Mehrsprachigkeit im Film. Der Migrant im italienischen Film des 21. Jahrhunderts


Masterarbeit, 2018

73 Seiten, Note: 1,8

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Hintergrund und Vorgehen
1.2 Zum bisherigen Forschungsstand

TEIL I – THEORETISCHE GRUNDLAGEN

2. Italien vom Emigrationsland zum Immigrationsland
2.1. Immigrationspolitik
2.1.1 Sprachliche Integration
2.2 Immigranten in den italienischen Medien und im öffentlichen Diskurs

3. Definition der Begrifflichkeiten
3.1 Mehrsprachigkeit – Eine Definition
3.1.1 Mehrsprachigkeit durch Migration
3.2 Sprache, Mehrsprachigkeit und soziale Identität
3.3 Sprachkontakt
3.3.1 Transkodische Markierung
3.3.2 Code- Switching
3.3.3 Transferenz
3.3.4 Code – Mixing

4. Das Medium Film
4.1 Der polyglotte Film
4.1.1 Die Untertitelung
4.2 Der italienische Einwanderungsfilm
4.2.1 Versuche der Kategorisierung des „migration cinema“
4.2.2 Das italienische Immigrantenkino

TEIL II – ANALYTISCHER TEIL

5. Zur Filmauswahl und Vorgehensweise
5.1 Vorstellung der Fragestellung, Methodik und Zielsetzung
5.2 Film: Il vento fa il suo giro
5.2.1 Inhalt
5.2.2 Sprachen im Film
5.2.3 Betrachtung der Filmsequenzen
5.2.4 Zusammenfassung
5.3 Film: Là-bas - Educazione criminale
5.3.1 Inhalt
5.3.2 Sprachen im Film
5.3.3 Betrachtung der Filmsequenzen
5.3.4 Zusammenfassung
5.4 Film: Fuocoammare
5.4.1 Inhalt
5.4.2 Sprachen im Film
5.4.3 Beobachtungen aus den Filmsequenzen
5.4.4 Zusammenfassung

6. Schlussbetrachtungen
6.1 Auswertung und Diskussion der Erkenntnisse
6.2 Fazit und Ausblick

Literatur

Un populu

Diventa poviru e servu,

quannu ci arrobanu a lingua,

addutata di padri:

e perdi pi sempri

(Ignazio Buttita, Sicilian poet)

ABSTRACT

Italien, das einst typische Emigrationsland, wurde in den letzen Jahren zur Anlaufstelle vieler Immigranten, die nach Europa auswandern, in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen. Dieses Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen und ihrer Sprachen findet in den heutigen Kinoproduktionen immer häufiger Eingang. Dabei ist interessant zu beobachten, dass diese Filme sich dadurch auszeichnen, dass die von Immigranten mitgebrachten Muttersprachen die Filme durch Mehrsprachigkeit auszeichnen und bereichern. In dieser Arbeit wurde dabei untersucht, inwiefern Mehrsprachigkeit einen Beitrag zur sprachlichen Integration der Migranten leistet und wie diese in der filmischen Darstellung der Immigrantenfiguren im italienischen Film des 21. Jahrhundert inszeniert wird. Bei der Untersuchung der gewählten Filme Il vento fa il suo giro (2005), Là-bas - Educazione criminale (2011) sowie Fuocoammare (2016), zeigte sich unter Verwendung sprachwissenschaftlicher Analysefragen zur Mehrsprachigkeit, dass soziale und sprachliche Isolation bzw. die Integration von Migranten in die jeweilige Empfängergesellschaft fest mit Sprachkompetenzen verbunden sind.

1. Einleitung

Migration betrifft durch die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und geopolitischen Umwälzungen immer mehr Menschen. Einige machen sich auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen und aus Gründen der Selbstverwirklichung freiwillig auf den Weg in ein neues Land, während andere durch Krieg oder Armut zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen werden. Unweigerlich treffen diese Menschen im Ankunftsland auf andere Menschen, mit denen sie sich verständigen müssen – möglichst durch Sprache. In den meisten Fällen handelt es sich bei der Sprache des Ziellandes um eine andere als die Herkunftssprache, so dass es bei einer längerfristigen Immigration häufig zur Mehrsprachigkeit der Migranten kommt[1].

Dabei stellt Sprache für Migranten einen fundalmentalen Teilaspekt der eigenen Identität sowie die Voraussetzung für soziale Interaktion dar und ist damit unweigerlich eine Grundlage für den Integrationsprozess. Damit einhergehend werden Migranten vor Herausforderungen gestellt, wenn sie sich im Zielland mit einer neuen Sprache konfrontiert sehen und prüfen müssen, wie sie die neue Sprache und die damit verbundene Mehrsprachkeit mit der eigenen sozialen Indentität vereinbaren können. Zwischen den beiden extremen Polen der völligen Aufgabe der Sprache des Herkunftslandes und der Verweigerung des Erlernens der Sprache des Aufnahmelandes liegen viele Zwischenstufen. In manchen Fällen wird diese Mehrsprachigkeit als identitätsstiftend, in anderen Fällen dagegen als identitätsbedrohend empfunden. Aus diesem Grund ist das Verhältnis von Sprache bzw. Mehrsprachigkeit und Identität vor allem im Kontext der Migrations- aber auch der Sprachwissenschaften ein elementares Forschungsgebiet von großem Interesse.

Der Umgang der Migranten mit dieser neuen Sprachsituation fällt ganz unterschiedlich aus. Das Medium Film mit seiner spezifischen narrativen und ästhetischen Qualität erweist sich dabei als ein geeigneter Zugang für die eingehende Betrachtung dieser Phänomene. Denn, dass ein Film Figuren mehrerer Sprachen zeigt, rückt in den jüngeren Kinoproduktionen auffällig in den Vordergrund. Dabei dient Sprache nicht nur als Brücke zwischen der Ebene filmischer Inhalte und der Ebene des Films als globalisiertes Medium. Sie vermittelt gleichzeitig zwischen den Figuren als Einzelpersonen, sowie zwischen den Kulturen, aus denen sie kommen. Diese symbolischen und identitären Dimensionen von Mehrsprachigkeit sollen auch in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen und an dem Beispiel dreier Filme, die Migranten in Italien zeigen, untersucht werden. Dabei steht die Frage, inwiefern Mehrsprachigkeit einen Beitrag zur sprachlichen Integration der Migranten leistet und wie diese in der filmischen Darstellung der Immigrantenfiguren im italienischen Film des 21. Jahrhundert inszeniert wird, im Kern der analytischen Untersuchungen.

Aufgrund der Vielschichtigkeit der Definitonsbreite und –tiefe des Begriffs der Migration bezieht sich die vorliegende Arbei vordergründig auf die Immigration nach Italien. Die Betrachtung von Italien als Zielland von Immigration in dieser Arbeit ist vor allem vor dem Hintergrund der verstärkten Migrationsbewegungen nach Europa seit 2015 und den damit einhergehenden gesellschaftlichen, politischen und nicht zuletzt auch sprachlichen Herausforderungen für Italien als europäisches Ankunftsland ausgewählt worden. Die Auseinandersetzung mit auch sprachlichen Herausforderungen diesbezüglich wird durch diese aktuellen Geschehnisse nicht nur im politischen, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs verstärkt relevant.

1.1 Hintergrund und Vorgehen

Nach dem Einsetzen der Massenimmigration nach Italien ist das Thema der Immigration seit Beginn der neunziger Jahre ein fester Bestandteil des italienischen Kinos. Eine Vielzahl der Filme, die dieses Thema behandeln, wurden 2011 während der Filmefestpiele von Venedig gezeigt und veranlasste die Journalisten Jacques Mandelbaum und Philippe Ridet nach ihrem dortigen Besuch dazu, ihren Artikel für die Zeitung Le Monde mit ‚L'immigré, vedette américaine de la Mostra de Venise‘ (Mandelbaum & Ridet 2011) zu betiteln. Darin bescheinigten sie den Italienern einen fast obsessiven Umgang mit dem Thema der Immigration im Film und stellten fest, dass diese Thematik schon seit Jahren das italienische Kino nährt und sogar bei den 68. Internationalen Filmfestspiele in ‚[...] une dizaine de films, toutes sections, tous genres et toutes générations confondus‘ (ebenda) zu finden war.

Um dem vielschichtigen Thema dieser Arbeit nun den umfassenden Rahmen zu geben, der zur wissenschaftlichen Aufarbeitung zu verwenden ist, gliedert sich die vorliegende Arbeit in vier Teile auf.

In einem ersten Schritt soll auf die geschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der italienischen Migration - insbesondere der Immigration nach Italien - eingegangen werden, Immigrantenfilmediese Wanderungsbewegungen einschlägige Einflüsse auf die Verarbeitung der Thematik im Immigrantenfilm darstellen.

Anschließend werden die Terminologien der Mehrsprachigkeit und ihre sprachlichen Phänomene definiert und voneinander abgegrenzt. Außerdem wird der Bezug zur sozialen Identität als solche dargelegt. Ebenso soll eine Einbettung in das ‚Filmgenre‘[2] des polyglotten Films aufgezeigt werden.

Auf dieser Grundlage werden anschießend die ausgewähten Filme analysiert. Dabei soll im Speziellen auf die Fragestellungen eingegangen werden, wie mit dem Phänomen der Mehrsprachigkeit visuell umgegangen wird, welche Rolle dabei der italienische Dialekt inne hat und wie sich der Zusammenhang von Identitätskonstruktion und Sprache in den jeweiligen filmischen Darstellungen ausprägt.

Nach dem zusammenfassenden Fazit soll abschließend noch ein Ausblick auf die zukünftigen Chancen und Herausforderungen – auch im Hinblick auf die aktuelle Brisanz der Thematik – in Bezug auf Migration und Mehrsprachigkeit im italienischen Film des 21. Jahrhunderts gegeben werden.

1.2 Zum bisherigen Forschungsstand

Zu der rasant wachsenden Anzahl der Filme, die Immigranten im zeitgenössischen italienischen Kino darstellen, gibt es bereits zahlreiche wissenschaftliche Publikationen. Viele davon sind neueren Datums und untersuchen das Thema aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Fragestellungen. Die meisten der wissenschaftlichen Texte begrenzen sich nicht auf die Immigration nach Italien, sondern untersuchen die Repräsentation des „Fremden“ oder umfassen weitere italienische Migrationsphänomene: So findet manchmal die Betrachtung innerhalb des Europäischen „migrant cinemas“ statt, wie es z.B. bei der von Daniela Berghahn und Claudia Sternberg herausgegebenen Aufsatzsammlung European Cinema in Motion. Migrant and Diasporic Film in Contemporary Europe (2010) der Fall ist; oder der von Sabine Schrader und Daniel Winkler herausgegegbene Konferenszband The Cinema of Italian Migration: European and Transatlantic Narratives (2013), welches sich mit dem Thema der italienischen Migration im Film auseinandersetzt.

Schließlich seien Veröffentlichungen zu nennen, die sich mit den romanischen Sprachen in mehrsprachigen Filmen auf verschiedene Weise auseinandersetzen, wie unter anderen Verena Berger Polyglot Cinema. Migration and Transcultural Narration in France, Italy, Portugal and Spain (2010) sowie Vorträge, die während der Tagung[3] 2011 in Berlin festgehalten wurden, wie zum Beispiel Andreas Blum Die fremde Sprache als Rettung und als Risiko: Sprachenerwerb und Sprachwechsel als Thema des aktuellen Kinos (2011).

Neben den genannten gibt es eine ganze Reihe weiterer Autorinnen und Autoren – hierbei seien besonders Enrica Capussotti, Giovanna Faleschini Lerner, Amodeo Immacolata, Daniel Winkler und Alberto Zambenedetti erwähnt – die sich immer wieder darum bemühen, jene italienischen Filme im wissenschaflichen Diskurs zu beleuchten, die Migrationsphänomene aufzeigen und thematisieren.

Aufgrund der Aktualität des Themas und der Filmauswahl werden für diese Arbeit neben den zahlreichen akademischen Exponaten auch Quellen aus dem Internet[4] herangezogen, um mit einer möglichst allumfassenden Perspektive aufzuwarten und das Thema aus unterschiedlichen Facetten zu bearbeiten, die auch neueste Betrachtungsweisen inkludieren. Die wissenschaftliche Herangehensweise, sowie der stets kritische Diskurs sind hierbei obligatorisch.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.

TEIL I – THEORETISCHE GRUNDLAGEN

2. Italien vom Emigrationsland zum Immigrationsland

Die noch immer andauernde Massenimmigration nach Italien hat etwa Mitte der 80er Jahre begonnen, was im Vergleich zu anderen Europäischen Staaten recht spät ist. Zwar sind die Ausmaße der weltweiten Migration, wie aus dem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen hervorgeht, von nie dagewesenen Dimensionen – so ist die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, noch nie so hoch wie heute (Eurostat 2017)[5] – doch sind die Immigration auf die italienische Halbinsel, sowie die Migration und ‚Völkervermischung‘ an sich natürlich keine Neuheiten unserer Zeit.

Die Form und Lage der italienischen Halbinsel bot sich auch schon in früherer Zeit sowohl als Brücke zwischen Europa und Afrika, als auch zwischen dem östlichen und westlichen Mittelmeerraum an (vgl. Corti & Sanfilippo 2012: 3). Phönizische Handelskontakte, Griechische Kolonien, die sogenannte ‚Magna Graecia‘ im Süden, die Erfahrung des Römischen Reiches, das zeitweise das ganze ‚Mare Nostrum‘ umspannte, der Einfall der Langobarden von Norden, Arabische und Normannische Herrschaften im Süden oder weitreichende Handelskontakte und Kolonien im östlichen Mittelmeerraum der Republik Venedig sowie italienische Dörfer, in denen noch immer ein albanischer Dialekt des 15. Jahrhunderts gesprochen wird, sind nur einige Beispiele hierfür. Im folgenden Kapitel werden nur die größten Migrationsphänomene seit dem 19. Jahrhundert genannt, die der Komplexität und Vielfalt der italienischen Migrationserfahrungen natürlich nicht gerecht werden können. Denn kein anderes Volk emigrierte in so viele Richtungen und in so großer Anzahl wie die Italiener und von keinem anderen Volk trieb es mehr Ausgewanderte wieder in die Heimat zurück (vgl. Corti & Sanfilippo 2012: 90). Von 1876 bis 1980 verließen über 26 Millionen Italiener in verschiedenen Auswanderungswellen ihr Land, wobei im Zuge der Rückmigration von 1905 bis 1981 etwa neun Millionen nach Italien zurückkehrten (vgl. Corrado 2007: 71). Die Zahlenangaben variieren hier jedoch stark. Der Großteil der Auswanderer stammte aus dem ärmeren Süden Italiens und verließ aus wirtschaftlichen Gründen die Heimat. Hauptsächliche Ziele waren Nord- und Südamerika, Australien sowie andere europäische Staaten, wobei die Auswanderung in europäische Länder insgesamt leicht überwog (vgl. Corti & Sanfilippo 2012: 94). Neben den als Gastarbeitern oder Arbeitsmigranten bekannten Emigranten, die nach dem zweiten Weltkrieg aufgrund von Arbeitskräftemangel nach Deutschland, Frankreich, Belgien und die Schweiz kamen, gab es zur Zeit des Wirtschaftswunders der 1950er und 60er Jahre eine inneritalienische Migrationsbewegung: Viele verließen den wirtschaftlich schwachen Süden, um im reicheren Norden Italiens Arbeit in der dort ansässigen Industrie zu finden. In den 60er Jahren siedelten mehr als 300.000 Menschen jährlich in den italienischen Norden um (vgl. Almagsti & Piana 2011: 140). Die abschätzig als terrone oder auch africani bezeichneten Süditaliener wurden im Norden oft Opfer von Vorurteilen und Rassismus, der sich bis heute zu einem gewissen Grad gehalten hat. Galli Della Loggia zeigte auf, dass nationale Identität und Nationalgefühl nur den ideologisch-kulturellen Eliten und den staatlichen Institutionen wichtig waren, aber nicht vom italienischen Volk getragen wurden (vgl. Galli della Loggia 1998: 158). Vor der Einigung Italiens im Jahr 1861 war die Bevölkerung der italienischen Halbinsel lange geographisch, historisch und politisch fragmentiert: ‘Italy was understood more as a geographic location than as the territory of a nation, and if the Risorgimento brought political unity and led to the birth of a new country, it was the Facist regime that attempted cultural unification through its coercive strategies of nation forming’ (Zambenedetti 2006: 105). Doch auch wenn im Faschismus versucht wurde, das Bild einer einheitlichen italienischen Identität zu formen – wobei sich insbesondere des Kinos als Propagandamittel bedient wurde – ist in Italien auch heute noch das Bild des wirtschaftlich schwachen, von Mafia-Machenschaften gelähmten Südens als ‘palla di piombo’ tief in den Köpfen verankert, „[...] che trascina l’Italia giù verso l’Africa, e Napoli diventa il simbolo, foscamente allegro, della crepa che minaccia e permette di spaccare in due il paese, con i ‘nordici’ al piano nobile e i ‘sudici’ in cantina [...].“[6] (Angelini 2000: 2).

Schon lange propagiert die rechtspopulistische Partei Lega Nord die Abspaltung des Nordens vom Süden, auch wenn sie inzwischen selbst Parteiableger mit separatistischen Zielen im Süden Italiens hat.

Eine Statistik über Ausländer in Italien wird erst seit 1970 geführt und besagt, dass in jenem Jahr weniger als 10.000 Immigranten in Italien lebten, die zumeist aus Europa oder anderen westlichen Staaten stammten (vgl. Corti & Sanfilippo 2012: 152). Im Jahr 1973 wurden in Italien zum ersten Mal mehr Einwanderer als Auswanderer gezählt (vgl. Bertagna & Maccari 2011: 216).

Während die Immigration bis zum Ende der 80er Jahre vor allem als Arbeitsmigration wahrgenommen wurde (vgl. Dal Lago 2010: 5), änderte sich dies, als mit dem Ende der Sowjetunion und den Balkankonflikten die ersten großen Flüchtlingswellen nach Italien kamen.

[...] this migration was further encouraged by the abrogation of national restrictions resulting from the legal structure of the European Community; globalization and its many ramifications and consequences, and geopolitical developments, led to a surge of immigrants from Africa, Asia and other locations to Italy. (Bullaro 2010: xv).

Von 2001 bis 2017 hat sich die Zahl der in Italien lebenden Ausländer verdreifacht, so dass im Jahr 2017 laut Angaben des Instituto Nationale di Statistica (kurz Istat) über fünf Millionen Immigranten legal in Italien lebten und damit etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten (Istat 2017). Die Angaben über die Anzahl der sich illegal in Italien aufhaltenden Ausländer variieren stark. Während die Schätzungen der OECD zwischen 500.000 und 750.000 Menschen schwanken, wurde von der Caritas die Zahl der illegal Eingewanderten auf eine Million Menschen geschätzt (vgl. Calabrò 2009). In den Regionen mit Italiens größter Industrie im Zentrum und im Norden des Landes (wie etwa der Lombardei, der Emilia Romagna, der Toscana oder dem Veneto) machen Immigranten zum Teil bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung aus (vgl. Diamanti 2012). Für das Gesamtbild bedeutet dies, dass zwei von drei Ausländern im Norden Italiens leben (vgl. ebenda). Die fünf größten Einwanderergruppen in Italien stammten im Jahr 2017 aus Rumänien (über eine Million), Albanien und Marocco (jeweils fast eine halbe Million) sowie der Volksrepublik China (über 290.000) und der Ukraine (ca. 240.000) (vgl. Istat 2017). Wie andere westliche Nationen, benötigt auch Italien die Zuwanderung dringend: Mit einer niedrigen Geburtenrate (vgl. Indexmundi 2017) und zahlreichen Arbeitsbereichen, in denen viele Italiener nicht mehr bereit sind zu arbeiten (Ambrosini 2012: 223), sind Immigranten unabkömmlich. Auch wenn sich Italien in den letzten Jahrzehnten zum Einwanderungsland entwickelt hat, so ist es zugleich noch immer auch Auswanderungsland: Besonders junge und gut ausgebildete Menschen verlassen in großer Zahl das Land, ein Phänomen, das mit brain drain einen Namen gefunden hat.

2.1. Immigrationspolitik

Die meisten Immigranten kommen auf legalem Weg mit Arbeitserlaubnis oder Touristenvisum als sogenannte regolari nach Italien. Wenn die Aufenthaltserlaubnis der regolari abgelaufen ist und nicht verlängert wird und die Immigranten dennoch in Italien bleiben, werden sie zu irregolari. Die clandestini hingegen sind diejenigen, die illegal ins Land gekommen sind. Auch wenn nur etwa zehn Prozent der clandestini auf dem Seeweg nach Italien kommen, so sind diejenigen, die mit Schiffen die ‚Festung Europa‘ zu erreichen versuchen, sicher die in den Medien am häufigsten gezeigten. Die große EU–Außengrenze Italiens lässt viele die illegale Einreise auf zum Teil nur wenig seetüchtigen Booten versuchen. Dabei werden oftmals noch hohe Summen an Schlepper gezahlt. Die sogenannte viaggio della speranza endet für viele tödlich. Im Zuge der Flüchtlingswelle des arabischen Frühlings starben allein im Jahr 2011 mehr als 2000 Menschen im Meer. Weit über 60.000 erreichten die italienischen Küsten (vgl. Caritas & Migrantes: 13f.).

Besonders den clandestini gilt der Kampf der italienischen und auch europäischen Politik. Erst 1986 begann in Italien die Gesetzgebung zur Einwanderung, welche seither immer wieder größeren Änderungen und vor allem Verschärfungen unterworfen war. Zum heutigen Zeitpunkt ist noch immer das umstrittene „Bossi-Fini“-Gesetz von 2002 grundlegend für die italienische Migrationspolitik, das unter Berlusconis Mitte-RechtsKoalition in Kraft trat (vgl. Di Muzio 2012). Hauptziel war es, die legale wie auch die illegale Zuwanderung zu begrenzen. Für eine Aufenthaltserlaubnis ausschlaggebend wurden fortan die Arbeitsverträge, deren Auslaufen automatisch auch die Gültigkeit des Visums zum Verlöschen brachte, was den Arbeitgebern unverhältnismäßig große Macht zuspielte (Parati 2005: 149). Wieder unter Premierminister Silvio Berlusconi wurde 2008 das sogenannte Pacchetto Sicurezza eingeführt und 2009 erweitert, welches „[...] eine enge Verbindung zwischen irregulärer Zuwanderung, Sicherheit und organisiertem Verbrechen [...]“ (Di Muzio 2012) zieht und die illegale Grenzüberschreitung und den Aufenthalt im Land als Straftat festlegt, die mit bis zu 10.000 Euro Bußgeld geahndet werden kann (vgl. ebenda). Zudem bestimmt dieses Gesetz, dass „denjenigen, die Wohnraum an clandestini vermieten, [...] eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren sowie die Konfiszierung der Wohnung“ drohen. Zudem wurden „die Sanktionen gegenüber Personen, die irreguläre Migranten beschäftigen, [...] deutlich verschärft“ (ebenda). Die clandestini, die es dennoch schaffen, Europa zu betreten und die dann dort von der Polizei gefasst werden, werden in die 1998 (vgl. ebenda) eingerichteten ‚Centri di identificazione ed espulsione‘ (CIE)[7] gebracht. Diese Zentren der ‚administrative detention‘ (Colombo 2012: 111) haben in anderen europäischen Staaten schon eine viel längere Tradition. In Italien dürfen clandestini und straffällig gewordene oder die öffentliche Ordnung störende irregolari bis zu 18 Monate bis zu ihrer Abschiebung festgehalten werden (vgl. Ministero dell’Interno 2018). Die Zustände in diesen Lagern sind immer wieder Grund für Kritik von Seiten der Menschenrechtler, ebenso wie die Abkommen Italiens mit Libyen, Ägypten und Tunesien, die illegale Zuwanderung gegen Bezahlung schon in Afrika verhindern sollten (vgl. Paoletti 2012). So wurde im Jahr 2012 die italienische Zurückweisungspolitik in Zusammenarbeit mit Libyen vom europäischen Menschenrechtsgerichtshof verurteilt, da den abgewiesenen Flüchtlingen dort Misshandlung, Folter und Abschiebung drohten (Kopp 2012: 15). Auch die europäischen Agentur Frontex, deren Aufgabe die Sicherung der EU–Außengrenze ist, wird schwer kritisiert. Ihr wird vorgeworfen, das europäische Recht zu umgehen, welches theoretisch jedem Immigranten das Stellen eines Asylantrags gewährleisten müsste.[8] Da Frontex die Bootsflüchtlinge jedoch schon auf dem Meer in internationalen Gewässern abfängt und abschiebt, besteht diese Möglichkeit nicht. Trotz der strengen Gesetzgebung legalisierte Italien in den Jahren 2002 und 2003 den Aufenthaltsstatus von insgesamt 634.700 Einwanderern ohne Aufenthaltsgenehmigung. Damit erließ das Land Europas bisher umfassendste Amnestie (vgl. Di Muzio 2012). Aufgrund der nur schwachen Rechtslage und des staatlichen Schutzes haben sich viele Netzwerke von und für Immigranten gebildet, die dieses rechtliche Defizit aufzufangen versuchen (z.B. auf städtischer Ebene, in Gewerkschaften, NGOs oder in kirchlichen Institutionen) (vgl. Ambrosini 2013: 177). Neben den Vorwürfen der Menschenrechtsverletzung im Umgang mit illegalen Einwanderern bemängeln Human Rights Watch sowie Thomas Hammarberg, Mitglied des EU-Menschenrechtsrats, dass rassistische Parolen seitens Politikern im Wahlkampf, sowie auch im Parlament in Italien noch immer geduldet würden (vgl. Human Rights Watch 2011, ebenso Hammarberg 2011). Weiter wird bemängelt, dass Rassismus in Italien noch immer sehr salonfähig ist: „Mentre in molti altri paesi europei ben più ‘seri’ gli estremisti di destra vengano tenuti ali margini per la loro pericolosità, da noi i leghisti fanno i ministri e la Mussolini è un personaggio televisivo.“ So schlugen etwa Roberto Calderoni und Umberto Bossi, beide Minister unter Berlusconi und Angehörige der Lega Nord, vor, auf die Flüchtlingsboote zu schießen (Cavalera 2003, Gomez & Travaglio 2003). Und auch die Reaktionen auf die im April 2013 im italienischen Parlament vereidigte Ministerin für Integration Céline Kyenge zeugen von Rassismus auf politischer Ebene: Die im Kongo geborene und 1983 nach Italien eingewanderte Augenärztin ist die erste schwarze Politikerin im italienischen Parlament. Dies gab Anlass für Parteimitglieder der rechten Parteien wie der Forza Nuova oder der Lega Nord, rassistische Äußerungen zu machen und Kyenge „Lob der Polygamie“ (vgl. Corriere della Sera, 2013) vorzuwerfen. Auch finden sich in diesem Zusammenhang Kommentare wie der des Abgeordneten des Europäischen Parlaments Mario Borghezio: „Questo è un governo del bonga bonga, vogliono cambiare la legge sulla cittadinanza con lo ius soli e la Kyenge ci vuole imporre le sue tradizioni tribali, quelle del Congo. Lei è italiana?“(vgl.ebenda) Diese Äußerung führte nach einer Protestaktion zu seinem Ausschluss aus dem Europäischen Parlament und seiner dortigen Fraktion (vgl. il Fatto Quoditiano 2013). Weitere Angriffe auf Kyenge folgten: So wurde sie persönlich für Straftaten von Afrikanern verantwortlich gemacht – z.B. forderte die Lokalpolitikerin Dolores Valandro der Lega Nord nach einem mutmaßlichen Vergewaltigungsversuch durch einen Afrikaner auf ihrer Facebook-Seite dazu auf, Kyenge zu vergewaltigen, damit sie wisse, wie sich das Opfer fühle (vgl. il Fatto Quoditiano 2013). Valandro wurde nach dieser Äußerung aus ihrer Partei ausgeschlossen und verurteilt. Darüber hinaus wurde Kyenge auf einer Parteiveranstaltung mit Bananen beworfen und fand diese auf ihrem Stuhl vor (vgl. la Repubblica 2013); vom Vizepräsidenten des Senats Roberto Calderoli (der bereits das Schießen auf Flüchtlingsboote vorschlug) wurde sie mit einem Orang-Utan verglichen (was für diesen trotz Rücktrittsforderungen keine Konsequenzen hatte) (vgl. ebenda). Der Vergleich von (ethnischen) Afrikanern mit Affen ist in Italien sonst auf den Fußballtribünen sehr beliebt, wo immer wieder Spiele abgebrochen wurden oder gar unter Ausschluss der Fans stattfanden, da diese mit Affengeräuschen Spieler beleidigten (vgl. Schönau 2013). Als Reaktion auf die Angriffe auf seine Ministerin las der Ministerpräsidenten Enrico Letta aus einem (angeblichen) Dokument vor, in welchem eine Quelle von 1912[9] italienische Immigranten in den USA beschreibt und das auf folgende Weise beginnt „Generalmente, sono di piccola statura e di pelle scura. Non amano l'acqua. Molti di loro puzzano, perché tengono lo stesso vestito per molte settimane [...]“(la Republica 2013). Doch auch wenn die Echtheit der Quelle nicht bewiesen ist, so ist es Tatsache, dass italienische Emigranten nicht immer den besten Ruf hatten und diskriminiert wurden (vgl. Parati 2005: 26f.). Mit diesem Zitat wird die Intention Lettas deutlich, den Italienern die eigene Vergangenheit als Spiegel vorzuhalten. Trotz der Angriffe und Drohungen gegen sie sagt Kyenge, die mittlerweile nur noch in Begleitung einer ganzen Schar von Leibwächtern auftaucht, dass Italien kein rassistisches Land sei und nicht als Ganzes für rassistische Vorkommnisse verurteilt werden könne. Dies geschehe nur, weil sich einige Italiener nicht erinnern würden, dass Italien ein Land der Immigration und der Emigration sei (vgl. Corriere della Sera 2013).

2.1.1 Sprachliche Integration

Die sprachliche Integration von Zuwanderern ist ein wesentlicher Bestandteil des Integrationsprozesses und stellt die Grundvoraussetzung des erfolgreichen Erlernens, Schaffens und Planens der eigenen Zukunft im Aufnahmeland dar.

Nach dem interkulturellen Ansatz lässt sich Integration so übersetzen, dass für alle das Prinzip der Chancengleichheit, Rechte und Pflichten besteht sowie auf der Anerkennung von Unterschieden, der Wertigkeit von Austausch und Gegenseitigkeit.

Integration ist ein Prozess und ein wechselseitiges Begehren seitens derer, die die Immigranten willkommen heißen und seitens derer, die in dem neuen Heimatland aufgenommen werden. Dies wird erreicht, indem angemessen auf die sprachlichen und kommunikativen Bedürfnisse der ‚neuen‘ Bürger eingegangen wird. Hinzukommend aber auch durch die Förderung des gegenseitigen Wissens und die Wertschätzung der Beiträge eines jeden Einzelnen (vgl. Beacco, Little & Heges: 11ff.).

Die italienische Situation ist sicherlich quantitativ und qualitativ nicht mit der anderer europäischer Länder vergleichbar, die für die kulturelle Integration prädestiniert sind, aber Italien kann seine Bildungspolitik gegenüber seinen neuen Bürgern auf zwei Elemente stützen: einerseits seiner Erfahrung als Auswanderungsland und durch die Binnenwanderung[10] ; auf der anderen Seite die konsolidierte Erfahrung und die Überlegungen zu den bisherigen Initiativen, die aus den europäischen Ländern der alten Einwanderung kommen. Die in den italienischen Rechtsvorschriften enthaltenen Hinweise und Grundsätze umreißen ein Bildungsmodell, das wir als integrativ, interkulturell und aufmerksam auf die Anerkennung und Verbesserung von Sprachen und Herkunftskulturen definieren können (vgl. ebenda: 115). So wurden unter anderem Zentren ins Leben gerufen wie beispielweise das seit 1997 existierende Centri Territoriali Permanenti (CTP), welches sich der sozialen als auch sprachlichen Integration annimmt und mit der Bildung junger ausländischer Erwachsene befasst (vgl. rai Cultura 2013).

2.2 Immigranten in den italienischen Medien und im öffentlichen Diskurs

Die Medien sind in Italien eng verknüpft mit der Politik: Besonders diesem Fakt verdankt Italien im Jahr 2016 den 77. Platz auf dem Index der Pressefreiheit, nur einen Platz vor westafrikanischen Land Benin und als vorletztes EU-Land, lediglich gefolgt von Griechenland (vgl. Reporters without Borders 2016). Die Wahrnehmung der Immigration als gesellschaftliches Problem hat mit dem Fall des Eisernen Vorhangs seinen Anfang genommen, als damals Bootsflüchtlinge aus Albanien auf heillos überfüllten Schiffen über die Meerenge von Otranto nach Italien kamen. Diese Bilder in den Medien veränderten auch die Wahrnehmung der Immigration in der Öffentlichkeit: Auch wenn die tatsächliche Immigrantenzahlen damals noch recht gering waren, so war dies der Zeitpunkt, zu dem in den italienischen Medien zum ersten Mal von einer „Invasion“ die Rede war und die Einwanderung immer mehr zum „delitto di immigrazione“ (Dal Lago 2010: 6) wurde: „[...] dall’ inizio degli anni Novanta, i migranti sono divenuti per l’opinione pubblica italiana le cause della crisi sociale e delle paure collettive che hanno segnato la fine della cosiddetta Prima Repubblica.“ (Dal Lago 1999: 25). Den italienischen Medien wird vielfach vorgeworfen, durch ihre Berichterstattung und der darin verwendeten Ausdrucksweise Angst vor Immigranten zu schüren und somit Rassismus zu fördern: Eine Studie von 2008 der römischen Universität La Sapienza (vgl. Unimondo 2009) berichtet, dass in der ersten Hälfte des Jahres 2008 nur 26 von 5684 Beiträgen in Fernsehnachrichtensendungen über Immigranten keinen Bezug zu Kriminalität oder Themen der Sicherheit aufwiesen. Der durchschnittliche Einwanderer aus Sicht der italienischen Medien ist "[...] un criminale, [...] maschio (quasi all’80%) e la sua personalità è schiacciata sul solo dettaglio della nazionalità o dell provenienza ‘etnica’, presente spesso nel titolo delle notizie".[11] (Unimondo 2009). Áine O’Healy wirft den italienischen Medien zudem eine „Invasionsrhetorik“ (vgl. O`Healy 2006: 70) vor. In den 80er Jahren kam der Begriff „extracomunitari“ auf, welcher eigentlich eine neutrale Bezeichnung für alle nicht EU-Bürger ist. Seiner Bedeutung nach müssten also auch Einwanderer und Touristen aus beispielsweise Amerika, Japan oder der Schweiz als extracomunitari bezeichnet werden. Mit der Zeit löste er jedoch die umgangssprachliche Bezeichnung ‘vu cumprà‘[12] ab und „ [...] is used idiosyncratically as a euphemism for black, third-world, or even ‘uninvited’.“ (Pell 2010: 183). In den offiziellen Dokumenten der EU wurde der Begriff extracomunitario wieder zum "cittadino non appartenente all'Unione europea" abgeändert (vgl. Satta). Große Unterschiede in der medialen Wahrnehmung macht auch die Herkunft der Einwanderer aus, denn „[...] despite a political and cultural attitude that is mostly hostile to or suspicious of immigration, families have hired hundreds of thousands of women and men, for housework, childcare, and especially home care for seniors.” (Ambrosini 2013: 177). Diese Hilfskräfte im Haushalt gehören meist bestimmten Nationalitäten an (hauptsächlich stammen sie von den Philippinen, aus Polen, Rumänien und der Ukraine). Neben den oft für verschiedene Nationalitäten typischen Arbeitsbereichen werden den Immigranten auch typische kriminelle Tätigkeitsfelder zugeschrieben. So werden Einwanderer mancher Nationalitäten als „gute“ Immigranten gesehen und andere aufgrund ihrer Herkunft gleich einem kriminellen Milieu zugeordnet (vgl. Marchetti 2010: 240).

3. Definition der Begrifflichkeiten

Wie wichtig der Zusammenhang von Migration, Mehrsprachigkeit und Identität ist, wurde bereits in der Einleitung der vorliegenden Masterarbeit erwähnt. In diesem Kapitel sollen nun die wichtigen Terminologien definiert werden, die somit für eine bessere Verständlichkeit der Thematik sorgen. Dabei soll das komplexe Thema der Mehrsprachigkeit zunächst im Allgemeinen definiert und dann ihr Bezug zur Migration herauskristallisiert werden. In einem nächsten Schritt soll auf die durch Mehrsprachigkeit geschaffenen sozialen Identitätskonstruktionen näher eingegangen werden. Abschließend werden der Sprachkontakt und seine – für diese Arbeit wichtigsten – Kontaktphänomene im Einzelnen erläutert.

3.1 Mehrsprachigkeit – Eine Definition

In der Literatur gibt es bisher keine einheitliche Definition bezüglich des Begriffs ‚Mehrsprachigkeit‘. Als mehrsprachig gilt jeder, der sich in mehr als einer Sprache verständigen kann. Als mehrsprachig soll hier deshalb vielmehr derjenige gelten, wer sich irgendwann im Alltag regelmäßig zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und auch von der einen in die andere wechseln kann, wenn dies die Umstände erforderlich machen. Dies findet unabhängig von der Symmetrie der Sprachkompetenz, von den Erwerbsmodalitäten und von der Distanz zwischen den beteiligten Sprachen (Lüdi 1996a: 234) statt. Für den weiteren Verlauf der Arbeit ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen: Die hier gewählte Definition von Mehrsprachigkeit beinhaltet die Tatsache, dass häufig mindestens eine der betroffenen Sprachen nicht auf muttersprachlichem Niveau – demnach nicht immer normgerecht bzw. mit einem fremden Akzent, der auf den Einfluss der anderen Sprache zurückzuführen ist – gesprochen wird.

Migration ist dabei eines von mehreren Ereignissen, die zu individueller Mehrsprachigkeit führen, welches im Zentrum des Interesses dieser Arbeit steht.

3.1.1 Mehrsprachigkeit durch Migration

Mit der Ausgangssituation der Migration müssen sich die Migranten – durch die Konfrontation mit der neuen Sprache – im neuen Land, in welcher Form und welchem Ausmaß auch immer, mit der eigenen Mehrsprachigkeit auseinandersetzen. „Trotz fehlender oder rudimentärer Vorkenntnisse, erwerben Neuzuzügler […] angesichts des Zwangs, kommunizieren zu müssen, in aller Regel mehr oder weniger approximative Kenntnisse in der Aufnahmesprache“ (Lüdi 1996b: 321). Dabei ergeben sich ganz unterschiedliche Verhaltensweisen in Bezug auf den Umgang mit dieser Mehrsprachigkeit, wie auch Lüdi hervorhebt. „Unterschiedliche Migrationswirklichkeiten erzeugen unterschiedliche Formen von Mehrsprachigkeit“ (Lüdi 1996b: 323). Lüdi & Py unterscheiden grob drei mögliche Verhaltensweisen der Migranten in Bezug auf den Umgang mit ihrer Mehrsprachigkeit:

1. Ghettoisierung: Der Migrant „kann zunächst die Unterschiede [in der Sprache und der Kultur] leugnen und weiterhin so zu leben versuchen, wie er dies in seiner Herkunftsregion getan hätte“ (Lüdi & Py 1984: 43). Er verweigert also weitgehend die Anpassung an die neue Sprache. Diese Möglichkeit besteht, da ein Leben in vielen Städten Mitteleuropas „mit elementaren Kenntnissen der Aufnahmesprache und einem absoluten Minimum an Kontakten mit der einheimischen Bevölkerung möglich“ (ebenda) ist.
2. Assimilation: Der Migrant kann genau gegenteilig handeln, indem er sich bemüht, „die Aufnahmesprache möglichst rasch und perfekt zu lernen […]. Er fürchtet sich davor, durch die Verwendung der Herkunftssprache als Nicht-Einheimischer klassifiziert zu werden, und dies gegen seinen ausdrücklichen Willen“ (ebenda).
3. Integration: Eine Art Kompromiss zwischen den beiden eben dargestellten Extrempolen der absoluten Anpassung oder der Verweigerungshaltung gegenüber der neuen Sprache und Kultur bildet dieser dritte Fall. Die Spracherwerbsziele des Migranten „liegen dann jenseits dessen, was das bloße materielle und soziale Überleben gewährleistet. […] Aber er geniert sich nicht, anders zu sein und anders zu sprechen als seine Nachbarn“ (ebenda). Die Ursachen, die zu den unterschiedlichen Formen und Umgangsweisen mit der Mehrsprachigkeit führen, sind zahlreich und ihr Zusammenwirken ist sehr komplex[13]. Dennoch wird immer wieder betont, dass gerade die Untersuchung der identitätsbezogenen Faktoren ein Bereich ist, „ohne den keine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem unterschiedlichen Sprachverhalten von Migranten gegeben werden kann“ (Gugenberger 2003: 54).

3.2 Sprache, Mehrsprachigkeit und soziale Identität

Sprache ist eine grundlegende Eigenschaft des Menschen und für seine Identität von entscheidender Bedeutung. „Als Kernbestandteil unserer Identität ist Sprache das strukturierende Element jeder Kultur und ihr direktester Ausdruck. (…) Die Wahrung und Förderung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt als Schlüssel für die europäische Integration gehört zu den strategischen Prioritäten der Europäischen Union. Die Förderung des interkulturellen Dialogs ist untrennbar mit der Mehrsprachigkeit verbunden.“ (euractiv 2007).

Allgemein ist anzumerken, dass Identität kein einmal erreichter und dann möglichst gleich bleibender Zustand ist, sondern von den Individuen „the social positioning of self and other“ (Bucholtz & Hall 2005: 586). Besonders bei wichtigen Einschnitten im Leben, wie im Falle einer Migration ist das Individuum vor große Herausforderungen gestellt und die neuen Identitätsangebote für die eigene Identität müssen auf ihre Tauglichkeit hin geprüft werden. „[T]he experience of change and of physical or moral displacement leads people to visit and question their past inventory of identities in order to rebuild a sense of self“ (De Fina, Schiffrin & Bamberg 2006: 345). Der Aufbau der Identität ist ohne den Bezug zum sozialen Umfeld nicht möglich. Das ‚Eigene‘ entwickelt sich dabei erst in Auseinandersetzung mit dem Fremden. “I do not think that you could talk about identity without talking about what an identity lacks – difference. This is very important because it is the point at which one recognizes that one can only be constituted through the other, through what is different. Difference, therefore, is not something that is opposed to identity, instead it is absolutely essential to it.” (Hall 2014: 41).

Die soziale Identität einer Person schafft sich also aus ihrer Mitgliedschaft in sozialen Gruppen „mit einer jeweils spezifischen Gruppenidentität […], die in Bezeichnungen wie ‘wir Deutschen’, ‘wir Arbeiter’, ‘wir Protestanten’ zum Ausdruck kommen können“ (Meister 1997: 68), konstituiert. Somit gehört die Identifikation von Individuen mit einer Nation, einem Volk oder einer kulturellen Gemeinschaft, zur sozialen Dimension der Identität. Für den Aufbau der sozialen Identität spielt die Anerkennung der Anderen eine wichtige Rolle.

[...]


[1] Dies trifft selbstverständlich nicht auf die Binnenmigration zu, sondern bezieht sich hierbei auf die transnationale Migration.

[2] Ob es sich hierbei um ein eigenständiges Filmgenre handelt, wird unter 4.1 näher erläutert.

[3] „Mehrsprachigkeit im Kino des 21.Jahrhundert“ an der Humbolth- Universität zu Berlin 25.09 - 28.09.2011.

[4] Gemeint sind hierbei sowohl Artikel aus Online-Medien sowie publizierte wissenschaftliche Artikel

[5] Seit dem Jahr 2006 ist ein stetig wachsender Zustrom von Geflüchteten erkennbar, wobei ab 2012 ein rascheres Wachstum verzeichnet wurde. 2014 stieg die Zahl der Geflüchteten auf den höchsten Stand seit 1992. Seit 2015 sind laut Hochrechnungen so hohe Flüchtlingszahlen wie noch nie in der Geschichte der Europäischen Union festzustellen.

[6] „[...] die Italien nach unten zieht in Richtung Afrika. Und Neapel wird zum finster-heiteren Symbol der Kluft, die droht und gestattet, das Land in zwei zu reißen, mit den ‘Nördlern’ auf der Etage des Adels und den ‘Südlern’ im Keller [...].“

[7] Bis 2008 hießen diese Zentren noch „centri di permanenza temporanea“ (CPT).

[8] Hierbei muss der Antrag immer in dem Land, in dem die EU zu erst betreten wurde, gestellt werden.

[9] Von dieser Quelle hat sich in den USA bisher noch kein Original finden lassen und es kursieren variierende

Versionen davon im Internet.

[10] siehe dazu Punkt 2 Italien vom Emigrationsland zum Immigrationsland.

[11] „[...] ein Krimineller, [...] männlich (etwa in 80% der Fälle) und seine Persönlichkeit wird in das einzig genannte Detail seiner Nationalität oder ‘ethnischen’ Herkunft verflacht, die häufig im Titel der Nachrichten steht“ Vgl. „Immigrati: nei media congelati negli stereotipi di ‘criminale, maschio, e clandestino.“

[12] „vu cumprà“ abgeleitet von „vuoi comprare“ („Willst Du kaufen“) ist ein Neologismus der achtziger und neunziger Jahre, als pejorative Bezeichnung für die afrikanischen „fliegenden Händler“.

[13] Aufgrund des beschränkten Umfanges dieser Arbeit können diese Ursachen nicht ausführlich dargestellt werden. Es empfiehlt sich zur Vertiefung Gugenberger (2003), der diese Faktoren und ihre Wirkung auf die Mehrsprachigkeit übersichtlich zusammengestellt hat.

Ende der Leseprobe aus 73 Seiten

Details

Titel
Mehrsprachigkeit im Film. Der Migrant im italienischen Film des 21. Jahrhunderts
Veranstaltung
Fremdsprachenlinguistik
Note
1,8
Jahr
2018
Seiten
73
Katalognummer
V458070
ISBN (eBook)
9783668901995
ISBN (Buch)
9783668902008
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mehsprachigkeit, Migration, Sprachkontakt, transkodische Markierung, code switching, code mixing, transferenz
Arbeit zitieren
Anonym, 2018, Mehrsprachigkeit im Film. Der Migrant im italienischen Film des 21. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/458070

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