Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Die Person Hans Jonas: Umweltschutz und Nachhaltigkeit in der Geschichte
3. Das Prinzip Verantwortung
3.1 Definition von Verantwortung
3.2 Ursachenanalyse: Veränderung im Handeln des Menschen
3.3 Begründung: Pflicht zur Existenzerhaltung
4. Erweiterung des kategorischen Imperativs: Gesinnungsethik und Verantwortungsethik
4.1 Begründungssätze der Umweltethik
4.2 Kant als Umweltethiker
4.3 Probleme des ökologischen Imperativs
5. Der Erfolg des Prinzips Verantwortung
6. Problemlage und Ausblick des Verantwortungsbegriffs
7. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung:
„Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erd en.“ 1
Die Menschheit lebt ein offenes Fortschrittsdenken. Große Weltunternehmen handeln für ihre eigenen Profitinteressen und gegen soziale oder ökologische Richtwerte. So ist die Lösung zur Endlagerung von Atommüll bis heute nicht endgültig geregelt. Aktuelle Diskurse über die Luftverschmutzung durch Dieselfahrzeuge polarisieren in den Medien und nach dem Austritt der USA aus dem Klimaschutzabkommen scheinen die Werte der ökologischen Aufklärung ins Nichts zu verlaufen. In diesem Zusammenhang bildet der Begriff „Verantwortung“ eine große Bedeutung, wie es Hans Jonas 1979 in seinem ökologischen Imperativ vorstellt, denn die „technische Intervention des Menschen“2 verdeutlicht die Verletzlichkeit der Natur und stellt den Menschen somit in Verantwortung für „die gesamte Biosphäre des Planeten, [...] weil wir Macht darüber haben“.3
Mit seinem Spätwerk „Das Prinzip Verantwortung“ förderte Hans Jonas die ethischen Diskurse der achtziger Jahre. Zu jener Zeit galt das Buch als ein „philosophischer Bestseller“.4 Fast 40 Jahre nach Erstveröffentlichung richtet sich Jonas’ Zukunftsvision mehr denn je auf unsere heutige Gesellschaft. Angelegt an die Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs verdeutlicht Jonas ein naturbewusstes Handeln, in dem er eine Ethik für die technologisierte Zivilisation entwirft. Jedoch ist die vorgebrachte Technikfeindlichkeit unserer modernen Risikogesellschaft fremd: „So sehr wurde [die Risikogesellschaft] zur Selbstverständlichkeit, dass jede Fragwürdigkeit verschwinden konnte und eine konturlose Fraglosigkeit kaum einen Anknüpfungspunkt mehr zuzulassen scheint [...]. Damalige Normativität gilt als falsifiziert durch heutige Normalität.“5 Dahin gehend liegt es nahe, eine Untersuchung der Verantwortungsethik von Hans Jonas anzustreben, sowie zu überprüfen, ob seine Ethik die fortgeschrittene technologisierte Zivilisation trifft und seinem Anspruch den Handlungsbereich der Ethik um eine zeitliche Komponente zu erweitern, gerecht wird. Folgend gilt es in Betrachtung dessen, die Frage zu stellen, wie sich der Erfolg des Prinzips Verantwortung in umweltethischen Diskursen manifestieren konnte.
Schlussendlich wurde die Bildung des ökologischen Imperativs beeinflusst durch verschiedene Autoren wie ethische Theorien. Insofern steht die historische Einordnung über die Betrachtung der Person Hans Jonas, als auch des Begriffs Nachhaltigkeit vor der eigentlichen Analyse. Weiterhin folgt drittens die Annäherung an den Verantwortungsbegriff samt Beschreibung des Prinzips Verantwortung an sich, um darauf aufbauend die Problemlage zu identifizieren. Im Genaueren wurden vielschichtige Einwände hervorgebracht, die Jonas unter anderem als Naturalist, Wissenschaftsfeind oder einseitig telelologisch-moralfernen Konsequentialisten beschreiben.6 Wiederum stellt sich in umweltethischen Debatten ein Übergang der kantianischen Pflicht zum Begriff der Verantwortung ein. Näher möchte ich unter Punkt vier die Kritik an Jonas somit nicht reformulieren, sondern die Probleme seiner Ethik verdeutlichen, andererseits die Nähe der Verantwortungsethik von Jonas zu Kants Moralphilosophie bearbeiten.7 Der Vergleich schafft die notwendige Basis, aus derer sich die Durchsetzungskraft des Prinzips erschließt.
Im Angesicht der aktuellen Ereignisse ist der Ausblick die Zielführung der Arbeit. Es muss sich gefragt werden, ob seit der erfolgreichen umweltethischen Diskurse, die durch Hans Jonas neu entfacht wurden8, eine Verbesserung des Umweltschutzes eingetreten ist. Das abschließende Fazit besitzt die Aufgabe der Zusammenführung der Erkenntnisse.
2. Die Person Hans Jonas: Umweltschutz und Nachhaltigkeit in der Geschichte
„Das Prinzip Verantwortung“, erstveröffentlicht 1979, spiegelt eine pessimistische Weltanschauung wider. Die Menschheit zerstört seine eigene Existenz durch Manipulation und Missbrauch des eigenen Lebensraumes. War der Mensch zuvor ein Wesen, das der Natur ausgeliefert war, sind wir ihr nun am gefährlichsten.9 Anhand dieser Momentaufnahme schaffte es der von 1903 bis 1993 lebende Hans Jonas, neue Debatten im Bereich philosophischer Diskurse zu entfachen. Die Ethik in den achtziger Jahren „wurde öffentlich, war wahrnehmbar und wagemutig, sie mischte sich ein“.10
Ende der siebziger Jahre kann Hans Jonas auf ein ereignisreiches Leben zurückblicken.11 Nach seiner Schulzeit in Mönchengladbach nimmt Jonas im Laufe seines Lebens mehrere Studiengänge, wie Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte auf. In zeitlichen Abständen absolvierte er diese in Freiburg, Berlin, Heidelberg und Marburg. Dabei stand er im unmittelbaren Dunstkreis von Edmund Husserl sowie Martin Heidegger und Rudolf Bultmann. In diesem Umfeld promovierte Jonas 1928 mit seinem Werk über den Begriff der Gnosis. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wanderte Jonas 1933, nach London 1935 nach Palästina aus. Nach seiner Arbeit als Dozent in Jerusalem, mit zwischenzeitlichem Dienst für die britische Armee im Zweiten Weltkrieg, siedelte Jonas zunächst nach Kanada über. Er übernahm im weiteren Verlauf seines Lebens mehrere Professuren in Montreal, Ottawa und von 1955 bis zu seiner Emeritierung 1976, die Professur für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Seine Untersuchungen zu dem Prinzip der Verantwortung entstanden als Zusammenschluss vorangegangener Schriften, die Jonas bereits in Aufsatzform verfasste.12
In geschichtlicher Perspektive erlebte Jonas den technologischen Wandel, dessen Entwicklung nicht nur Optimismus hervorbrachte. Der Mensch steht vor neuen globalen Bedrohungen, wodurch zynische Zukunftsprognosen großen Anklang erhielten. In der Dankesrede zur Annahme des Friedenspreises 1987 drückt Jonas sein technologisches Misstrauen aus. Explizit birgt das neue Forschungsinteresse für nukleare, ökologische, bio-ethische und gentechnologische Fragen, Bedrohungen großen Ausmaßes in sich. Darüber hinaus zerstört der Mensch mittels künstlicher Waffen das symbiotische Gleichgewicht von Natur und Menschheit. Die Begrenzung auf makroskopische Sachverhalte wurde schon längst durch Experimente auf Molekularebene abgelöst. Im Ergebnis offenbaren sich neue Machtpotenziale, die sich irreparabel auf die Natur auswirken können.13 Alarmierende Katastrophen wie 1986 in Tschernobyl sind die ersten „Schreckschüsse der gepeinigten Natur“14, anhand derer die Verantwortung zu einem neuen ethischen Imperativ erwächst.
Jonas steht dabei inmitten einer neuen Umweltschutzbewegung, dessen Ursprung bereits Jahrzehnte vorher zu datieren ist.15 Die Wissenschaft der Umweltforschung steht gegen eine rasche Industrialisierung und für den Schutz der verletzlichen Natur, in dem die Prinzipien der „Nachhaltigkeit“ propagiert werden. In bäuerlichen Kulturen seit der Antike verstand man die nachhaltige Erzeugung von lebensnotwendigen Gütern als Selbstverständlichkeit.16 Begrifflich stammt das Adjektiv „nachhaltig“ zunächst aus der Ableitung des Substantivs „Nachhalt“, womit im 18. Jahrhundert in erster Linie „Rückhalt“ verstanden worden ist.17 Der nachhaltige Umgang mit der Natur ist damit „weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock“.18
Die Grundsätze der Nachhaltigkeit wurden im selben Jahrhundert erstmals in der deutschen Forstwirtschaft ausformuliert. Hans Carl von Carlowitz forderte 1713 eine Holzwirtschaft, bei der die Abholzung nur so weit reichen sollte, wie es die Aufforstung wieder aufbringen könne. Weiterhin war es „[s]ein Ideal [...] ein Gemeinwesen, das allen, Herrschaft und Untertanen, jetzt Lebenden und Nachkommen, ein gutes Leben [zu] ermöglich[en]“.19 Innerhalb dieser Forderungen rückten die Begriffe der Langfristigkeit, Ökonomie und Verantwortung in den Vordergrund, die grundsätzlich auf den Erhalt des Kapitals Natur ausgelegt waren. Folgerichtig definiert Peter Carnau die Grundidee des Konzeptes Nachhaltigkeit anhand der Überlebensfähigkeit eines Systems und dessen langfristigen Bestand.20
Schließlich sollten sich die Themen der Nachhaltigkeit im Begriff des Umweltschutzes verdichten. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte neue Problemkomplexe hervor. Steigende industrielle Produktion und städtische Lebensweise führten zu einer Hygienebewegung. Mit dem Bau zentraler Wasserversorgungsnetze wie auch unterirdischer Schwemmkanalisationen setzten sich neue Standards durch. Ein solches Vorhaben galt zu jener Zeit als eines der „kontroversesten und kostenträchtigsten Umweltschutzdebatten des 19. Jh.s“.21 Neue Umweltprobleme wurden in den Bereich technischer Lösungswege verlagert: „Durch Erfolge im technischen Umweltschutz ließen und lassen sich moralische Debatten über Verantwortung für Umwelt- und Gesundheitsschäden entschärfen.“22 Expertenzirkel bestimmten unter anderem Grenzwerte und technische Standards zur Reinhaltung der Luft- und Wasserverhältnisse. Das Ziel war eine örtliche Begrenzung von Umweltbelastungen.
Die Dramatisierung, die zu einer Umweltschutzbewegung erwachsen sollte, findet sich schlussendlich in den Nachkriegsjahrzehnten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neben bekannten Schadstoffen wie Schwefeldioxid, Staub oder Rauch, kamen neue Substanzen hinzu, die ein weitaus größeres Gebiet längerfristiger schädigen konnten. Bedrohungen eines nuklearen Fallouts aus Atomwaffentests in den 1950er Jahren zeichneten eine Zäsur in der Frage um Nachhaltigkeit und Umweltschutz.23 Vollends wurden die umweltpolitischen Diskurse zu Beginn der 1960er Jahre vorangetrieben. Mehrere Publikationen verwiesen auf die unumkehrlichen Folgen eines unnachhaltigen Umgangs mit der Natur. So wird der Roman von Rachel Carson „Silent Spring“, der 1962 erschien, zum Auslöser „einer ethischen und diskursiven Neuvermessung von Verschmutzungsproblemen“.24 Generell ließ sich ein Umdenken in der amerikanischen Gesellschaft verzeichnen. Man organisierte sich in Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich vornehmlich gegen die aktuellen Verhältnisse einsetzten. Bei steigender Mitgliederzahl stieg daher der politische Druck. Das Resultat war die Durchsetzung eines neuen nationalen Umweltschutzgesetzes „NEPA“ (National Environmental Policy Act), das 1970 in den USA in Kraft trat.25 Diese entscheidende Entwicklung führte gleichwohl zu einer neuen, globalen Umweltpolitik. Auf schwedischer Initiative, mit Unterstützung der Vereinigten Staaten, wurde 1972 in Stockholm die erste weltweite UNO-Umweltkonferenz abgehalten. Mit 114 Staaten und der Anwesenheit von NGOs konnten wegweisende Erklärungen verabschiedet werden, die den Umgang mit der Umwelt in Prinzipien festhielten, einen Aktionsplan für internationale Kooperationen aufstellten und die Grundlagen für ein Umweltprogramm schafften. Das „United Nations Environmental Programme“, kurz UNEP, gehörte zu den wichtigsten Ergebnissen zur Durchsetzung einer neuen globalen Umweltpolitik. Gleichzeitig fungierte das Programm als Sprachrohr, wonach kontinuierliche Umweltkonferenzen abgehalten werden sollten.26 Innerhalb der Debatten über einen gerechten Umgang mit der Natur entstanden zunehmend neue Programme oder Initiativen, die sich schon bald auf die gesamte Welt ausbreiteten. Trotzdessen ist die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit ein Phänomen hoch entwickelter Industriestaaten. Ihr großer Einfluss verpflichtet sie zu eigener Verantwortung mit Vorbildfunktion für aufstrebende Schwellen- und Entwicklungsländer, zumal der „Westen“ als erstes Erfolgsmodell technologischen Fortschritts „weiterhin [...] Hauptverzehrer seiner Früchte und darin Hauptsünder an der Erde“27 bleibt.
In gleicher Weise verarbeitet Jonas in seinem Buch die genannte Schwierigkeit, als Zeitzeuge der politischen Entwicklungen und plädiert für die Erweiterung früherer Ethiken. Dabei ist es sein Anliegen, ein mehrheitliches Umdenken in dem Bereich politischer Diskurse hervorzurufen. Der „Staatsmann“ wird bei Jonas zu einem wiederkehrenden Motiv, der kollektive Regeln für den Umgang mit Technologie schaffen soll. Da Umweltbelastungen potenziell jeden treffen können, muss eine demokratische Zuordnung von Verantwortung stattfinden.28
3. Das Prinzip Verantwortung
„Der endgültige Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden.“ 29
Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts prognostizierte Nietzsche die Veränderung in der Welt und die neuen Prämissen des Maschinenzeitalters, „deren tausendjährige Konklusion noch niemand zu ziehen gewagt hat“.30 Parallel bildet Jonas sein Prinzip Verantwortung über das gefährliche Moment einer „Verheißung“ moderner Technik, die als Konsequenz ökonomischer wie sozialer Probleme aktuellgeschichtlicher Ereignisse motiviert wurde. Die potenziellen Gefahren eines unverantwortlichen Umgangs mit Technologie ist gleichsam die Ausgangsthese seines Buches.31 Im Folgenden soll die Theorie von Hans Jonas dargestellt und anschließend mittels kritischer Perspektive auf Kant in die aktuelle Dimension umweltethischen Handelns erhoben werden. Zentraler Angelpunkt ist hierbei die Verantwortung an sich. Für die weitere Analyse muss demgemäß eine begriffliche Auseinandersetzung mit dem Verantwortungsbegriff vorangestellt werden.
3.1 Definition von Verantwortung
Vereinfacht spricht man im alltäglichen Gebrauch des Wortes von Zuständigkeiten und Zurechnungsfähigkeiten.32 Eine Person ist für etwas zuständig, steht für die Konsequenzen seines Handelns in Relation zu geltender Norm ein. Implizit wird nach freiwilliger Intention nach bestem eigenem Wissen gehandelt. Unparteiliche ethische oder rechtliche Maßstäbe geben Aufschluss darüber, ob das Handeln verantwortlich ist. Die Voraussetzung ist eine freie Handlungsentscheidung sowie die Kenntnis über die möglichen Konsequenzen und Umstände einer Handlung. Verantwortung richtet sich also in zweiter Definition an die Folgen von Handlungen. Es wird von einem folgenbasierten Legitimationsprinzip gesprochen. Intendierte oder unintendierte Effekte müssen in der Beobachtung des Erfolges einer Handlung mit eingefügt werden.
In dritter Hinsicht kann Verantwortung als kontextualistisches Reflexionsprinzip verstanden werden.33 Das Prinzip dient der Generierung von Zurechnungs- und Zuständigkeitskriterien und ist überall dort tragend, wo unter Ungewissheitsbedingungen gehandelt wird. Diese Definition richtet sich somit vor allem an Akteure, die unter begrenzter Rationalität, Normen oder Regeln eine eigene Entscheidung treffen müssen. Neben den Handlungsfolgen richtet sich der Begriff also „auf die Handlungsorientierungen und -normen selbst [...] [und ist] ein Instrument der Kriterienfindung unter komplexen Handlungsbedingungen“.34
Viertens kann der Verantwortung ein Struktur- und Steuerungselement zugesprochen werden. Ludger Heidbrink bezeichnet hierbei Prozesse, die von unterschiedlichen sozialen Zusammenschlüssen hervorgebracht werden. Weiterhin gehören in diesen Bereich „die veränderten Verantwortungsaufgaben des Staates, die in der Verlagerung von der staatlichen Erfüllungsverantwortung zur politischen Gewährleistungs- und Infrastrukturverantwortung liegen, aber auch die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch privatwirtschaftliche Unternehmen [...]“.35
Als Struktur- und Steuerungselement bedeutet Verantwortung, „über Rahmenregeln, Kontextgestaltung und Formen der Selbstbindung komplexe Systemprozesse“36 geltend zu machen. Die globalisierte Gesellschaft in einem „kooperative[n] Governanceregime zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft“ setzt die Verantwortung auch in „Übernahme einer strukturellen Mitverantwortung von Bürgern und Konsumenten angesichts synergetischer Schäden, die in Gestalt des Klimawandels, inhumaner Arbeitsbedingungen und anhaltender Armut von niemand Einzelnem verursacht wurden [...]“.37 Für Jonas ist Verantwortung vor allem prospektiv zu verstehen.38 Günter Banzhaf bezeichnet die Definition von Jonas als „Verantwortung für Zu-Tuendes“.39 In seiner Theorie der Verantwortung heißt es: „Das Erste ist das Seinsollen des Objekts, das Zweite das Tunsollen des zur Sachwaltung berufenen Subjekts.“40 Die Erhaltung der Gattung Mensch ist in Anbetracht der globalen Bedrohungen ausschlaggebend, um das Verantwortungsbewusstsein zu schärfen. In der Definition des Begriffs folge ich Jonas’ prospektiver Beschreibung. Zusätzlich ist die alltägliche Bestimmung durch die Zuschreibungen von Zuständigkeiten, maßgeblich für die weitere Arbeit.
3.2 Ursachenanalyse: Veränderung im Handeln des Menschen
Jonas beginnt seine Schrift mit einer Diagnose und Ursachenanalyse. Die moderne Technik schafft ein völlig neues menschliches Vermögen, das eine Veränderung im Handeln nach sich zieht. Gleichsam hat die Ethik das Handeln zu ihrem Gegenstand. Aufgrund dessen muss es das Ziel sein, die Veränderungen im menschlichen Handeln zu erkennen und sodann eine Veränderung in der Ethik hervorzurufen.
Unter Anwendung moderner Technologie lässt sich ein wachsender menschlicher Eingriff in die Natur verzeichnen, der über den Einfluss vorheriger Generationen hinausgeht und in abschreckender Weise biosphärische Lebensräume tiefgreifend verändert oder beschädigt. Beispielhaft für diese Umgestaltung ist die Erbauung von Städten. Der Mensch habe sich eine ausbreitende Enklave geschaffen, in derer er sein eigentliches Menschsein ausleben könne.41 Ebenso müssen alle Ethiken die vorher beschrieben wurden, an dem neuen Parameter der modernen Technologie in vierfacher Hinsicht scheitern42: Erstens wurde jener Umgang mit der außermenschlichen Natur, im Besonderen mit der „techne (Kunstfertigkeit)“43 als ethisch neutral aufgefasst und die Wirkung auf nichtmenschliche Objekte spielte keinerlei Rolle für ethische Überlegungen (ausgenommen in der Medizin). Zweitens ist die traditionelle Ethik fokussiert auf den direkten Umgang von Mensch zu Mensch, sie ist anthropozentrisch sowie drittens nicht selbst als Gegenstand der sich verändernden techne begriffen worden. Schlussendlich ist viertens die Perspektive ethischen Handelns auf einen unmittelbaren Handlungshorizont begrenzt, sodass eine Ausführung auf das Hier und Jetzt im öffentlichen, alltäglichen Leben beschränkt ist. Zudem sind die Handelnden immer stets Angehörige einer gemeinsamen Gegenwart. Perspektivisch fehlt es somit an einer zukunftsorientierten, handlungsübergreifenden Ethik, dessen Anwendung ebengleich auf die nichtmenschliche Natur zu beziehen ist.
Eine ethische Lösung formuliert Jonas über die Erweiterung des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant, der für seinen Imperativ stets die Existenz einer Gesellschaft voraussetzt und es als Mittel zur Anwendung auf diese entworfen hat. Der neue Imperativ, angepasst an die veränderten Handlungsmöglichkeiten des Menschen lautet: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“44 Zwar ist es gestattet sein eigenes Leben für sich zu beanspruchen, aber niemals dürfe es sein, dass die Existenz nachkommender Generationen oder potenziell der gesamten Menschheit gefährdet werde. Des Weiteren spricht der neue Handlungsgrundsatz nicht für eine direkte Interaktion von Mensch zu Mensch, sondern für die öffentliche Politik, denn die zukünftige Lebensfähigkeit eines politischen Apparates zu garantieren und zu erhalten, ist das Ziel eines Staates, gleichfalls Einflussbereich seiner Macht.45
Begründet anhand des Umgangs mit der techne, schlagen nun vermeintlich positive Aspekte des technischen Fortschritts in Technikfeindlichkeit um. Die Spezies Mensch als homo sapiens lebt nun als ein Handwerker, „homo faber“, weiter.46 Gerade weil sich der Mensch die Technik zu eigen gemacht hat, versucht er diese Erweiterung seines Tuns tiefgreifend auf seine eigene Natur anzuwenden. Insofern verkehrt sich bei Jonas das große Ziel der Menschheit, die Erhaltung des Lebens in Überwindung der Sterblichkeit zu gewährleisten, in eine negative Zukunftsprognose. Demnach würde die Bevölkerung an einer Überalterung leiden und nicht von dem sprunghaften, energischen Charakter der jugendlichen Generationen profitieren können. Im selben Maße verhält es sich mit der genetischen Manipulation. Die Fortschritte der biomedizinischen Technik haben das Potenzial, das Verhalten eines Menschen nicht im medizinischen aber wohl im sozialen Bereich einem gesellschaftlichen Ideal anzupassen.
[...]
1 Jonas, H., 2017: S. 36.
2 Ebd. S. 26.
3 Ebd. S. 27.
4 Hubig, C., 1995: S. 13.
5 Schmidt, J. C., 2007: S. 545.
6 Vgl. Ebd. S. 561, (14).
7 Kants Schriften werden nach der Akademie-Ausgabe (Berlin 1902 ff) unter Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert. Ausnahmen sind „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784)“ und „Vorlesung zur Moralphilosophie (2004)“, welche normal zitiert werden.
8 Vgl. Ebd. S. 545; Vgl. Schmidt, J. C., 2013: S. 147.
9 Vgl. Jonas, H., 1988b: S. 326.
10 Schmidt, J. C., 2007: S. 545.
11 Vgl. Jonas, H., 1988b: S. 329.
12 Vgl. Jonas, H., 2017: S. 11.
13 Vgl. Jonas, H., 1988b: S. 326.
14 Ebd. S. 328.
15 Vgl. Uekötter, F., 2016: S. 92.
16 Vgl. Vogt, M., 2009: S. 114.
17 Vgl. Ebd. S. 116.
18 Grober, U., 2010: S. 13.
19 Biermayer, G., 2013: S. 14.
20 Vgl. Carnau, P., 2011: S. 14.
21 Uekötter, F., 2016: S. 91.
22 Ebd.
23 Vgl. Ebd. S. 92.
24 Ebd.
25 Vgl. Caldwell, L. K., 1998: S. 15f.
26 Vgl. Diefenbacher, H. et al., 1997: S. 40f.
27 Jonas, H., 1988b: S. 327.
28 Vgl. Jonas, H., 2017: S. 42.
29 Ebd. S. 7.
30 Nietzsche, F., 2016: S. 460.
31 Vgl. Jonas, H., 2017: S. 7.
32 Vgl. Heidbrink, L., 2017: S. 4ff.
33 Vgl. Ebd. S. 7.
34 Ebd.
35 Ebd. S. 7f.
36 Ebd. S. 8.
37 Ebd.
38 Vgl. Banzhaf, G., 2017: S. 151.
39 Ebd.
40 Jonas, H., 2017: S. 175.
41 Vgl. Ebd. S. 15-19.
42 Vgl. Ebd. S. 22f.
43 Ebd. S. 22.
44 Ebd. S. 36.
45 Vgl. Ebd. S. 42.
46 Vgl. Ebd. S. 31.