Leseprobe
Inhalt
Einleitung
Glück und Unglück bei Jeronimo und Josephe in „Das Erdbeben in Chili“
Glück und Unglück in Teil A – Das Erdbeben
Glück und Unglück in Teil B – Die Idylle und Täuschung
Glück und Unglück in Teil C – Der Mord
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Jeder ist seines Glückes Schmied“ lautet ein bekanntes Sprichwort, doch bei Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ mutet eher der Zufall an, des Glückes Schmied zu sein. Denn hier scheint der Zufall immer wieder dazu zu führen, dass Glück Unglück und Unglück Glück ablöst.
Besonders auffällig an der Novelle ist, dass es zu einem beständigen Wechsel von Glück und Unglück kommt, ohne dass die Figuren etwas dagegen tun können, denn die gesamte Handlung wird von plötzlichen Zufällen bestimmt.
Wie genau diese Wechsel sich vollziehen und ob sie als Glück oder Unglück der Protagonisten zu verstehen sind soll die folgende Untersuchung der Novelle zeigen um dann abschließend darüber diskutieren zu können, ob das Erdbeben und dessen Folgen Glück oder Unglück für Jeronimo und Josephe bedeutet.
Dabei wird zunächst erläutert, was im weiteren Verlauf unter Glück, Unglück und Katastrophe zu verstehen ist. Danach wird nach der Dreiteilung Wellberys jeder einzelne Abschnitt hinsichtlich Glück und Unglück untersucht und wie sich dieser auf den darauffolgenden auswirkt. Wellbery hat die Abschnitte folgendermaßen eingeteilt:
Teil A beschreibt bei ihm das Erdbeben und geht von dem ersten Satz bis einschließlich des Satzes „Hierauf, unter vielen Küssen, schliefen sie ein.“1. Der Titel des Abschnittes bleibt dabei „Das Erdbeben“.
Der zweite Abschnitt, Teil B fängt bei Wellbery mit den Worten an: „Als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel […]“2, und wird im Weiteren als „Idylle und Täuschung“ bezeichnet und nicht nur als „Täuschung“.
Teil C fängt bei Wellbery mit folgenden Worten an: „Inzwischen war der Nachmittag herangekommen […].“3 und wird auch hier den Titel „Mord“ tragen.4 Allerdings wird der dritte Teil bei dieser Untersuchung nach hinten verschoben, weil ich der Meinung bin, dass erst ab dem Satz „Als sie in der Kirche der Dominikaner ankamen […].“5 der Mord wirklich beginnt und der Teil davor noch zur Täuschung gehört.
Im Anschluss an die Untersuchung erfolgt ein Fazit, bei welcher die Frage, ob das Erdbeben Glück oder Unglück für Jeronimo und Josephe gebracht hat, und inwiefern der Erzähler eben jenes dem Leser vermittelt oder auch nicht, diskutiert wird.
Glück und Unglück bei Jeronimo und Josephe in „Das Erdbeben in Chili“
Bevor man untersuchen kann, inwiefern die einzelnen Abschnitte für die Protagonisten, Glück oder Unglück bedeuten, muss man diese definieren.
So wird Glück im Folgenden als „etwas, was das Ergebnis des Zusammentreffens besonders günstiger Umstände ist“ oder „ein besonders günstiger Zufall, eine günstige Fügung des Schicksals“ oder eine „angenehme und freudige Gemütsverfassung, in der man sich befindet, wenn man in den Besitz oder Genuss von etwas kommt, was man sich gewünscht hat“6, betrachtet werden.
Im Gegensatz dazu steht das Unglück, welches ein „plötzlich hereinbrechendes Geschick, verhängnisvolles Ereignis, das einen oder viele Menschen trifft“, sowie ein „Zustand des Geschädigtseins durch ein schlimmes unheilvolles Ereignis; Elend, Verderben“7 beschreibt. Ein „schweres Unglück [oder] Naturereignis mit verheerenden Folgen“8 ist zudem als Katastrophe zu verstehen.
Glück und Unglück in Teil A – Das Erdbeben
In dem ersten Teil der Novelle gibt es gleich mehrere Stellen die Glück und Unglück der Protagonisten ausweisen. Der Erzähler ist dabei nicht sonderlich hilfreich, sondern verwirrt vielmehr, wenn es darum geht zu fragen, ob das Erdbeben ein Glück oder ein Unglück für Jeronimo und Josephe war. So informiert er einen zwar, führt zugleich aber irre9, durch die Nutzung von „Als-ob“-Sätzen.
Der erste Teil beginnt mit der Geschichte der Protagonisten, welche innerhalb der nächsten Stunden eigentlich sterben sollen. Folglich scheint dieser erste Teil ein Unglück für die beiden zu sein. Doch dann unterbricht das Erdbeben diesen Prozess und Jeronimo, welcher sich gerade das Leben nehmen will, überlebt durch einen glücklichen Zufall. Jeronimo weint vor Lust, „dass er sich des lieblichen Lebens, voll bunter Erscheinungen, noch erfreue“10 und für ihn scheint es ein großes Glück zu sein. Doch unmittelbar darauf, nachdem Jeronimo an Josephe denkt, reut ihn sein Glück schon wieder und der soeben noch gelobte Gott wird von ihm zu einem fürchterlichen Wesen deklariert11 und das Erdbeben zu einem Unglück. Dieses Unglück Jeronimos spürt man deutlich am Text, da er sich wünscht, „dass die zerstörende Gewalt der Natur von neuem über ihn hereinbrechen möchte“12. Hier wird die Unbeständigkeit des Textes sehr deutlich, denn der Erzähler verunsichert und es scheint, als ob es jederzeit dazu kommen kann, dass „aus Glück […] Unglück, aus Unglück […] Glück werden [kann], Glück […] aber auch in Unglück und Unglück wieder in Glück umschlagen [kann]“13. Denn kurz darauf erfolgt schon wieder ein Wandel, am Fluss trifft Jeronimo seine geliebte Josephe wieder und der zuvor fürchterliche Gott wandelt sich in den Retter zweier Geliebter und das Erdbeben scheint wieder Glück für Jeronimo zu bedeuten.
Bei Josephe verhält es sich mit der Empfindung des Erdbebens ähnlich. Dank des Erdbebens wird sie vor ihrer Erhängung gerettet und ein weiteres Glück ist es, dass all ihre Peiniger sterben, denn „der Erzbischof, der veranlasst hatte, dass ihr der ,geschärfteste Prozeß‘ gemacht wurde, […], die Kathedrale, der Gerichtshof und das Haus ihres Vaters werden zerstört.14 Weiterhin ist es ein Glück für Josephe, dass sie mit ihrem Sohn durch einen glücklichen Zufall wieder vereint wird, auch wenn es für Josephe ein Unglück ist, dass dabei die Äbtissin stirbt, die sich zuvor liebevoll um Philipp gekümmert und ihr in der Not geholfen hat. Es scheint fast so als würde Josephe gleichzeitig Glück und Unglück widerfahren. Das Unglück bei Josephe schlägt allerdings schnell wieder um, denn für sie ist es ebenso ein Glück, dass sie mit Jeronimo am Fluss wiedervereint wird. Deutlich wird dies an ihrer beiden Überlegungen „wenn sie dachten, wie viel Elend über die Welt kommen mußte, damit sie glücklich würden!“15. Das Erdbeben wird von den Beiden also als Glück aufgefasst und sie scheinen gar nicht an etwas anderes zu denken.
Wie viel Elend jedoch dieses Erdbeben tatsächlich hervorgebracht hat, erfahren die Protagonisten im nächsten Abschnitt der Novelle, denn auch wenn die Idylle wie das „Tal Eden“16 wirkt, so ist doch alles nur Schein. Und genau mit diesem Schein von Glück und Unglück wird sich der nächste Teil beschäftigen.
Glück und Unglück in Teil B – Die Idylle und Täuschung
Als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und sie bemerkten in ihrer Nähe mehrere Familien, beschäftigt, sich am Feuer ein kleines Morgenbrot zu bereiten. Jeronimo dachte eben auch, wie er Nahrung für die Seinigen herbeischaffen sollte, als ein junger wohlgekleideter Mann, mit einem Kinde auf dem Arm, zu Josephen trat, und sie mit Bescheidenheit fragte, ob sie diese armen Wurme, dessen Mutter dort unter den Bäumen beschädigt liege, nicht für kurze Zeit ihre Brust reichen wolle?17
In dieser Einleitung des zweiten Abschnittes des „Erdbebens in Chili“, zeigt sich, wie sehr die Gesellschaft sich anscheinend gewandelt hat, sozusagen ein „Umsturz aller Verhältnisse“18. Interessant ist dabei, dass sich die Handlung aus der Stadt auf das Land verschoben hat. Es kommt zu einem Stillstand und dieser „idyllische Stillstand ist das Aufatmen nach dem Schrecken, das sich mit Sinn füllt. […] die Idylle [wird] hier zum Ort des Glücks […].“19 Vergessen scheinen die Taten Jeronimos und Josephes und alle sind herzlich zueinander und insbesondere der junge Don Fernando nimmt sich der beiden an und es scheint für Jeronimo und Josephe eine Wiederaufnahme in die Gesellschaft zu sein, sodass die Pläne ohne Wiederkehr nach Spanien zu flüchten ad acta gelegt werden und sie sich in die neue Gesellschaft einordnen und ein neues Leben beginnen wollen. Hier zeigt sich, dass die Idylle Glück für die beiden zu sein scheint und eine gerechtere Ordnung herrscht.
Schließlich lässt vor allem der idyllische Zustand […] Josephe und Jeronimo alles Geschehene vergessen und von einer glücklichen Fügung des Himmels überzeugt sein und sie erliegen dem Irrglauben, dass diese Überzeugung auch von den anderen Menschen geteilt wird.20
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1 Kleist, Heinrich v. (2013). Das Erdbeben in Chili. Die Marquis von O . Die Verlobung in St. Domingo. Text und Kommentar (2. Ausg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp Basis Bibliothek). S.16.
2 Ebd.
3 Ebd. S. 20.
4 Wellbery, D. E. (1993). Semiotische Anmerkungen zu Kleists ,Das Erdbeben in Chili´. In D. E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists >>Das Erdbeben in Chili<< (3. Ausg., S. 69-87). München: C.H. Beck-Verlag. S. 71.
5 Kleist, H. v. (2013). Das Erdbeben in Chili. Die Marquis von O . Die Verlobung in St. Domingo. Text und Kommentar (2. Ausg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp Basis Bibliothek). S. 21.
6 www.duden.de. (3. März 2015). Von http://www.duden.de/rechtschreibung/Glueck abgerufen
7 www.duden.de. (3. März 2015). Von http://www.duden.de/rechtschreibung/Unglueck abgerufen
8 www.duden.de. (3. März 2015). Von http://www.duden.de/rechtschreibung/Katastrophe abgerufen
9 Wittkowski, W. (1969). Skepsis, Noblesse, Ironie. Formen des Als-ob in Kleists "Erdbeben". Euphorion, 63. S. 257.
10 Vgl. Kleist, H. v. (2013). Das Erdbeben in Chili. Die Marquis von O . Die Verlobung in St. Domingo. Text und Kommentar (2. Ausg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp Basis Bibliothek). S. 12.
11 Ebd.
12 Ebd. S. 13.
13 Stierle, K. (1993). Das Beben des Bewußtseins. Die Narrative Struktur von Kleists "Das Erdbeben in Chili". In D. E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists "Das Erdbeben in Chili" (3. Ausg., S. 54-68). München: C.H. Beck - Verlag. S. 55
14 Fricke, E. (2010). Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung - Poetologische Strategien im erzählerischen Werk. Marburg: Tectum Verlag. S. 69
15 Kleist, H. v. (2013). Das Erdbeben in Chili. Die Marquis von O . Die Verlobung in St. Domingo. Text und Kommentar (2. Ausg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp Basis Bibliothek). S.16.
16 Vgl. Kleist, H. v. (2013). Das Erdbeben in Chili. Die Marquis von O . Die Verlobung in St. Domingo. Text und Kommentar (2. Ausg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp Basis Bibliothek). S. 15.
17 Ebd. S. 16.
18 Ebd. S. 19.
19 Schneider, H. J. (1993). Der Zusammensturz des Allgemeinen. In D. E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft (3. Ausg., S. 110-129). München: C.H. Beck - Verlag. S. 126.
20 Fricke, E. (2010). Heinrich von Kleist und die Auflösung der Ordnung - Poetologische Strategien im erzählerischen Werk. Marburg: Tectum Verlag. S. 69-70.