaftliches“ Konzept gibt, dass die Funktionsweise des Kapitalis- mus realistischer erklären kann, als das die Volkswirtschaftslehre leistet.

2.5 Reflexivität als neues Paradigma der Finanzmärkte

In der Folge fordert er, dass das alte Volkswirtschafts-Paradigma eines effizienten Finanzmarktes, abgelöst werden soll durch das „realistischere“, neue Finanzmarkt- Paradigma in Form von Soros‘ Theorie der Reflexivität:

„ All we have to do is renounce the doctrine and adopt the theory of reflexivity. There is a heavy price to pay: Economists have to accept a reduction in their status. No wonder that they put up resistance.” 16

In der Konsequenz müsste aber neben der generellen Abwertung der Volkswirt- schaftslehre als unwissenschaftlich auch die Prognosefähigkeit der Wirtschaftswis- senschaften insgesamt aufgegeben werden:

Reflexivity „contends that social events are fundamentally different from natu- ral phenomena; they have thinking participants whose biased views and mis- conceptions introduce an element of uncertainty into the course of events. […] Accordingly the theory of reflexivity can explain events with greater certainty than it can predict the future.” 17

Insofern soll das alte Paradigma also abgelöst werden von einem Ansatz, der nur noch ex post erlaubt Rückschlüsse über falsches Denken zu ziehen, was verantwort- lich gemacht wird, für wirtschaftliche Entwicklungen. Gerade dieses Aufgeben jegli- cher Prognose-Funktion wird als besondere Auszeichnung des Reflexivitäts- Ansatzes angesehen:

“ Not only does the theory of reflexivity provide a better explanation of how fi- nancial markets function, but it is also less conductive to the manipulation of reality than the currently prevailing scientific theories because it avoids making excessive claims about its ability to predict and explain social phenomena.” 18

Die Vorstellung also, dass soziale Phänomene im Wirtschaftssektor konkret prognos- tiziert werden können, müsste demnach komplett aufgegeben werden. In dem Kon- text der Prognosefähigkeit stellt Soros den Marktfundamentalismus auf eine Stufe mit der „kommunistischen Ideologie“ und lehnt beide Ansätze entschieden ab, weil sie an einer deterministischen Prognose über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung festhal- ten.19 Fraglich ist insofern, was die Theorie der Reflexivität über die Entzauberung der Volkswirtschaftslehre hinaus konkret leisten kann, wenn jegliche Prognosefähig- keit in Bezug auf wirtschaftliche Entwicklung grundsätzlich verworfen wird. Zudem stellt sich dabei besonders die Frage, inwiefern die Regulierung von Märkten – die Soros entschieden fordert – überhaupt zur Verhinderung von Krisen beitragen kann, wenn man den Ansatz der Reflexivität konsequent zugrunde legt.

2.6 Regulierung – Kapitalismus ohne Krise?

Zwar nimmt Soros auch den Aspekt der Regulierung von Märkten in den Blick – die Frage aber, ob es nach der Konzeption der Reflexivität überhaupt einen Kapitalismus ohne Krisen geben kann, wird nicht entschieden genug beantwortet: So stellt Soros auf der einen Seite fest:

There is nothing predetermined or compulsory about the boom-bust pat- tern.” 20

Entsprechend seiner eigenen Theorie der Reflexivität müsste es aber so sein, dass Menschen grundsätzlich Fehleinschätzungen über die Entwicklung des Finanzmark- tes treffen und es deshalb auch immer zu Krisen im Kapitalismus kommen müsste. Auf der anderen Seite betont er aber auch:

“ Bubbles often lead to financial crises. Crises, in turn, lead to the regulation of financial markets. That is how the financial system has evolved – periodic cri- ses leading to regulatory reforms.” 21

Je mehr Krisen es also gibt, umso mehr Regulierungsmaßnahmen müssten daraus hervorgehen. Die Frage aber bleibt, ob durch mehr Regulierung Krisen des Kapita- lismus überhaupt prinzipiell verhindert werden können, wo doch die zugrundeliegen- den menschlichen Fehleinschätzungen bestehen bleiben:

It “is important to remember that the regulators are just as fallible as the partic- ipants. Changes in the regulatory environment place every crisis into a unique historical context.” 22

Da die Regulierer also den gleichen prinzipiellen Fehleinschätzungen unterliegen wie alle anderen Marktteilnehmer auch, müsste es demnach zwangsläufig – trotz mehr Regulierung – immer zu Krisen des Kapitalismus kommen. Insofern kann die Theorie der Reflexivität nicht anders, als zu dem einzigen Prognose-Ergebnis zu gelangen, dass es zwangsläufig immer Wirtschaftskrisen geben muss. Nur können dann im Weiteren keine genaueren Prognosen über den konkreten Verlauf und das zeitliche Auftauchen der Krisen abgegeben werden, weil die Krisen nicht als strukturell verur- sacht angesehen werden, sondern von den wenig konkreten Fehleinschätzungen der Marktteilnehmer abhängen. Die als vermeintliche Stärke des Ansatzes angesehene Ablehnung einer Determinierung von Ergebnissen durch Strukturen führt insofern zu einer Beliebigkeit, die kaum konkrete Anwendungsmöglichkeiten erkennen lässt. Obwohl Soros dieses Defizit durchaus bewusst ist, bemüht er sich nicht konkrete Vorschläge zu entwickeln, sondern begnügt sich mit dem generellen Konzeptualisie- ren seiner Theorie der Reflexivität:

„ But the theory must still show what it can do. I have done what I can by way of explanation.“ 23

2.7 Krisen der Wirtschaft als Natur des Menschen

Problematisch an dieser Konzeption der Krise ist aber vor allem, über die Unschärfe hinaus, dass so getan wird, als ob Wirtschaftskrisen aus der Natur des Menschen entspringen würden. Weil der Mensch und sein Erkenntnisvermögen also prinzipiell fehlbar seien, müsse es notwendigerweise auch zu Wirtschaftskrisen kommen. Nur haben Wirtschaftskrisen in letzter Konsequenz nichts mit der Natur des Menschen oder seinem Erkenntnisvermögen zu tun, sondern mit der Art der Wirtschaftsorgani- sation. Diesen Aspekt der sozialen Konstruktion von Wirtschaftssystemen blendet Soros vollständig aus. Im Folgenden soll deshalb die marxistische Analyse der Pro- duktionsbedingungen und ihr Verweis auf die strukturelle Krisenhaftigkeit des Kapita- lismus dargestellt werden.

3. Marxistische Analyse der krisenhaften Produktionsbedingungen

3.1 Motor der Geschichte: Materielle Strukturen statt Ideen

Die marxistische Analyse der Produktionsbedingungen steht jeglicher idealistischen Gesellschaftskonzeption fundamental gegenüber. Statt Ideen verantwortlich zu ma- chen für gesellschaftliche Entwicklungen, werden die konkreten Produktionsbedin- gungen in den Blick genommen. Denn es „ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein be- stimmt.“24 Dabei geht es dem historischen Materialismus nicht darum einen vollstän- digen Determinismus der Materie zu konzipieren, sondern vielmehr um eine Methode die Prozesshaftigkeit der Welt zu erfassen:

„ Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhan- denen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ 25

Das Erkenntnisinteresse des historischen Materialismus besteht insofern darin, die entscheidenden Dynamiken herauszuarbeiten, die zu diesen „gegebenen und über- lieferten Umständen“ geführt haben. Es geht also darum Entwicklungsgesetze zu erkennen, die geschichtliche Phänomene generell bedingen, so dass auch zukünfti- ge Entwicklungen antizipiert werden können. Als zentraler Faktor für die gesellschaft-liche Entwicklung werden dabei nicht Ideen, sondern die gesellschaftlichen Produkti- onsbedingungen in den Blick genommen: Denn „die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft ist der Arbeitsprozess, die Zusammenarbeit von Menschen mit dem Ziel, die Naturkräfte zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu nutzen“.26

3.2 Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse

Für den konkreten Arbeitsprozess sind zwei Aspekte entscheidend: Wie wird tech- nisch produziert und wie wird das Produzierte in der Gesellschaft verteilt? In der marxistischen Analyse werden für diese zwei Aspekte die Begriffe Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse verwendet.27 Die Produktivkräfte stellen dabei den technischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft dar – etwa in Form von Arbeits- kräften, Arbeitsmitteln sowie auch verwertbarem technischen Wissen.28 Dem gegen- über stehen die Produktionsverhältnisse mit der Frage nach der Eigentumsverteilung in Form von Produktionsmitteln und den Erzeugnissen der Produktion. Produktivkräf- te und Produktionsverhältnisse befinden sich dabei in einem ständigen prozesshaf- ten Wechselwirkungsverhältnis: Diese materielle Dialektik bewirkt, dass in dem Ma- ße, in dem sich die Produktivkräfte entwickeln, tradierte Eigentumsverhältnisse in Frage gestellt werden.28F29 So untergräbt aktuell beispielsweise die enorme techni- sche Entwicklung des Internets in Form von Filesharing massiv die Eigentumsan- sprüche ganzer Industrien – wie der Software- und Unterhaltungsindustrie.

3.3 Klassenantagonismus durch Privateigentum an Produktionsmitteln

Entscheidend bei den Produktionsverhältnissen ist insofern die Frage nach dem Ei- gentum an Produktionsmitteln – etwa in Form von Fabriken, Land, Rohstoffen etc.: Dabei können die Mittel für die gesellschaftliche Produktion in Besitz einzelner Indivi- duen, Gruppen oder – bei Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln – auch aller Menschen gleichermaßen sein. An der Frage, wer die Produktionsmittel konkret besitzt, entscheidet sich der Großteil des gesellschaftlichen Lebens: Denn in dem Moment in dem es Privateigentum an Produktionsmitteln gibt, entsteht eine Pfadabhängigkeit, die soziale Klassen hervorruft: Die herrschende Klasse, die die Produktionsmittel besitzt, und die beherrschte Klasse, die abhängig Arbeit verrichten muss.30 In der Geschichte gab es unterschiedliche Formen des Privateigentums, gemeinsam haben die unterschiedlichen Etappen aber, dass es Klassen und deshalb immer auch Klassenkonflikte gab.31

Die derzeitige kapitalistische Produktionsweise stellt ebenso eine Klassengesell- schaft dar – mit den „Kapitalisten“ bzw. der „Bourgeoisie“ als der herrschenden Klas- se und den „Arbeitern“ bzw. dem „Proletariat“ als der beherrschten Klasse.32 Wäh- rend die Kapitalisten über die Produktionsmittel verfügen, besitzen die Arbeiter keine Produktionsmittel und müssen, um überleben zu können, ihren einzigen verwertba- ren Besitz – ihre Arbeitskraft – an den Kapitalisten verkaufen. Für den Kapitalisten lohnt sich diese Lohnarbeit nur dann, wenn er durch den Verkauf der von den Arbei- tern produzierten Güter oder geleisteten Dienstleistungen mehr einnehmen kann, als er vorher in Produktionsmittel und den Kauf der Arbeitskräfte investiert hat. Gewinn entsteht also, indem Arbeitskraft billiger eingekauft wird, als die Erzeugnisse der Ar- beitskraft später wieder verkauft werden können. Dieser Überschuss, der über die angefallenen Kosten hinausgeht, wird im Marxismus als „Mehrwert“ bezeichnet.33 Da der Mehrwert beim Kapitalisten bleibt, wird dem Arbeiter also nur ein Teil seiner Ar- beitszeit entlohnt. Der Kapitalist eignet sich demnach fremde Arbeit in Form des Mehrwerts an. Marxistisch wird dieser gesellschaftliche Vorgang als „Ausbeutung“ charakterisiert.34

3.4 Überproduktions-Dynamik: Die Krisen des Kapitalismus

Aus diesem gesellschaftlichen Spannungsverhältnis von Kapital und Arbeit entwickelt sich jedoch eine Eigendynamik, die die kapitalistischen Produktionsbedingungen ins- gesamt bedroht: So findet der gesellschaftliche Konflikt nicht nur zwischen der herr- schenden und der beherrschten Klasse, sondern auch innerhalb der Klassen statt.Entscheidend dabei ist besonders die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander um Marktanteile. Denn um auf dem Markt bestehen zu können, muss der Kapitalist seine Produkte billiger anbieten können als sein Konkurrent. Bei gleicher Arbeitszeit und Entlohnung gelingt dies nur durch Erhöhung der Arbeits-Produktivität. Die Kapitalis- ten müssen also um in der Konkurrenz bestehen zu können, von sich aus die Pro- duktionstechnik permanent weiterentwickeln. Gerade die dadurch mögliche Erhö- hung der Produktion führt in der Folge aber zu periodischen Überproduktionskrisen. Denn durch die bessere Technik können Arbeiter entlassen bzw. Löhne gekürzt wer- den. In der Folge gibt es zwar mehr hergestellte Produkte, aber immer weniger Men- schen können sich die im Überfluss vorhandenen Produkte auch tatsächlich leisten. Demnach ergibt sich aus der kapitalistischen Produktionsweise notwendigerweise eine zyklische „Bewegung der Produktion mit den aufeinanderfolgenden Stadien Er-holung, Aufschwung, Boom, Krise und Depression“.35 Die Krise des Kapitalismus ist demnach also nicht – wie von der neoklassischen Volkswirtschaftslehre behauptet wird – eine Ausnahmeerscheinung, sondern umgekehrt: „Boom and Bust“ ist im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise gerade die Regel.

3.5 Revolution und klassenlose Gesellschaft

Da die herrschende Klasse wegen des beschriebenen Konkurrenzdrucks „nicht exis- tieren [kann], ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“36, führt der kapitalistische Klassenantagonismus zwangsläufig zu immer fortschrittlicherer Technik. Entsprechend der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnis- sen wird dieser Zwang zur „Revolutionierung“ der Produktivkräfte langfristig jedoch die Klassenherrschaft insgesamt in Frage stellen:

Denn auf „einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Pro- duktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produkti- onsverhältnissen […]. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ 37

Ohne es selbst zu wollen, sorgen die Kapitalisten also dafür, die Grundlage zu schaf- fen für ihre eigene Überwindung – sie produzieren insofern „ihren eigenen Totengräber“.38 Entsprechend seiner Bedeutung für die Produktivkraftentwicklung stellt der Kapitalismus die letzte Phase einer „antagonistischen Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ dar.39 Sobald die Produktivkräfte also durch die permanente„Revolutionierung“ durch die Kapitalisten weit genug entwickelt wurden, wird der Wi- derspruch zu den auf Ausbeutung basierenden Produktionsverhältnissen zur Revolu- tion – sowohl durch die unter der Ausbeutung am meisten leidende Arbeiterklasse, als auch durch den fortschrittlicheren Teil der Kapitalistenklasse – führen:

„ In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der gan- zen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revoluti- onären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil dieser Bourgeoisideologen , welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.“ 40

Da das Privateigentum an Produktionsmitteln die Grundlage für Klassengegensätze darstellt und folglich immer zu Klassenkonflikten und Wirtschaftskrisen führen wird, ergibt sich aus der gesellschaftlichen Dynamik der Produktion die einzige langfristige Lösung in Form der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln durch Revolution. Ziel ist es also eine am Gemeinwohl orientierte, eine weniger krisenhafte Produktionsweise ohne Ausbeutung und Klassen – also eine kommunistische Ge- sellschaft – zu realisieren. Entscheidend ist jedoch die Bedingung für die tatsächliche Entwicklung dieser neuen „klassenlosen“ Gesellschaft:

„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwi- ckelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ 41

Um die Produktivkräfte also überhaupt bis zu dem Niveau zu entwickeln, an dem ei- ne gemeinwohlorientierte Produktionsweise möglich wird, bedarf es der kapitalistischen Phase. Nach marxistischer Theorie wird der Kapitalismus also nicht nur nega- tiv, sondern äußerst ambivalent als konfliktträchtig, aber notwendig verstanden.

Der „real existierende Sozialismus“ der Sowjetunion wurde gegen diese marxistische Überlegung der Produktivkraftentwicklung ausgerufen. Statt die Phase der Marktwirt- schaft als notwendige Entwicklungsphase zu durchlaufen, wurde versucht direkt von einem unterentwickelten Agrarstaat in eine hochindustrialisierte sozialistische Ge- sellschaft „zu springen“. Da insofern eine Revolution ohne ausreichende Produktiv- kraftentwicklung erzwungen wurde, kann von dem konkreten Scheitern des real exis- tierenden Sowjetsystems keinesfalls auf das Scheitern des sozialistischen Modells insgesamt geschlossen werden. Folglich hängt von der Entwicklung der Produktiv- kraft ab, wann die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und damit eine kommunistische Gesellschaft möglich wird. Bis dahin wird es im Kapitalismus strukturell bedingt immer wieder zu „Boom and Bust“-Phasen kommen.

4. Reflexivität und Marxismus

4.1 Einig über Krisennotwendigkeit

Vor diesem Hintergrund kommen also die Theorie der Reflexivität und die marxisti- sche Analyse der Produktionsbedingungen zunächst zu dem gleichen Ergebnis: Im Kapitalismus muss es notwendigerweise immer wieder zu „Boom and Bust“-Phasen kommen. Beide Ansätze stimmen dabei überein, dass eine bestimmte Dynamik ver- antwortlich ist für Wirtschaftskrisen – nur werden dabei jeweils unterschiedliche Dy- namiken verantwortlich gemacht. Während die Theorie der Reflexivität auf die Dy- namik der menschlichen Fehleinschätzung verweist, erkennt der Marxismus die Pro- duktionsbedingungen und dabei konkret das Phänomen der zwangsläufig auftreten- den Überproduktion im Kapitalismus als Ursache für Krisen. Beide Ansätze wider- sprechen also fundamental der neoklassischen Volkswirtschaftslehre, die grundsätz- lich von der Stabilität des Kapitalismus ausgeht und Krisen lediglich als Ausnahme- fälle betrachtet.

4.2 Dissens über Ursachen – offene oder determinierte Geschichte

Den Erklärungsansätzen liegen nun aber zwei sich widersprechende Konzeptionen von geschichtlicher Entwicklung zugrunde: Während Soros also davon ausgeht, dass die Geschichte immer offen verläuft, betont der Marxismus den zwangsläufigen Cha- rakter der Dynamik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Der Marxis- mus prognostiziert also ganz konkret, dass durch die Entwicklung der Produktivkräfte die kapitalistische Produktionsweise langfristig überwunden wird und bis dahin immer wieder Überproduktionskrisen auftreten werden. Wirtschaftskrisen sind demnach also mit den historischen Produktionsbedingungen verbunden und werden erst dann nicht mehr in dem bekannten Muster auftreten, wenn kein Privateigentum an Produkti- onsmitteln mehr vorherrscht. Es sind also strukturelle Rahmenbedingungen, die zwangsläufig zu Krisen führen, und nicht etwa die Ideen oder Fehleinschätzungen der Individuen. Dementgegen verknüpft die Reflexivitäts-Konzeption Wirtschaftskri- sen mit der Natur des Menschen, so dass sie niemals verhindert werden können. Soros hält folglich den Ansatz der Produktionsdynamik für vollständig fehlerhaft, weil ihm die marxistische Prognose zu deterministisch erscheint, um noch wissenschaft- lich sein zu können. Stattdessen weist er auf die menschlichen Fehleinschätzungen hin, wonach niemals mit absoluter Sicherheit soziale Entwicklungen prognostiziert werden können.

4.3 Der Einfluss des Denkens auf die kapitalistische Welt

Während der Ansatz der Reflexivität also behauptet, Menschen können die Produkti- onsbedingungen – genauso wie die Umwelt generell – niemals vollständig begreifen, behauptet der Marxismus das Gegenteil: Die Produktionsbedingungen können ver- standen werden und es kann auch entsprechend gehandelt werden. Demnach besä- ße also die zentrale Ausgangslage der Reflexivitätskonzeption in Bezug auf ihre kognitive und manipulative Funktion keine Gültigkeit mehr – zumindest wenn es um wirtschaftliche Prozesse geht. Legt man nun die marxistische Analyse zugrunde kann folglich auch nicht mehr bei jeder Wirtschaftskrise davon ausgegangen werden, dass die zentralen Finanzakteure einer Fehleinschätzung unterlagen und es deswe- gen zur Krise kam – wie Soros es tut. Im konkreten Fall der Subprime-Kredite wider- spricht diese Interpretation der Krise zudem der Empirie. Durch die Veröffentlichung interner E-Mails der Ratingagenturen kam im Zuge der Finanzkrise etwa heraus wie die Angestellten der Agenturen selbst über die Ratingvergabe für verbriefte Hypothe- ken gedacht haben. Aussagen der Mitarbeiter wie „Let’s hope we are all wealthy and retired by the time this house of card falters” und “We rate every deal. It could be structured by cows and we would rate it” gingen um die Welt.42 Insofern greift die In- terpretation einer Fehleinschätzung viel zu kurz. Auch eine mögliche moralische Ver- urteilung der konkreten Akteure kann dem Phänomen nicht gerecht werden: Die Fra-ge ist – völlig unabhängig von der individuellen Kenntnislage der Akteure – ob die Wirtschaftsdynamik von „Boom and Bust“ im Rahmen des Kapitalismus prinzipiell überhaupt hätte verhindert werden können. Entsprechend der marxistischen Theorie ergeben sich aus dem Verwertungszwang des Kapitals notwendigerweise Wirt- schaftskrisen. Insofern ist Soros‘ Ansatz geradezu als idealistisch zu beurteilen, weil er davon ausgeht, dass Marktbewegungen durch Menschen entstehen – aber die Marktbewegungen müssen systemisch zwangsläufig entstehen, weil Kapital angelegt werden muss. Insofern unterschätzt Soros völlig die strukturellen Sachzwänge des Wirtschaftssystems und überbewertet den Handlungsspielraum der Individuen.

5. Ausblick

In einem Punkt ist Soros allerdings absolut zuzustimmen: Das alte Volkswirtschafts- Paradigma eines effizienten Marktes, ohne jegliche Krisen, und der langfristigen Prognose von Wohlstand für alle, ist unwissenschaftlich und empirisch falsch. Inso- fern ist richtig, dass die VWL als Wissenschaft keine Glaubwürdigkeit verdient hat. Einen Punkt übersieht Soros dabei jedoch: Die VWL rechtfertigt das ökonomische Prinzip des Kapitalismus. Sie aufzugeben würde die kapitalistische Produktionsweise insgesamt in Frage stellen. Es ist also kaum ein Zufall, wenn in der schwersten Wirt- schaftskrise des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg, der Nobelpreis für Wirt- schaftswissenschaften ausgerechnet an Theoretiker des freien Marktes vergeben wird. In der Krise soll also die VWL gerade nicht aufgegeben, sondern im Gegenteil, in ihrer Absurdität noch weiter legitimiert werden. Nur fällt mittlerweile selbst der Fi- nancial Times auf, dass die Nobelpreisträger dabei völlig „aus der Zeit gefallen“ er- scheinen und lässt Beobachter zu Wort kommen, die ironisch vorschlagen den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften in den „Preis für Theologie“ umzubenennen.43 Insofern sind die Wirtschaftswissenschaften inzwischen so weit von der Realität ent- fernt, dass man sie nicht mehr ernstnehmen kann. Das einzige wozu die VWL also noch herangezogen wird, ist die ideologische Rechtfertigung der kapitalistischen Produktionsweise. Insofern kann das Paradigma des freien Marktes nicht einfach ersetzt werden durch ein anderes, weil die Rechtfertigung des Wirtschaftssystems sonst gefährdet wird. Selbst wenn es aber aufgegeben werden würde, bleibt die Fra- ge, ob die Theorie der Reflexivität ein Gewinn wäre. Denn im Grunde rechtfertigt die Theorie der Reflexivität den Kapitalismus genauso wie die VWL: Zwar wird die Kri- senhaftigkeit des Kapitalismus anerkannt, aber dafür wird nicht etwa der Kapitalis- mus verantwortlich gemacht, sondern das Erkenntnisvermögen des Menschen. Dadurch geraten also revolutionäre Handlungen völlig aus dem Blick.

Insofern hat Soros Recht, dass ein neues Paradigma dringend nötig wird – nur ist es nicht das vorgeschlagene Paradigma der Reflexivität, sondern es muss die marxisti- sche Analyse der Produktionsbedingungen sein. Nur der Marxismus erklärt plausibel, warum es systemisch zu Wirtschaftskrisen kommen muss – der Verwertungszwang des Kapitals führt zu Überproduktionskrisen: Die Subprime-Krise zeigt die ganze Ab- surdität des Wirtschaftssystems. Zuerst werden Millionen Häuser gebaut und dann werden die Menschen aus den im Überfluss vorhandenen Häusern vertrieben. In der Folge leben die Menschen nun am Stadtrand in Camping-Zelten und die extra ge- bauten Häuser stehen unbewohnt leer. Auch in Bezug auf die Dialektik von Produk- tivkräften und Produktionsverhältnissen ist dem Marxismus zuzustimmen: Gerade die Entwicklung des Internets und der Computertechnologie insgesamt, stellt den ent- scheidenden Entwicklungsschritt in Bezug auf die notwendige Entwicklung der Pro- duktivkräfte für eine alternative Produktionsweise dar: So führt die konkrete Entwick- lung der Produktivkräfte in Form von Filesharing geradezu wie im marxistischen Lehrbuch zum Konflikt mit den Produktionsverhältnissen. Hinzu kommt, dass durch den Einsatz der Computertechnologie eine effiziente Planung überhaupt erst möglich wird. So haben zwei schottische Professoren, der Informatiker Paul Cockshott und der Ökonom Allin Cottrell, mit Ihrem Werk „Towards a New Socialism“, ein computer-unterstütztes modernes Planungskonzept entwickelt, das auf der marxistischen Arbeitswerttheorie basiert.44 Bereits zu Anfang des neuen Jahrtausends hielten die Autoren es für möglich, dass die „Berechnung [und Planung] der Arbeitszeiten für eine ganze Volkswirtschaft [mit 100 Milliarden arithmetischen Rechenoperationen in der Sekunde (100 Gigaflops)] in nur wenigen Minuten machbar“ ist.45 Heutige Super- computer bewegen sich allerdings schon im Petaflops-Bereich und sind somit nicht mehr bei Milliarden, sondern bei Billiarden Rechenoperationen in der Sekunde.46 Zu- dem hat die technische Seite der Erfassung von Daten durch das Internet, die Satelli- tentechnologie GPS und moderne RFID-Technologie enorme Fortschritte gemacht. Insofern sind die Produktivkräfte nach Ansicht der Autoren nun so weit entwickelt, dass die Grundlage für einen modernen demokratischen Sozialismus gelegt ist. Kri- sen sind insofern Wegbereiter der Revolution, wenn die benötige Produktivkraftent- wicklung bereits vorhanden ist.

In jedem Fall werden die Widersprüche zwischen immer besserer Technik und immer längeren Arbeitszeiten bei gleichzeitig immer schlechterer sozialer Absicherung zu offensichtlich. Dabei ist der Trend dieser Entwicklung durch die Subprime-Krise noch einmal ins Extrem getrieben worden: Die kurze Formel drückt das aktuelle Vorgehen treffend aus: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Vor diesem Hinter- grund werden Sozialsysteme mit dem Argument „Alternativlosigkeit“ der ökonomi- schen Sachzwänge radikal zusammengekürzt. Bereits jetzt sind die Folgen dieser Politik in Form von sozialer Verelendung der Massen im Süden Europas und weiten Teilen der USA 47 zu beobachten. So waren beispielsweise im Dezember 2011 46,5 von den 311 Millionen Amerikanern im Rahmen des „Supplemental Nutrition As- sistance Program“ (SNAP) Empfänger von Essensmarken.48 Damit verdient also je- der siebte Amerikaner nicht mehr genug, um sich selbst ernähren zu können.

Ein Argument besagt, dass der Arbeiter zwar tatsächlich – wie Marx es schildert – im Kapitalismus in Ketten liege, aber die Ketten seien durch den Sozialstaat und den allgemeinen Wohlstand so vergoldet, dass er keinen Grund mehr habe für die Revo- lution. Dieses Argument wird sich in den kommenden Jahren nicht nur in den USA, sondern auch in Europa hart bewähren müssen. Es wird sich zeigen, wie lange die zukünftig dann nicht mehr vergoldeten Ketten von einer bisher den Wohlstand ge- wöhnten Bevölkerung akzeptiert werden.

Selbst George Soros prognostizierte bereits entsprechend im Januar 2012 bevorste- hende „Aufstände“, „Klassenkampf“ und „Polizeistaat“.49 Diese deutliche Prognose steht dabei offensichtlich in massivem Widerspruch zu seiner eigenen Theorie der Reflexivität, wonach Prognosen generell aufgegeben werden müssen. Vielmehr klingt diese Einschätzung geradezu nach marxistischer Theorie. Zudem zieht Soros im aktuellen Krisenumfeld auch weitreichende historische Parallelen und deutet da- bei eine mögliche radikale Erschütterung des kapitalistischen Systems an:

“The collapse of the Soviet system was a pretty extraordinary event, and we are currently experiencing something similar in the developed world, without fully realizing what’s happening”. 50

Zudem scheint auch die herrschende Klasse inzwischen davon auszugehen, dass die Entwicklung der Produktivkräfte bei gleichzeitiger Verelendung der Massen nicht ohne Konflikte bleiben wird und sorgt vorsichtshalber vor: Der Philosoph Slavoj Žižek prognostiziert in dem Kontext bereits post-demokratische und totalitäre Strukturen:„The marriage between capitalism and democracy is over.” 51 In der Tat soll bis Ende 2013 das von der EU-Kommission finanzierte europäische Überwachungssystem„INDECT“ vollständig einsatzbereit sein. Dabei geht es um die zentrale Bündelung und per Computer automatisierte Auswertung bestehender Überwachungstechnolo- gien wie etwa Gesichtserkennung, Handyortung, Videoüberwachung, Telekommuni- kationsüberwachung sowie dem Einsatz von fliegenden Überwachungsdrohnen zur Personenverfolgung in der ganzen EU.52 Die Wochenzeitung Zeit bezeichnet IN- DECT als „Traum der EU vom Polizeistaat“ und führt aus:

„Begriffe wie Unschuldsvermutung oder gerichtsfester Beweis haben dabei keine Bedeutung mehr, ersetzt es doch die gezielte Suche nach Verdächtigen durch das vollständige und automatisierte Scannen der gesamten Bevölke- rung“. 53

Vor diesem Hintergrund erscheint ein Hinweis des berühmten Princeton Philosophie Professor Richard Rorty aus dem Jahr 1999 äußerst plausibel. Er hatte allen Stim- men zum Trotz, die den Sozialismus für endgültig erledigt halten, auf eine ganze an- dere mögliche historische Wendung hingewiesen:

„[N]obody can prove that Marx and Engels were wrong when they proclaimed that ‘the bourgeoisie has forget the weapons that bring death to itself.‘ It may be that the globalization of the labor market in the next century will reverse the progressive bourgeoisification of the European and North American proletariat. […] Maybe, in short, Marx and Engels just got the timing a century or two wrong.54

Vor dem Hintergrund der tatsächlich zunehmenden Verelendung der Massen, sowie der enormen Produktivkraftentwicklung in Form der Informationstechnologie, besteht die berechtigte Hoffnung, dass Rorty Recht behalten wird. Bleibt also zu hoffen, dass der nächste bevorstehende „Bust“ der letzte sein wird.

6. Literaturverzeichnis

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Mandel, Ernest (2002 [1979]): Einführung in den Marxismus. 7. Aufl. Köln: ISP.

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1972): Werke, Berlin/DDR: Dietz.

Ottmann, Henning (2008): Geschichte des politischen Denkens. Die Neuzeit. Die po- litischen Strömungen im 19. Jahrhundert. Stuttgart: J.B. Metzler.

Rorty, Richard (1999): Failed Prophecies, Glorious Hopes, in: Constellations 6 (2). S.216–221.

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6.1 Verwendete Internetquellen

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[...]


1 HVG/AFP/BRG/DAPD/RTR (2011): Trichet sieht „schwerste Krise seit Zweitem Weltkrieg“. Online unter: http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/trichet-sieht-schwerste-krise-seit- zweitem-weltkrieg/4480630.html [Stand: 09.08.2011; letzter Zugriff 25.03.2012].

2 Soros, George (1994 [1987]): The Alchemy of Finance. Reading the Mind of the Market. New York: John Wiles & Sons. S. 43.

3 Ebd.

4 Ebd.

5 Soros, George (2008): The New Paradigm for Financial Markets. The Credit Crisis of 2008 and what is means. New York: PublicAffaires. S. 51.

6 Soros, George (1994 [1987]). S. 43.

7 Soros, George (2008). S. 3.

8 Ebd.

9 Soros, George (1994 [1987]). S. 43.

10 Soros, George (2008). S. vii.

11 Ebd.

12 Ebd., S. 53.

13 Ebd., S. 57-58.

14 Ebd., S. xvii.

15 Ebd., S. 52.

16 Ebd., S. 75.

17 Ebd., S. 103.

18 Ebd., S. 75.

19 Ebd., S. 77.

20 Ebd., S. 101.

21 Ebd., S. 76.

22 Ebd., S. 77.

23 Ebd., S. 153.

24 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1972): Werke, Berlin/DDR: Dietz Verlag. Bd. 13, S. 9.

25 Ebd., Bd. 8, S. 115.

26 Callinicos, Alex (2011 [1983]): Die revolutionären Ideen von Karl Marx. 3. Aufl. Hamburg: VSA. S.142.

27 Ebd., S. 115.

28 Ottmann, Henning (2008). S. 163.

29 Ebd., S. 162.

30 Ebd., Bd. 21, S. 3.

31 Ebd., Bd. 4, S. 462f.

32 Ebd.

33 Ottmann, Henning (2008). S. 178.

34 Ebd.

35 Mandel, Ernest (2002 [1979]): Einführung in den Marxismus. 7. Aufl. Köln: ISP. S. 63.

36 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1972): Bd. 4, S. 465.

37 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1972): Bd. 13, S. 9.

38 Ebd., Bd. 4, S. 474.

39 Ebd., Bd. 13., S. 8f.

40 Ebd., Bd. 4. S. 471-472.

41 Ebd., S. 9.

42 Appelbaum, Binyamin (2010): E-Mails Offer Look at Rating Firms During Crisis. Online unter:http://dealbook.nytimes.com/2010/04/22/e-mails-offer-look-at-rating-firms-in-subprime-crisis/ [Stand:22.04.2010; letzter Zugriff 25.03.2012].

43 Beyerl, Hubert/Fricke, Thomas/Kaelble, Martin/Ohanian, Mathias (2011): Kritik an Preisvergabe. Nobelpreisträger aus der Zeit gefallen. Online unter: https://www.ftd.de/wissen/technik/:kritik-an- preisvergabe-nobelpreistraeger-aus-der-zeit-gefallen/60114420.html [Stand: 11.10.2011; letzter

44 Vgl. deutscher Titel: Cockshott, W. Paul/Cottrell, Allin (2006 [1993]): Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie. Köln: PapyRossa.

45 Ebd., S. 83.

46 Ernst, Nico (2011): Top 500. Schnellster Supercomputer erreicht 10,5 Petaflops. Online unter:http://www.golem.de/1111/87756.html [Stand: 15.11.2011; letzter Zugriff 10.03.2012].

47 Karl, Christine/Ressing, Jens (2011): Hunger und Obdachlosigkeit. Verarmende Staaten von Amerika. Online unter: https://www.ftd.de/politik/international/:hunger-und-obdachlosigkeit- verarmende-staaten-von-amerika/60142152.html [Stand: 14.12.2011; letzter Zugriff 10.03.2012].

48 United States Department of Agriculture (2011): Program Information Report (Keydata). Online unter: http://www.fns.usda.gov/fns/key_data/december-2011.xlsx [Stand: 01.03.2012; letzter Zugriff 10.03.2012].

49 RT (2012): George Soros predicts riots, police state and class war for America. Online unter:https://rt.com/usa/news/george-soros-class-war-619/ [Stand: 25.01.2012; letzter Zugriff 15.03.2012].

50 Ebd.

51 Talk to Al Jazeera (2011): Slavoj Zizek: Capitalism with Asian values. Online unter:http://www.aljazeera.com/programmes/talktojazeera/2011/10/2011102813360731764.html [Stand:13.11.2011; letzter Zugriff 10.03.2012].

52 Biermann, Kai (2009): Indect – der Traum der EU vom Polizeistaat. Online unter http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2009-09/indect-ueberwachung [Stand: 24.09.2009; letzter Zu- griff 10.03.2012].

53 Ebd.

54 Rorty, Richard (1999): Failed Prophecies, Glorious Hopes, in: Constellations 6 (2). S. 216.

Final del extracto de 23 páginas

Detalles

Título
"Boom and Bust"-Phasen im Kapitalismus. Folge menschlicher Fehleinschätzung oder systemischer Produktionsbedingungen?
Subtítulo
George Soros‘ Theorie der Reflexivität und Karl Marx‘ Analyse der Produktionsbedingungen
Universidad
LMU Munich  (Institut für Soziologie)
Curso
Economic Sociology
Calificación
1,15
Autor
Año
2012
Páginas
23
No. de catálogo
V456344
ISBN (Ebook)
9783668869653
ISBN (Libro)
9783668869660
Idioma
Alemán
Palabras clave
boom, bust, kapitalismus, folge, fehleinschätzung, produktionsbedingungen, george, soros‘, theorie, reflexivität, karl, marx‘, analyse
Citar trabajo
Carl Philipp Trump (Autor), 2012, "Boom and Bust"-Phasen im Kapitalismus. Folge menschlicher Fehleinschätzung oder systemischer Produktionsbedingungen?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/456344

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