Die Ehe der Maria Braun wurde zur Eröffnung der Berlinale 1979 uraufgeführt und war sowohl in Deutschland als auch im Ausland sehr erfolgreich. Er ist der erste Film einer BRD-Trilogie (weitere Filme: Lola [1981] und Die Sehnsucht der Veronika Voss [1982]), in der Rainer Werner Fassbinder anhand exemplarischer Frauenkarrieren die deutsche Gesellschaft in den Anfangsjahren der Bundesrepublik beleuchtet und den Brückenschlag zum Deutschen Herbst von 1977 versucht. Maria Braun ist die Verkörperung des deutschen „Nachkriegswunders, mit dem eilig alles beiseite geräumt wurde, was an die Herrschaft der Nazis erinnerte“ und dessen Folgen bis in die Ära Schmidt nachwirken.
Inhalt
1. Einleitung
2. „Vielleicht lebe ich in einem Land, das so heißt – Wahnsinn.“ – Fassbinders Deutschland
2.1 Fassbinders Generationserfahrung und Umgang mit der Geschichte
2.2 Fassbinders politische Gegenwart und Entstehungszeit des Films
3. Maria Braun im Spannungsbogen von individueller und allgemeiner deutscher Geschichte
3.1 Frausein nach Kriegsende – Film und Realität
3.2 Versorgungslage und kulturelle Amerikanisierung
3.3 Wirtschaftlicher Aufschwung und politische Emanzipation der frühen 1950er Jahre
4. Ein feministischer Film?
5. Gattung und Gestalterische Mittel
5.1 Ein dekonstruiertes Melodrama
5.2 Akustische und visuelle Gestaltungsmittel
5.3 Der Kommentar der Fußball-WM von 1954
5.4 Nachspann: Die Portrait-Serie
6. Eine Nation definiert sich über das „Wirtschaftwunder“ - Abschließende Betrachtung
7. Bibliografie
Inhaltsangabe
Deutschland im Zweiten Weltkrieg: In einem Standesamt, das gerade von einer Bombe getroffen wird, heiraten Maria (Hanna Schygulla) und Hermann Braun (Klaus Löwitsch). Ihre Liebesgeschichte ist jedoch eine unerfüllte: Nach einem halben Tag und einer ganzen Nacht muss Hermann zurück an die Front. Nach Kriegsende wartet Maria vergeblich auf seine Rückkehr. Ein Freund bringt ihr die Nachricht, er sei tot. Maria, die zielstrebig und durchsetzungsstark ist, wartet nicht passiv ab, sondern nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Um das Überleben ihrer Familie zu sichern arbeitet sie als Animierdame in einer Bar für amerikanische GIs und beginnt ein Verhältnis mit Bill (George Byrd), einem schwarzen US-Soldaten. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen, und er versorgt sie und ihre Familie mit den notwendigen Dingen. Eines Abends steht Hermann vor der Tür, und Maria erschlägt ihren Liebhaber. Hermann nimmt die Tat auf sich und wird zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Maria lebt von nun an nur noch für Hermann und ihre gemeinsame, ferne Zukunft. Auch ihre Gefühle verschiebt sie auf später. Für Emotionen ist im deutschen Wiederaufbau kein Platz. Sie treibt das Kind, das sie von Bill erwartet, ab und wird Prokuristin und Geliebte des Industriellen Karl Oswald (Ivan Desny), dessen Textilfirma sie zu ihrem eigenen Vorteil zum Erfolg führt.
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis geht Hermann nach Kanada, weil er zu stolz ist, sich von seiner Frau aushalten zu lassen. Maria, die es mittlerweile als Oswalds Geschäftspartnerin zu materiellem Wohlstand gebracht hat, erleidet Depressionsschübe und beginnt zu trinken. Eines Tages, kurz nach Oswalds Tod, kehrt Hermann zurück. Jetzt, nach einem Jahrzehnt, könnten sie eigentlich beginnen ihre Ehe zu leben. Bei der Testamentseröffnung durch Oswalds Sekretär kommt jedoch heraus, dass die beiden Männer hinter Marias Rücken eine Abmachung getroffen hatten: Hermann sollte nach seiner Haftentlassung ins Ausland gehen, damit Oswald seine letzte Zeit mit Maria verbringen kann. Im Gegenzug wurden Maria und Hermann zu Oswalds Alleinerben. Nachdem sie das erfahren hat, zündet sich Maria in der Küche eine Zigarette an. Weil sie vorher vergessen hat, das Gas abzustellen, explodiert das Haus während man im Radio hört, wie Deutschland die Fußballweltmeisterschaft gegen Ungarn gewinnt.
1. Einleitung
Die Ehe der Maria Braun wurde zur Eröffnung der Berlinale 1979 uraufgeführt und war sowohl in Deutschland als auch im Ausland sehr erfolgreich. Er ist der erste Film einer BRD-Trilogie (weitere Filme: Lola [1981] und Die Sehnsucht der Veronika Voss [1982]), in der Rainer Werner Fassbinder anhand exemplarischer Frauenkarrieren die deutsche Gesellschaft und Mentalität in den Anfangsjahren der Bundesrepublik beleuchtet.
Fassbinder hatte in den späten 1960er Jahre begonnen, eine Reihe von kompromisslos zeit- und sozialkritischen Filmen zu drehen. Liebe ist kälter als der Tod (1969), Händler der vier Jahreszeiten (1972), Angst essen Seele auf (1974) oder der Kollektivfilm Deutschland im Herbst (1977) belegen, dass er sich kontinuierlich mit der aktuellen bundesdeutschen Gesellschaftsrealität, deren Machtverhältnissen und Abhängigkeiten auseinandersetzte und diese im leitmotivischen Scheitern von Illusionen künstlerisch umsetzte. Die historische Dimension seiner Themen blieb jedoch vorerst unberücksichtigt.[1]
Nach 1977 greift er mit seinen großen publikumswirksamen Filmen – unter ihnen die Trilogie – die deutsche Nachkriegsgeschichte auf. Der Zeitpunkt ist nicht zufällig gewählt. Der Deutsche Herbst von 1977, in dem die Gewalttaten der RAF (Rote Armee Fraktion) den deutschen Staat auf die Probe stellen, wird von Fassbinder zum Anlass genommen, dessen Selbstverständnis zu hinterfragen: Wie demokratisch ist ein Staat in dem Moment, in dem er bereit ist, die Freiheiten und Rechte des Einzelnen der inneren Sicherheit nachzuordnen?
Um dieses Selbstverständnis erklären zu können, wählt Rainer Werner Fassbinder den historischen Ansatz und beleuchtet von diesem aus unter Zuhilfenahme einer analytisch-systemkritischen Perspektive die zeitgenössische bundesdeutsche Mentalität. Wie auch Walter Benjamin geht es ihm um das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, die sich „im Moment der Erkenntnis gegenseitig blitzartig erhellen“[2]. Ihn interessiert der Bruch von 1945, als die Zukunft noch offen stand und die Weichen für die Bundesrepublik erst noch gestellt werden mussten. Die vertane Chance dieses Neuanfangs war es, was ihn cinematographisch reizte und worauf sich seine persönliche Diagnose des Deutschen Herbstes gründete.
Maria Brauns Werdegang steht stellvertretend für die Entwicklung der Bundesrepublik. Sie ist die Verkörperung des deutschen „Nachkriegswunders, mit dem eilig alles beiseite geräumt wurde, was an die Herrschaft der Nazis erinnerte“[3]. Mit „Die Ehe der Maria Braun“ ergänzt Fassbinder das Bild der oft nostalgisch verklärten Ära der 1950er Jahre wachsam und liest es gegen die Konvention.
Diese Hausarbeit möchte sich auf sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtlichem Wege beiden Zeitebenen, den 1950er und den 1970er Jahren nähern und die Ereignisse der Jahre 1945 bis 1954 im Spiegel der Entstehungszeit des Films betrachten. Genauso wenig wie Fassbinders Film ein historisches Dokument ist, versucht sie nicht, sich ihrem Thema streng faktologisch zu nähern. Statt dessen möchte sie dem Diskussionspotential, das dem Film innewohnt, gerecht werden, indem sie Ansichten reflektiert, die den gesellschaftskritischen Autorenfilmer veranlassten, sich aus zeitgeschichtlicher Perspektive einer aktuellen Problematik zu nähern.
2. „Vielleicht lebe ich in einem Land, das so heißt – Wahnsinn.“ – Fassbinders Deutschland
Im Ausland, wo Fassbinder ein hohes Ansehen genoss, wurde er auch als glaubwürdiger Chronist Deutschlands geschätzt. Aufgrund seines kritischen Umgangs mit dem bundesrepublikanischen Zeitgeschehen bezeichnete ihn selbst ein konservatives Massenblatt wie die britische Daily Mail als das „Gewissen seiner Nation“[4][5]. Den Grund, warum er Zeitgeschichte filmisch aufarbeitet, erkennt die französische Le Monde in einem Nachruf in seiner Generationserfahrung:
Rainer Werner Fassbinder repräsentierte die leidenschaftliche Wut des deutschen Films, die Wut einer Jugend, die in den sechziger Jahren die Augen öffnete und wahrnahm, was die Älteren ihr hinterlassen hatten: die Zerstörung der deutschen Identität durch den Nationalsozialismus.[6]
2.1 Fassbinders Generationserfahrung und Umgang mit der Geschichte
Fassbinder spürt im Zuge eines deterministischen Geschichtsverständnisses die Ursachen der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation in der deutschen Nachkriegsgeschichte auf. Gleichzeitig stellt er die zu seiner Zeit etablierte Geschichtsinterpretation der fünfziger Jahre, die - wie in jeder Gesellschaft - von einer meinungsführenden Elite bestimmt wurde, infrage, und räumt mit deren historischer Mythenbildung auf.
Sein kritischer Ansatz – von Rezensenten bisweilen als Nihilismus gedeutet[7] – ist normativ und setzt bei den Möglichkeiten, das besiegte Deutschland gesellschaftspolitisch neu zu gestalten, an. Vor allem der erste Bundeskanzler, der konservative Übervater Konrad Adenauer mit seinem Credo „Keine Experimente!“[8], steht jedoch für eine Kontinuität alter Ordnungen. Mit Blick auf seine BRD-Trilogie äußert Fassbinder, nach 1945 sei die Chance vertan worden „einen Staat zu errichten, der so hätte sein können, wie es humaner und freier vorher keinen gegeben hat“.[9] Demgegenüber blickt er auf die tagespolitische Realität, in der ein Staat, unterstützt von einer autoritätsgläubigen Gesellschaft, aufgrund der terroristischen Bedrohungslage einige demokratische Rechte mit Füßen tritt.
[...] Ich sehe vieles, was mir auch heute wieder Angst macht. Der Ruf nach Ruhe und Ordnung. [...] Unsere Demokratie ist eine damals für die Westzone verordnete, wir haben sie uns nicht erkämpft. Alte Formen haben große Chancen, sich Lücken zu suchen, ohne Hakenkreuz natürlich, aber mit alten Erziehungsmethoden. Ich staune, wie schnell es in diesem Land eine Wiederbewaffnung gegeben hat. [...] Ich will auch zeigen, wie die 50er Jahre den Menschen der 60er Jahre geprägt haben. Diesen Zusammenprall der Etablierten mit den Engagierten, die in die Abnormalität des Terrors gedrängt wurden.[10]
Fassbinder entdeckt die Ursache hierfür in der Kontinuität der sozialpolitischen Mentalität einer breiten Bevölkerungsschicht. Vergleicht man das, was westdeutsche Zeitzeugen in den dreißiger und auch den fünfziger Jahren als oberstes politisches Ziel erachteten, zeigen sich Prallelen: Wirtschaftlicher Aufschwung – der Begriff des Wirtschaftswunders war schon für die einsetzende industrielle Rüstungsproduktion in den dreißiger Jahren geprägt worden –, Verminderung der Arbeitslosigkeit und die Schaffung von etwas, das als Ordnung empfunden wurde,[11] sind für beide Jahrzehnte und – nach Fassbinders Auffassung – schließlich auch für die siebziger Jahre kennzeichnend. Der Ruf nach einer starken regierenden Hand und die Autoritätsgläubigkeit waren ähnlich und ließen über moralisch bedenkliche Handlungen des Staatsapparates hinwegschauen. In seinem Beitrag zu dem Gemeinschaftsprojekt Deutschland im Herbst macht Fassbinder in einem (gestellten) Dialog mit seiner Mutter, die in der Krise von 1977 gern einen autoritären Herrscher an der Macht sähe, der „ganz gut ist und ganz lieb und ordentlich“[12], deutlich, dass – gerade weil sie das Dritte Reich selbst miterlebt hat – ihr Demokratieverständnis doch ein kompromissloseres sein müsste.
Genossen einerseits kleinbürgerliche Sekundärtugenden wie Ruhe, Disziplin, Ordnung, Tüchtigkeit, Pünktlichkeit, Sparsamkeit und Unterordnung in der Nachkriegszeit weiterhin ein hohes Ansehen, hatte man andererseits kaum Verständnis für jugendliche Eigenständigkeit. Vergleicht man EMNID-Umfragen zu den Erziehungszielen von 1951 und 1981, zeigt sich, dass 1951 „Selbstständigkeit und freier Wille“ (28 Prozent) und „Gehorsam und Unterordnung“ (25 Prozent) noch gleichrangig hinter „Ordnungsliebe und Fleiß“ (41 Prozent) lagen, während 1981 „Selbstständigkeit und freier Wille“ die höchste Wertschätzung (52 Prozent) erhielt und „Gehorsam und Unterordnung“ abgeschlagen auf einem der letzten Plätze (8 Prozent) rangierte.[13]
Die Erfahrungen des Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten unterdessen den Glauben an ein allgemeingültiges Wertesystem eher erschüttert als bestärkt. Demokratische Verhaltensweisen mussten erst durch die Alliierten vermittelt werden, und der Politik wurde insgesamt kaum vertraut. Die Bundesbürger standen jedoch politischen Extremen, Massenbewegungen und Ideologien zunehmend skeptisch gegenüber[14], während sie sich in einen ausgeprägten Privatismus zurückzogen. Die Kleinfamilie wurde zur Keimzelle des privaten Glücks, das mit dem einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung durch lange entbehrte und neue Konsumgüter ergänzt wurde. Nur wenn die Politik, so wie die Wirtschaftspolitik der fünfziger Jahre, direkt in die heimische Sphäre hineinreichte, wurde sie überhaupt noch als bedeutsam empfunden. Eine Identifikation mit dem Parlamentarismus fand in dieser Atmosphäre nicht statt, was das politische Desinteresse im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik erklärt. Die Trivialthemen der an Einfluss gewinnenden Regenbogenpresse halfen bei dieser Flucht in die borniert-beschauliche Geborgenheit des Privaten.
Von der anderen Seite her betrachtet war das Staatsmodell, das sich in Westdeutschland herausbildete, von „Angst vor dem Volke“[15] geprägt und verweigerte einige basisdemokratische Mitentscheidungsmöglichkeiten. Plebiszite beispielsweise wurden nicht – wie in anderen Staaten Europas – im Grundgesetz verankert. Die Aufgabe der Politik, an der öffentlichen Meinungsbildung teilzuhaben, trat in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre mehr und mehr in den Hintergrund, und es entwickelte sich eine Mentalität, die das gesellschaftspolitische Um- und Weiterdenken erschwerte. War der Bundestag in der ersten Hälfte der 1950er Jahre im Ringen um die Fragen Wiedervereinigung, Wiederbewaffnung und Wiedergutmachung noch ein Forum der öffentlichen Diskussion gewesen, tabuisierte er die nun anstehenden gesellschaftspolitischen Fragen.[16] An die Stelle politischer Leidenschaft traten nach dem Tod Kurt Schumachers Beschaulichkeit und Expertokratie. Funktionäre, Lobbyisten und Bürokraten bestimmten den politischen Austausch,[17] während die Gewerkschaften durch das Aufgehen des Klassenbewusstseins der Arbeiter in der konsumorientierten Massengesellschaft und das daraus resultierende Obsoletwerden sozialistischer Theorien gezähmt wurden[18]. Intellektuelle wurden als „zersetzend“ empfunden und der Begriff wieder als Schimpfwort gebraucht.[19] Diese Phase des politischen Konsenses, der vor allem von der jungen Generation als Stagnation empfunden wurde, fand ihre Entsprechung 1966 in der Bildung der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger.
Die Aufbauleistung der Nachkriegsjahre soll damit nicht in Abrede gestellt, sondern ihr Defizit aufgezeigt werden. Ein entscheidendes Versäumnis der neuen Demokratie und späterer Fallstrick für die BRD war das Desinteresse an einer umfassenden Aufarbeitung des Dritten Reiches. Ohne diese konnte der Neuanfang nach 1945 aber nur halbherzig begonnen werden. Der Nationalsozialismus wurde von den Deutschen nach Kriegsende nicht als ganzes System verurteilt, sondern lediglich in seinen Auswüchsen und Konsequenzen wie dem Holocaust – dessen Ausmaß nur sukzessiv Eingang in das Bewusstsein der Bevölkerung fand – oder der gescheiterten Kriegspolitik. Innenpolitisch wurde er durchaus weiterhin positiv beurteilt. Die Alliierten trugen zu dieser indifferenten Haltung bei: Nachdem vor allem kleinere Anhänger des Nationalsozialismus bestraft worden waren, gaben sie ihre Entnazifizierungspolitik auf, da ihnen der missionarische Kampf gegen den Kommunismus bald wichtiger war als das Ausmerzen des Nationalsozialismus.
Auf der sozialen Mikroebene wurde nach Kriegsende „Nichtwissen“ zu einer vorherrschenden Geisteshaltung, und man rückte zu einer „Verschweigensgemeinschaft“[20] zusammen. Ein weiteres Entschuldigungsmuster findet sich im Pragmatisch-Privaten: Man ist zum Mitläufer geworden, da man sich daraus persönliche Vorteile ableitete oder als Einzelner „sowieso nichts ändern“ konnte. Gepaart mit Aufstiegswillen und dem Bewusstsein, viel gelitten zu haben, ergeben diese Strategien eine typisch apologetische Mentalität der Nachkriegszeit. Außerdem wurden so „Einverständnisbrücken“[21] zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft und divergenter NS-Vergangenheit geschaffen. Industrielle und Funktionäre konnten mit der Sympathie des einfachen Mitläufers, der sich ebenso wie sie der Kollektivschuld-These ausgesetzt sah, rechnen, wenn sie sich erfolgreich als „Menschen mit privaten Interessen“[22] darstellten.
Die Kooperation der Ära Adenauer mit der Verschweigensgemeinschaft zu Beginn der Bundesrepublik, durch die fragwürdige Mitläufer und bekannte Nationalsozialisten nahtlos in das neue System eingegliedert und die Entnazifizierung den Alliierten überlassen wurden, vereinfachte es, die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte als unnützen Ballast abzuwerfen und sich auf die anstehenden Aufgaben zu konzentrieren. So blieben viele hohe Beamte, von Adenauer protegiert, auf ihren Posten. Adenauers enger Vertrauter Hans Globke beispielsweise wurde 1953 zum Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramtes ernannt, obwohl ihm seine nationalsozialistische Vergangenheit zu diesem Zeitpunkt bereits nachgewiesen werden konnte.[23]
Diese Haltung führte zum Konflikt mit der nachfolgenden Generation, die in den späten sechziger Jahren ihr politisches Bewusstsein entwickelte, denn die Verschweigensgemeinschaft funktionierte nur unter Menschen mit gemeinsamem Erfahrungshorizont.[24] Die Kinder fügten der heilen Welt der Eltern Risse zu.
Der Stolz der Eltern auf die Umwandlung Deutschlands von einem Trümmerfeld zu einem der reichsten Länder der Welt, der Wohlstand und das ‚Wir-sind-wieder-wer’-Pathos schienen aus ihrer Sicht [jener der Nachkriegsgeneration – A.G.] nur einen Abgrund an uneingestandener Schuld zu überdecken.[25]
KZ-Prozesse, Spiegel-Krise[26] und 68er-Bewegung kratzten an der glatten, scheinheiligen Oberfläche und überführten die Eltern als „Täter“, die es versäumt hatten, mit ihrer Vergangenheit kritisch abzurechnen. Kulturgeschichtlich schlägt sich diese Auseinandersetzung beispielsweise in literarischen Aufarbeitungen, wie etwa in Bernward Vespers Die Reise (1975-77) oder Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater (1980) nieder, die etwa zur gleichen Zeit wie Fassbinders Film entstanden. Dessen BRD-Trilogie geht auf ein Gemeinschaftsprojekt, das unter dem Titel Die Ehen unserer Eltern geplant war, zurück. Wie jene Autoren gehörte Fassbinder einer Generation an, die kurz nach Kriegsende geboren wurde, in der Wirtschaftswunderzeit aufwuchs und sich in den sechziger Jahren radikal von der Elterngeneration löste.[27] Anton Kaes sagt über diese Generation:
Den Kindern der „Stunde Null“ wurde die deutsche Vergangenheit als Erbe in die Wiege gelegt, ein Erbe, über das niemand sprach und das doch in Gestalt der Eltern permanent vor Augen stand. Die Tabuisierung von Fragen nach der jüngsten Vergangenheit in den 50er Jahren, das regelrechte Frageverbot, das die Elterngeneration bewusst oder unbewusst erlassen hatte, war nach 20 Jahren nicht mehr länger zu halten und führte Mitte der 60er Jahre (nicht zufällig zur Zeit des Frankfurter Auschwitzprozesses) zu einer schweren Krise in den Beziehungen zwischen den Generationen im Westen Deutschlands.[28]
Symbolische Bedeutung in Bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit erlangte der Fall der Journalistin Beate Klarsfeld, die 1968 Bundeskanzler Kiesinger aufgrund dessen ehemaliger NSDAP-Mitgliedschaft „Faschist“ rief und daraufhin zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt wurde. Die Unverhältnismäßigkeit dieser Strafe fällt umso mehr ins Gewicht, als ihr die zum Teil geringen Strafen für KZ-Mörder im kürzlich verhandelten Auschwitz-Prozess gegenüberstehen.
2.2 Fassbinders politische Gegenwart und Entstehungszeit des Films
Da mit der Bildung der Großen Koalition im Jahr 1966 die alleinige oppositionelle Verantwortung bei der FDP lag (das Stimmenverhältnis betrug 447:49[29] ), was als Krise der Demokratie empfunden wurde, riefen Intellektuelle –die laut Hans Magnus Enzensberger seit 1945 versuchten, „die Konstruktionsfehler der Bundesrepublik auszubalancieren“[30] – und vor allem der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zur Bildung einer Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf, die sich als Vorkämpferin einer antiautoritären, basisdemokratischen Gesellschaft verstehen sollte. Der Philosoph Jürgen Habermas sprach der APO eine demokratische Kontrollfunktion zu: „Die Studentenproteste […] haben eine kompensatorische Funktion, weil die in einer Demokratie sonst eingebauten Kontrollmechanismen nicht oder nicht zureichend arbeiteten.“[31] Außerdem stellte sie die politische Öffentlichkeit wieder her, indem sie die Rückzugsnische des Privaten mit dem Slogan „Das Öffentliche ist das Private, und das Private ist das Öffentliche“ aufhob.
1967, in dem Jahr, in dem Fassbinder seine Karriere als Filmemacher begann, brachen sich die aufgestauten Ressentiments gegen die „Tätergeneration“ der Eltern – verstärkt u. a. durch Vietnamkrieg, Notstandsgesetze und Hetzkampagnen des Springerverlags – Bahn. Die Studentenproteste gegen den Staat und seine autoritären Strukturen wurden zu einer Bewegung, die zum „Marsch durch die Institutionen“ aufforderte. Die Demokratie sollte eine umfassendere werden; dem Motto der CDU unter Adenauer „Keine Experimente!“ wurde deshalb Willy Brandts späterer Leitspruch „Mehr Demokratie wagen“ entgegengesetzt.
Die Bewegung wurde aufgrund ihres antibürgerlichen Habitus auf breiter Front sowohl vom etablierten Bürgertum, dem „Establishment“, als auch von den Arbeiterschichten abgelehnt und lief sich schließlich an der Erschöpfung ihrer utopischen Energien tot. Eine Revolution war ihr somit nicht gelungen, aber die politische Diskussionskultur und der Lehrbetrieb an den Universitäten waren nachhaltig offener geworden. Die Regierung unter Brandt strebte seit 1969 umfassende innen- und außenpolitische Reformen an. Eine lebendige linke Subkultur, die dem Konsumterror und den Unterdrückungsmechanismen der Gesellschaft ablehnend gegenüber stand, entwickelte sich, und es zeigten sich mit Rolf Dieter Brinkmann in Anlehnung an die amerikanische Beat-Generation Anfänge einer deutschen Popkultur. In den siebziger Jahren wurden Ökologie-, Friedens- und Feminismusbewegung zu wichtigen alternativen Strömungen.
Unter Helmut Schmidt erfolgte nach 1974 ein Rechtsruck, der unterstrich, dass die BRD nach wie vor eine konservative Konsensdemokratie war.[32] So wie Maria Braun am Verlust ihrer privaten Utopie stirbt, sieht Fassbinder auch das Übel der BRD weiterhin in eine[r] konkrete[n] gesellschaftliche[n] Situation, in der Utopien unterdrückt werden. Dass hier Terrorismus entstehen konnte, bedeutet doch, dass die Utopie schon viel zu lange unterdrückt wurde. Da sind eben ein paar Leute ausgeflippt, verständlicherweise. Und das hat eine bestimmte herrschende Klasse, vielleicht sogar unbewusst, letztlich gewollt, um sich konkreter formulieren zu können.[33]
Von den Studentenprotesten blieben ein paar versprengte Radikale[34] übrig – durchweg aus gehobenem reaktionären Elternhaus, das in vielen Fällen während des Dritten Reiches nationalsozialistisch eingestellt war[35] –, die in der RAF ihr Sammelbecken fanden. Ihren Ekel an der selbstgerechten Wohlstandsgesellschaft vermochten sie nicht konstruktiv in reformerischem Engagement zu kanalisieren, sondern reagierten ihn mit Gewalt ab.[36] In den Jahren 1974-77 war den Terroristen der Zweiten Generation, besonders der „Bewegung 2. Juni“, ihre ideologische Untermauerung zunehmend abhanden gekommen. Ihr gewalttätiger Aktionismus war nun vor allem darauf ausgerichtet, inhaftierte Gesinnungsgenossen zu befreien. So waren bis zum Deutschen Herbst 1977, der mit der Entführung Hanns Martin Schleyers seinen Höhepunkt erreichte, 28 Menschen bei Anschlägen und Schusswechseln ums Leben gekommen.[37]
[...]
[1] Vgl. Kaes, S. 80.
[2] Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Tiedemann, Rolf; Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1974ff., S. 695.
[3] Spaich, Herbert: Rainer Werner Fassbinder: Leben und Werk. Weinheim 1992, S. 303.
[4] Aussage Marias im Film Die Ehe der Maria Braun.
[5] Auskunft über Deutschland. Ausländische Reaktionen auf den Tod von Rainer Werner Fassbinder. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (12. Juni 1982).
[6] Ebd.
[7] Feinstein, Howard: BRD 1-2-3: Fassbinder’s Postwar Trilogy and the Spectacle. In: Cinema Journal, Bd. 23, Heft 1 (Herbst 1983), Austin/Texas, S. 44.
[8] Wahlkampfmotto des der CDU/CSU unter Konrad Adenauer im Bundestagswahlkampf von 1957.
[9] Töteberg, Michael: Rainer Werner Fassbinder: Filme befreien den Kopf. Essays und Arbeitsnotizen, Frankfurt/M. 1984, S. 73.
[10] Geschichtsergänzung. Gespräch mit Rainer Werner Fassbinder, in: ARD-Fernsehspiel, 1978, S. 60.
[11] Vgl. Plato, Alexander von; Leh, Almut: „Ein unglaublicher Frühling“. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945 – 1948. Bonn 1997, S. 133.
[12] Zit. nach Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder. Berlin 2001, S. 108.
[13] Schildt, Axel: Persil ist wieder da! In: Damals, Nr. 4/1999, S. 15.
[14] Vgl. Plato; Leh, S. 130.
[15] Ebd., S. 139.
[16] Hennis, Wilhelm: Der deutsche Bundestag 1949-1965. In: Der Monat, Nr. 215/1966, S. 27ff.
[17] Vgl. Glaser, Hermann: Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2003, S. 199.
[18] Vgl. ebd., S. 212f.
[19] Vgl. z.B. Enzensberger, Hans Magnus: Dokument aus der Finsternis des Wirtschaftswunders. In: Die Zeit, 2.2.1979.
[20] Möding, Nori: „Ich muss immer irgendwo engagiert sein. Fragen Sie mich bloß nicht, warum.“ Überlegungen zu Sozialisationserfahrungen von Mädchen in NS-Organisationen, in: Niethammer, Lutz; Plato, Alexander von (Hrsg.): „Wir kriegen jetzt andere Zeiten.“ Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Berlin/Bonn 1985 (= Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet; 3), S. 267.
[21] Plato; Leh, S. 134.
[22] Ebd.
[23] Lebendiges virtuelles Museum Online (gemeinsame Präsentation des DHM Berlin und des HdG Bonn) <www.dhm.de/lemo/html/biografien/AdenauerKonrad/index.html>, eingesehen zuletzt am 12.10.2004.
[24] Plato; Leh, S. 142.
[25] Kaes, S. 78.
[26] Eine anschauliche Darstellung der Spiegel-Affäre von 1962 findet sich bei Schindelbeck, Dirk: „…ein Abgrund von Landesverrat!“, in: Damals, Nr. 11/2002, S. 8-11.
[27] Kaes, S. 77.
[28] Ebd.
[29] Müller, Helmut M. (Hrsg.): Schlaglichter der deutschen Geschichte. Bonn 2003 (=Schriftenreihe der BpB, Bd. 402), S. 374.
[30] Enzensberger, Hans Magnus: Klare Entscheidungen und trübe Aussichten. In: Schickel, Joachim (Hrsg.): Über Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt/M. 1970, S. 229.
[31] Zit. nach Röhrich, Wilfried: Geschichte und politisches Klima einer Republik. München 1988, S. 83f.; Vgl. auch Habermas, Jürgen: Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt/M. 1969.
[32] Vgl. Elsaesser: Fassbinder, S. 31f.
[33] Fassbinder, Rainer Werner: Ich habe mich mit meinen Filmfiguren verändert. In: Töteberg, Michael (Hrsg.): Rainer Werner Fassbinder. Die Anarchie der Phantasie: Gespräche und Interviews, Frankfurt/M. 1986, S. 113.
[34] Eine interessante Randnotiz ist, dass Frauen in dieser Szene auffällig aktiv waren und oft als Anführerinnen fungierten. Mehr als 50 Prozent der terroristischen Straftaten geht auf ihr Konto. Sind sie besonders frustriert von den Herrschaftsstrukturen, die ihnen wenig Selbstverwirklichung zubilligen? Zeigen die emanzipierten Frauen hier, dass sie den Männern im Kampf um nichts nachstehen? Oder, wie ein beliebter männlicher Erklärungsansatz lautet, sind sie einfach aufgrund ihres gefühlsmäßigen Verhaltens besser für auf Irrationalität beruhende Handlungen geeignet? (Vgl. Guthermut, W.: Warum Frauen jetzt die Terrorszene beherrschen. Abendzeitung, 5.8.1977.)
[35] Vgl. Glaser, S. 323ff.
[36] Vgl. ebd.
[37] Ebd., S. 326.
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