Minderheitsregierungen in parlamentarischen Demokratien

Eine Antwort auf kritische Demokratietheorien?


Seminararbeit, 2018

21 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Gliederung:

1. Einleitung
1.1. Begriffserklärungen
1.2. Aufarbeitung des Forschungsstandes
1.3. Formulierung von Forschungsfrage und Hypothese
1.4. Organisation der Arbeit und argumentative Vorgehensweise

2. Überlegungen zur Bildung von Koalitionsregierungen
2.1. Parteipositionen
2.2. Wählerpositionen

3. kritische Demokratietheorien
3.1. Allgemeiner Überblick
3.2. systembedingte Strukturdefizite von etablierten Demokratien

4. Auswirkungen von Mehrheits- bzw. Minderheitsregierungen auf Strukturdefizite von Demokratien

5. Zusammenfassung und Ausblick

6. Literatur

Nach den Grundsätzen des parlamentarischen Systems ist jede Minderheitsregierung ein Krisensymptom1

1. Einleitung

Die Wahlen zum Deutschen Bundestag am 24.09.2017 haben erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sechs im Parlament vertretene Fraktionen hervorgebracht. Die Stimmenverteilung zwischen den einzelnen Parteien verhinderte einerseits die Bildung kleiner, „natürlicher“ Koalitionen. Andererseits eröffnete das Wahlergebnis aber auch neue Regierungsmöglichkeiten. So war neben der Fortsetzung der großen Koalition aus Union und SPD auch ein Dreierbündnis aus Union, FDP und Bündnis90/ Die Grünen eine Regierungsoption, welche aus politischen Gründen jedoch nicht zustande kam.

Abseits der bekannten Koalitionsbildungsversuche bestand darüber hinaus die Möglichkeit, auch ohne Mehrheitsregierungskoalition zu regieren. Diese Möglichkeit wird grundsätzlich vom Grundgesetz eingeräumt, spielt aber in der tagespolitischen Debatte bis heute nahezu keine Rolle.2 Die CDU-Chefin und wiedergewählte Kanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer Aussage am Wahlabend, wonach sie Absicht habe „zu einer stabilen Regierung in Deutschland“3 zu kommen, diese Option praktisch von Beginn an ausgeschlossen.

Die Debatte um eine mögliche erste Minderheitsregierung auf bundesdeutscher Ebene soll als Anlass genutzt werden, Minderheitsregierungen aus demokratietheoretischer Perspektive neu zu betrachten und Auswirkungen auf mögliche Demokratiedefizite zu analysieren.

1.1. Begriffserklärungen

Eine Unterscheidung von Mehrheits- und Minderheitsregierungen ist grundsätzlich nur in parlamentarischen Demokratien nötig, da nur hier die Regierung aus dem Parlament gebildet und von diesem auch wieder abberufen werden kann. Damit ist schon das entscheidende Merkmal dieser Grundform des Parlamentarismus genannt.4 Bei Mehrheitsregierungen verfügt die Regierung (unabhängig davon, ob sie aus einer oder mehreren Parteien besteht) über eine Mehrheit der Stimmen im Parlament. Bei Minderheitsregierungen ist genau dies nicht der Fall. Eine weitere Unterscheidung in Quasi-Koalitions-Modelle, sogenannte „formal minority governments“ und Ad-hoc-Koalitions-Modelle5 sowie in ihre verschiedenen Ausprägungen ist möglich und je nach Untersuchungsgegenstand auch nötig. In dieser Arbeit wird eine Ausdifferenzierung unterbleiben, um bei zwei unabhängigen Variablen zu bleiben und am Ende zu klaren Aussagen gelangen zu können. Ein signifikanter Einfluss auf Demokratiedefizite ist nicht zu erwarten.

Die kritischen Demokratietheorien sind eine Ansammlung verschiedener Lehren, welche die gemeinsame Position einnehmen, der Demokratie „schwerwiegende systembedingte, nichtreversible Strukturdefekte“ zu unterstellen.6

1.2. Aufarbeitung des Forschungsstandes

Die Thematik der Minderheitsregierungen ist in der Literatur in vielfältiger Weise bearbeitet worden. In den Standart-Lehrbüchern der Politikwissenschaften finden sich stets Einlassungen zum Thema.7 Darüber hinaus hat insbesondere die englischsprachige Literatur eigene Werke zu Minderheitsregierungen hervorgebracht.8 Der aktuelle Forschungsstand wird, oft anlassbezogen, in neueren auch deutschen Publikationen aufgearbeitet und erweitert.9

Weitgehende Einigkeit herrscht inzwischen darüber, dass Minderheitsregierungen nicht grundsätzlich dem Geist der Demokratie widersprechen und einer Existenz, auch durch das Grundgesetz in Deutschland, nichts im Wege steht. Weiterhin wurden Minderheitsregierungen in anderen demokratischen Staaten10 genauso intensiv bearbeitet wie solche in den deutschen Bundesstaaten11. Darüber hinaus sind auch für die bundesdeutsche Ebene Vor- und Nachteile, Stabilitäts- und Effektivitätsaspekte sowie Chancen, Risiken und Rahmenbedingungen bearbeitet.12

Zumeist beziehen sich die vorliegenden Arbeiten jedoch auf konkrete Beispiele aus der politischen Praxis. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Auswirkungen von Minderheitsregierungen auf theoretische Herausforderungen der Demokratietheorie liegt aus hiesiger Sicht nicht vor. Deshalb scheint es zielführend, eben diese Herausforderungen zu identifizieren, mit den Besonderheiten von Minderheitsregierungen in Verbindung zu bringen und so mögliche Vorteile und Fortschritte bei Demokratiedefiziten zu finden.

1.3. Formulierung von Forschungsfrage und Hypothese

Daraus abgeleitet ergibt sich als Ausgangspunkt der Forschungsfrage dieser Arbeit Überlegungen zur Bildung von Mehrheitsregierungskoalitionen in etablierten parlamentarischen Demokratien und deren Auswirkungen auf die Umsetzung des Wählerwillens in Folge einer Parlamentswahl. Als theoretische Basis dienen die kritischen Demokratietheorien, indem die darin aufgezeigten systembedingten Strukturdefekte von Demokratien13 als abhängige Variablen genutzt werden. Die wesentliche Leistung ist es, beide theoretische Überlegungen zu verbinden und die Fragestellung zu beantworten, wie sich die Art der Regierungsbildung, hier in den Ausprägungen Mehrheits- vs. Minderheitsregierung, auf Strukturdefizite der Demokratie auswirken. Im Ergebnis soll folgende Hypothese verifiziert werden: Mit Minderheitsregierungen in parlamentarischen Demokratien können manche Strukturdefizite in etablierten Demokratien gemindert oder sogar ganz vermeiden werden.

1.4. Organisation der Arbeit und argumentative Vorgehensweise

Abgeleitet aus dem im Modell unter Punkt 2 aufgezeigten Herausforderungen sowie aus den in den kritischen Demokratietheorien aufgezeigten systembedingten Strukturdefiziten von Demokratien ergibt sich folgende Fragestellung: Wie können Minderheitsregierungen die Strukturdefizite in einer parlamentarischen Demokratie lindern? Damit kann erklärt werden, welche Auswirkung die Regierungsart eines Landes (hier operationalisiert in Mehrheits- bzw. Minderheitsregierung) auf die Strukturdefizite von Demokratie (Operationalisierung vgl. Tabelle 3) hat.

Das Ergebnis wird in Tabellenform im Teil 3 der Arbeit veranschaulicht.

2. Überlegungen zur Bildung von Koalitionsregierungen

Tabelle 1 zeigt eine modellhafte Situation nach einer Parlamentswahl in einer etablierten parlamentarischen Demokratie. Vertikal sind drei Parteien (a, b, c), welche eine Mehrheitsregierung bilden möchten, abgetragen. Die Kopfzeile zeigt drei wichtige Wahlkampfthemen (1, 2, 3), in welchen sich die Positionen der designierten Regierungsparteien fundamental unterscheiden. Jeder Partei wird zu jedem Thema eine Position (R-Z) zugeordnet (z.B. mittels Befragung oder abgeleitet aus den Wahlprogrammen)

2.1. Parteipositionen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: modellhafte Darstellung von Parteipositionen zu ausgewählten Sachthemen (eigene Darstellung)

Wenn die drei Parteien nach der Wahl eine Regierungskoalition bilden wollen, müssen sie sich auf ein Regierungsprogramm für die anstehende Legislaturperiode einigen. Ein möglicher Kompromiss für einen Koalitionsvertrag sind die Positionen S, U, Z. Damit hätte jede Partei zumindest einen Teil ihrer Wahlversprechen gehalten.

2.2. Wählerpositionen

Im Folgenden werden drei idealtypische Wähler (α, β, γ) sowie deren Positionen zu den kontroversen Wahlkampfthemen dargestellt.

Positionen des Wählers α: Frage 1: R Frage 2: V Frage 3: X
Positionen des Wählers β: Frage 1: R Frage 2: V Frage 3: Y
Positionen des Wählers γ: Frage 1: T Frage 2: W Frage 3: Y

Daraus wird unmittelbar ersichtlich, dass die Wähler:

a) die Partei gewählt haben, mit welcher sie die größten inhaltlichen Übereinstimmungen haben und
b) sich als „Wahlgewinner“ fühlen dürfen, da ihre Partei an der Regierung beteiligt ist.

2.3. Herausforderungen aus demokratietheoretischer Perspektive

Wenn nun die Koalitionsgespräche tatsächlich einen Kompromiss ergeben, der die Positionen S, U und Z als Leitlinien für das Regierungshandeln in der nächsten Legislaturperiode festschreibt, sehen die Wähler α, β und γ keine ihrer Positionen im Regierungsprogramm umgesetzt sehen. Die Umsetzung des Willens dieser Wähler ist in dem Modell mit einer Koalitionsregierung aus Partei a, b und c damit nicht gegeben.

3. kritische Demokratietheorien

3.1. Allgemeiner Überblick

Die theoretische Basis der Arbeit bilden die kritischen Demokratietheorien (Schmidt 2010: 184-197) und deren Erkenntnisse zur Umsetzung individueller Präferenzen in Kollektiventscheidungen (Offe 1992, 2003). Ergänzt wird dies um Kritikpunkte am Mehrheitsprinzip bzw. der Mehrheitsregel (Anderson 2005) und um Ausführungen über Entscheidungskosten. Im folgenden Abschnitt werden die Strukturdefizite nun kurz erläutert, um sie im vierten Teil der Arbeit wieder aufgreifen zu können und die wesentlichen Unterschiede für Mehrheits- bzw. Minderheitsregierungen herausarbeiten zu können.

3.2. systembedingte Strukturdefizite von etablierten Demokratien

Als ein wesentliches Strukturdefizit von Demokratie identifizieren die kritischen Demokratietheorien die Inkonsistenz von Mehrheitsentscheidungen. Ausgehend von der Beobachtung, dass Mehrheiten selten stabil, nicht auf Dauer angelegt oder gottgegeben sind sondern vielmehr wandernd, zyklisch und verführbar, formulieren Riker und Weale die These von „out-of-equlibrium majorities“. Dem zufolge befinden sich Mehrheitsentscheidungen grundsätzlich in einem Zustand des Ungleichgewichts und variieren schon bei kleinen Veränderungen der Auswahlmöglichkeiten. Ein konsistenter Wählerwille kann demnach nicht unterstellt werden sondern es ist besteht permanent die Gefahr von Manipulation.

Das Problem der Tyrannei der Mehrheit bei Anwendung der Mehrheitsregel ist alt bekannt und erstmals konkret von Alexis de Tocqueville 1835 in seinem Standartwerk „De la democratie en Amérique thematisiert. Hier besteht insbesondere bei auf Dauer angelegten Mehrheitsverhältnissen die Gefahr einer dauerhaften Unterdrückung von Minderheitspositionen. Diese Gefahr ist umso höher, je größer die gesellschaftlichen Spaltungslinien (cleavages) innerhalb der Wählerschaft sind (Lipset/Rokan 1969). Abhilfe schaffen dafür checks and balance, unter anderen durch Einbeziehung nichtmajoritärer Instituionen in den politischen Entscheidungsprozess (z.B. durch Verfassungsgerichte) oder durch horizontale Gewaltenteilung (für die Bundesrepublik Deutschland u.a. in Gestalt des Bundesrates).

Genauso denkbar ist jedoch auch eine Tyrannei der Minderheit. Ein anschauliches Beispiel, wie es in der politischen Praxis zu einem solchen Phänomen kommen kann, gibt Schmidt. (Schmidt 2013 S. 186f.)

Die bis hierher angesprochenen Strukturdefizite lassen sich unter dem Begriff „Loser`s consent“ - Problems subsumieren. Wenn das Wahlsystem, die Auswahlmöglichkeiten oder sogar Manipulationen einen großen Einfluss auf die Regierungsbildung haben und damit womöglich Gewinner zu Verlierern und Verlierer zu Gewinnern werden lässt, stellt sich zwangsläufig die Frage nach einer ausreichenden Legitimation. Die Umsetzung individueller Präferenzen in Kollektiventscheidungen wird durch geringe Änderungen der Verfahrensabläufe beeinflusst und kann somit zu einer die Akzeptanz der Wahl durch den Wahlverlierer gefährden. Auch ein durch tiefe cleavages vorbestimmtes Wahlergebnis wird die Akzeptanz des Verlierers negativ beeinflussen und am Ende an der Legitimation des demokratischen Prozesses zweifeln lassen.

[...]


1 Beyme 1970 S. 570

2 Zu den Gründen vgl. Niclauß 2017 S. 211

3 https://www.tagesschau.de/inland/optionen-nach-jamaika-sondierungen-101.html

4 Klecha 2010 S. 14

5 Strohmeier 2009 S. 275

6 Schmidt 2010 S. 184

7 u.a.

8 u.a. Strøm 1983 und 2001 sowie Hazell/Paun 2002

9 u.a. Bollmeyer 2001, Strohmeier 2009 oder Niclauß 2017

10 Preker/Haas … am Beispiel Dänemarks oder Pehle … an den Beispiel Finnland und Schweden. Einen Kurzüberblick gibt u.a. Niclauß 2017 S. 212 f.

11 u.a. Klecha 2010 oder Rentsch/Schieren …am Beispiel Sachsen-Anhalts

12 u.a. Strohmeier 2009. Einen guten allgemeinen Überblick über Vorteile einer Minderheitsregierung gibt auch Niclauß 2017 S. 213-215

13 Schmidt 2010: S. 184

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Minderheitsregierungen in parlamentarischen Demokratien
Untertitel
Eine Antwort auf kritische Demokratietheorien?
Hochschule
FernUniversität Hagen
Veranstaltung
Demokratie und Governance
Note
3,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
21
Katalognummer
V459473
ISBN (eBook)
9783668901278
ISBN (Buch)
9783668901285
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Minderheitsregierung, parlamentarische Demokratie, Demokratietheorie, Demokratiedefizit
Arbeit zitieren
Patrick Simmel (Autor:in), 2018, Minderheitsregierungen in parlamentarischen Demokratien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/459473

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