Reproduktion von Bildungsungleichheit in Deutschland

Über "Die feinen Unterschiede" von Pierre Bourdieu


Dossier / Travail, 2017

16 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Habitus- und Kapitaltheorie, Grundbegriffe
2.1 Homo oeconomicus / rational choice

3. Bildungsbegriff
3.1 Bildungsungleichheit

4. Faktoren und Erklärungsmuster
4.1 Der Weg zum Zertifikat
4.2 Migrationshintergrund und frühkindliche Bildung

5. Abschließende Worte

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das deutsche Bildungssystem ist öfters in der Kritik, gleichzeitig wird doch öfters postuliert, dass „Bildung“ der Schlüssel zu „Erfolg“ und für die menschliche Entwicklung unabdingbar ist. Ziel dieser Arbeit ist es an Hand von Bourdieus Kapital- und Habitustheorie unterschiedliche Lebensstile und Lebensstilwandlungen zu beleuchten und ihre Entstehung aufzuzeigen, so wie zu diskutieren, inwiefern soziale Mobilität möglich ist, und welche Rolle „Bildung“ dort spielt. Es soll besprochen werden, was „Bildung“ überhaupt bedeutet, welche Verständnisse es über sie gibt, und welchen Faktor sie in Transformationsprozessen der sozialen Mobilität hat; Ferner noch, welche Ungleichheit in ihr herrscht, und welche Folgen dies hat. Jenes wird in Anlehnung an Bourdieus Gedanken zum kulturellen Kapital und zur legitimen Kultur, aber auch spezifisch mit Beobachtungen zur Bildung und dem Bildungssystem in Deutschland mit den hiesigen „Besonderheiten“ untersucht. Generell wird diese Arbeit auch abbilden, wo Bildungsungleichheit herrscht, und welche Faktoren zu ihr führen, und wie sie sich auf Grund ihrer jetzigen Konstitution und Konzession reproduzieren muss.

Zu Beginn dieser Arbeit soll nun der Habitus Begriff von Bourdieu, und dessen Verständnis über die Strukturierung und Chancenverteilung der Gesellschaft und deren Reproduktion angeführt werden.

2. Habitus- und Kapitaltheorie, Grundbegriffe

Der Habitus ist grundsätzlich das Erzeugungsprinzip erstens objektiv klassifizierbarer Praxisformen sowie zweitens deren Klassifikationssystem. Verschiedene Habitusformen werden durch verschiedene Existenzbedingungen geformt. Diese Bedingungen verstehen sich als „oben/unten, arm/reich, etc.“ (Bourdieu 2014: 277) bzw. als die „ökonomischen, sozialen und kulturellen Zwänge“ (Carnicer 2015: 49) die aus der Art und der Menge des jeweiligen Kapitals 1 entstehen. Dementsprechend entstehen verschiedenen Praxisformen und Werke, die anhand von Klassifikationssystemen wie dem „Geschmack“ objektiv unterschieden aber auch bewertet werden. Aus dem Verhältnis unterschiedlicher klassifizierbarer Praxisformen und Klassifikationssystemen entstehen verschiedene Habitusformen, die durch verschiedene Wahrnehmungs- und Wertungsschemata gekennzeichnet sind, sowie ein Raum verschiedener Lebensstile (Bourdieu 2014: 277ff) und Dispositionen. Dies wird auch als opus operati - Konstituierung des Habitus durch Existenzbedingungen und soziale Struktur - und modus operandi - Interpretationsmuster, die Realität einzuschätzen und angebrachtes Verhalten zu äußern - verstanden (Stein 2006: 151).

Das was man nun als Klassen2 versteht sind Gruppen von Personen, die durch ihre Lebens- bzw. Existenzbedingungen eine ähnliche Position im sozialen Raum und dadurch ähnliche Lebensstile haben (Carnicer 2015: 33) und reproduzieren. Durch und mit dieser Ähnlichkeit schafft sich der Habitus ein Milieu, das auf Strategien basiert, neue Informationen bzw. Kritik, die die Stabilität der Dispositionen der Akteure gefährden könnte („Krisen“) zu vermeiden (Bourdieu 1987: 114). Die Stabilhaltung dieser Stabilität wird von Bourdieu als Hysteresis Effekt bezeichnet (Bourdieu 2014: 238). Er besagt, dass der Habitus mit seinen hervorgebrachten Dispositionen sich im Wesentlichen schwer ändert, und vorhandene Züge in anderen Kontexten lediglich verstärkt oder abgeschwächt werden können (Stein 2006: 153). Bourdieu sagt jedoch auch, dass ein Habitus sich am sichersten dort reproduziert, wo sein Erzeugungs- und Anwendungsschema kongruent sind. Wenn dies nicht der Fall ist, und die ökonomischen und sozialen Bedingungen sich „ungewohnt“ verändern, kann es bei den Akteuren entweder zur Anpassung / Resignation oder aber zur Nichtanpassung / Revolte kommen (Bourdieu 1987: 117). Dies kann sich auch darin äußern, dass sich Menschen „unzeitgemäß“ oder „unsinnig“ bzw. „desorientiert“ verhalten. Man kann generell von einer Tendenz zu dauerhaften Dispositionen der Akteure sprechen (Wacquant/Bourdieu 1996: 164f), die Habitustheorie jedoch selbst nicht als vollkommen deterministisch sehen.

Wenn eine oben genannte „Gespaltenheit des Habitus“ eintritt, kann sich durch diese Situation aber ebenfalls eine neue Sichtweise auf die Welt ergeben, die eventuell vorteilhafter oder einsichtiger ist, als die von Akteuren, die in ihrer gewohnten Umwelt mit ihren gewohnten Dispositionen verharren (Carnicer 2015: 53f nach Bourdieu 2001: 209).

Generell unterscheidet Bourdieu zwischen zwei (bzw. drei) Ansätzen der Durchsetzung und der Erklärung von sozialen Kämpfen der „Repräsentation der eigenen sozialen Position“ (Bourdieu 2014: 394): Zum einen die Distinktion, der Geschmack für wahre, legitime Kultur und Kulturgüter, ohne Streben nach dieser natürlichen Distinktion - sie hat beispielsweise Merkmale wie Diskretion und Schlichtheit - zum anderen nennt er die Prätention, die Distinktions absicht: das Angeberische, „Geschmack“ für Imitation und Massenkultur.

Es gibt jedoch ein Wechselspiel zwischen Distinktion und Prätention, welches erst den Glauben an den Wert der Kultur und ihrer Güter bzw. deren Erstrebsamkeit erzeugt und bekräftigt. Somit kann man auch von einer „objektiven Zusammenarbeit“ sprechen. Denn es gibt einen inkorporierten Glauben an die legitime Kultur, und an deren Zertifikate (ebenda 387ff, vgl. Mandl 2012: 34) – dazu jedoch später.

Ein Habitus, der durch „prekäre“ Lebensbedingungen geformt wurde, erzeugt einen „Notwendigkeitsgeschmack“ (ebenda: 587), den die unteren Klassen wortwörtlich verkörpern.3 Außerdem führt Bourdieu in seiner Kapitaltheorie verschiedene Arten und Formen von Kapital vor: ökonomisches, kulturelles (inkorporiert, institutionell oder objektiviert) und soziales. Je nach sozialer Lage liegen die Kapitalsorten in unterschiedlicher Menge und Form vor. Interessant und aufschlussreich ist bei dem Kapital, wie es erworben wurde, wie es investiert wird, und welche Bestrebungen es gibt, es zu akkumulieren oder zu konvertieren (ebenda: 440f). Beobachtungen und Fragen dazu, sind auch jene des sozialen Auf- und Abstiegs; Fragen der sozialen Mobilität.

2.1 Homo oeconomicus / rational choice

All dies sei angeführt, um zu zeigen, dass ein „homo oeconomicus“ (Carnicer 2015: 13) Prinzip, welches darauf beruht, dass ein Individuum in der Gesellschaft alle seine Entscheidungen einer Kosten/Nutzen-Analyse unterzieht, um seinen eigenen Nutzen zu maximieren, nicht genügt, um gesellschaftliche Praktiken und Entscheidungen ausreichend zu erklären, sondern dass die Realität wesentlich komplexer ist.

Es wird unter anderem behauptet, dass die „Bildungsungleichheit […] eine Folge vorausgegangener individueller Bildungsentscheidungen sei“ (Kristen 1999: 16).

Dieser Ansatz der rationalen Wahl wird von Breen und Goldthorpe ausgeführt; es wird angenommen, dass die Entscheidung der Eltern oder der Kinder selbst, die „Bildung“ der Kinder weiter zu fördern bzw. zu fordern, erstens eine Frage der finanziellen Mittel - die für das Kind mehr aufgebracht werden müssen, als wenn es den Bildungsweg abbrechen und arbeiten würde - zweitens ein Einschätzen, darüber, ob das Kind die erforderlichen Prüfungen bestehen kann, und drittens eine Frage der Wertbeimessung von einer möglichen (beruflichen) Position ist, die sich aus dem Verlaufsmodell „Bestehen / Nichtbestehen / Aufhören“ (engl. Pass / Fail /Leave) ergeben kann, und dementsprechend in dem genannten Fortschrittsniveau höher bzw. tiefer ist: Dienstleistungsschicht / Arbeiterschicht / Unterschicht (engl. Service class / Working class / Underclass) (Breen/Goldthorpe 1997: 279ff). Jedoch wird die soziale Herkunft per se als Faktor in ihrer Erklärung von Bildungsungleichheit nicht stark berücksichtigt. Allgemein spricht man von primären und sekundären Effekten sozialer Herkunft (engl. effects of stratification). Primär sind die Effekte, (kulturelle:) die des sozialen Status, und der elterlichen Bildungsdistanzen sowie das vorhandene ökonomische Kapital (Mandl 2012: 16 nach Becker/Lauterbach 2007: 13). Sekundär sind die Effekte, die eintreten, wenn es darum geht, eine Entscheidung über den weiteren Bildungsverlauf zu treffen. Diese sekundären Effekte sind nach Boudon und der „rational choice“ Theorie die stärksten (Boudon 1974: 29, eine „Erweiterung Keller-Zavallonis Ideen“ (ebd.)).

Folglich soll nach dem der Bildungs- und Bildungsungleichheitsbegriff definiert wurde, Aufschluss darüber gegeben werden, welche Faktoren und Effekte bzw. Erklärungsmuster eher geeignet sind, um sie bei der Thematik „Bildungsungleichheit“ heranzuziehen.

3. Bildungsbegriff

Bildung meint nicht allein die formale Erlangung eines schulischen oder akademischen Zertifikats. Denn solche sind an sich nicht aufschlussreich darüber, wieviel sozial verwertbares kulturelles Kapital hinter selbst identischen Zertifikaten (das heißt mit gleichem schulischem Kapital) steckt, denn „einberechnet“ wird nicht, welche unterschiedlichen Investitionen (ökonomisch, zeitlich) geleistet worden sind, und wieviel verschiedenes ererbtes und inkorporiertes Kapital hineingeflossen ist (Bourdieu 2014: 143ff), geschweige denn welche Erziehung und Sozialisation neben der Schule geschieht. Das erworbene schulische Kapital als institutionelle Bildung, kann also höchst unterschiedlich sein, und daher – allein – ein schlechter Maßstab sein, für das was man unter Bildung sonst versteht: Prozesse der Veränderung des Verhältnisses vom Menschen zu seiner Welt (Carnicer 2015: 4) und die Möglichkeit zur freien Entfaltung und Emanzipation, so wie einer aktiven Teilhabe und Mitgestaltung der Gesellschaft. Außerschulische Bildung kann habitusspezifisch für den Akteur lebenswichtig sein, und ihm dabei helfen in seinem Milieu und in der Gesellschaft zu überleben; sie wird jedoch nicht als legitime Bildung angesehen. Somit entsteht durch die formale Bildung als die einzig legitime eine Reproduktion der Hierarchisierung der Kultur und dadurch eine Abwertung von außerschulischer Bildung und dem dort erlernten, sowie eine Verringerung von Lebenschancen der Akteure, die zum Beispiel nicht eine auf Schulbildung und damit auf „gewollte“ politische und ökonomische Kulturtechniken abgerichtete Erziehung bekommen (Grundmann 2011: 64ff). In anderen Worten ist die erfolgreiche formale Bildung ein „Ausdruck dafür, dass Menschen ‚fähig‘ und ‚bereit‘ sind, den gestiegenen Leistungsanforderungen in unserer Gesellschaft gerecht zu werden“ (Leuze/Solga 2013: 128); man spricht in diesem Zusammenhang auch von Bildungsarmut, ein Bildungsniveau, das formell nicht ausreichend ist, um in der Gesellschaft und im Arbeitsmarkt eine gleichberechtigte Teilhabe zu halten (ebd.: 116). Es gilt also begrifflich und hermeneutisch zu unterschieden zwischen Bildung und formaler bzw. institutioneller Bildung, und zu verstehen, dass sich letztere den Gesamtbegriff zu eigen machen will.

3.1 Bildungsungleichheit

Es ist sehr schwer, ohne institutionell zertifizierte Bildung seine „individuelle Lebenschancen, Selbstverwirklichung, beruflichen Erfolg sowie soziale, politische und kulturelle Teilhabe“ (Solga/Dombrowski 2009: 1) zu verbessern oder zu erlangen. Vor allem in Deutschland herrscht eine hohe, teils überdurchschnittliche Korrelation zwischen Bildungsniveau und Beschäftigungsquote (OECD 2016: 130) und auch ebenfalls Bildungsniveau und Einkommen (OECD 2016: 157). Denn es scheint, als käme die Chance auf Realisierung der oben genannten Möglichkeiten erst über die ökonomische Sicherheit (Mandl 2012: 6). Selbst Angaben zur körperlichen und psychischen Gesundheit steigen bei höherer Bildungsstufe und höherer Lesekompetenz drastisch (OECD 2016: 203; StatLink Tabelle). Außerdem stehen Menschen ohne Bildungszertifikate (oder nur mit solchen, mit denen sie auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben) auch psychischen Belastungen, so wie Stigmatisierung, „Erklärungsdruck“, und Ausgrenzung Gefahr (Ludwig-Mayerhofer/Kühn 2010: 143).

[...]


1 Der Kapitalbegriff wird später erläutert.

2 Bourdie spricht in seiner Arbeit öfters von Klassen. Teil dieser Arbeit ist nicht, dessen Sinnhaftigkeit und Aktualität grundlegend zu diskutieren. Es werden verschiedene Ansätze der Gesellschaftsunterteilung wie die, in Milieus oder Schichten vertreten.

3 Dies beschreibt Bourdieu als „die körperliche Hexis“ (Bourdieu 2014: 739): Den Stellenwert, den man in der sozialen Welt hat, oder glaubt zu haben, drückt sich in der Folge durch den eigenen Körper und dessen Haltung aus. Di

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Reproduktion von Bildungsungleichheit in Deutschland
Sous-titre
Über "Die feinen Unterschiede" von Pierre Bourdieu
Université
University of Frankfurt (Main)
Note
2,0
Auteur
Année
2017
Pages
16
N° de catalogue
V456378
ISBN (ebook)
9783668888326
ISBN (Livre)
9783668888333
Langue
allemand
Mots clés
Bourdieu, Bildungsungleichheit, Ungleichheit, Bildung, Schule
Citation du texte
Philipp Blaich (Auteur), 2017, Reproduktion von Bildungsungleichheit in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/456378

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