Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten. Welche Risikofaktoren beeinflussen die Entstehung von Verhaltensmustern?


Fachbuch, 2019

96 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten – Grundlagen und deren Problematiken
2.1 Begriffsbestimmungen
2.2 Rechtliche Grundlagen
2.3 Statistische Daten

3 Risikofaktoren und Entstehungsbedingungen
3.1 Individuelle Faktoren
3.2 Exkurs: Sexuell auffälliges Verhalten – Ein Risikofaktor für sexuell grenzverletzendes Verhalten?
3.3 Familiäre Faktoren
3.4 Gesellschaftlicher und sozialer Kontext

4 Entstehungsmodelle
4.1 Theorie des sozialen Lernens
4.2 Bindungstheorie
4.3 Vier-Faktoren Modell nach Finkelohr

5 Vom Opfer zum Täter?

6 Exkurs: Geschwisterinzest

7 Täterprofil
7.1 Charakteristika
7.2 Täterstrategien und Tatmuster

8 Fazit

9 Ausblick – Kritische Bewertung der Versorgungspfade und Perspektiven zum Forschungsbedarf

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: TV nach Altersgruppen – Sexueller Missbrauch von Kindern (N=9.087)

Abb. 2: TBVZ (männl.) nach Altersgruppen – Sexueller Missbrauch von Kindern

Abb. 3: TVBZ (männl.) nach Altersgruppen – Zeitreihen 1988-2007 – Sexueller Missbrauch von Kindern

Abb. 4: Der Kriminalitätsrichter

Abb. 5: Deliktkreislauf

Abb. 6: Modell der sexuellen Delinquenzentwicklung im Jugendalter

1 Einleitung

„Was sind das für Jungen? Warum machen die so etwas? Und das schon in dem Alter?“ – All dies sind Fragen, welche mir aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit häufig gestellt werden. Seit ca. zwei Jahren bin ich in einer spezialisierten Wohngruppe für Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten tätig. Auch ich habe mich viel mit diesen Fragestellungen beschäftigt und zunehmend gemerkt, dass eine einfache Beantwortung dessen nicht möglich ist.

Die mir bekannten Fälle haben über Jahre hinweg ihre jüngere Schwester bzw. ihren jüngeren Bruder oder andere Familienmitglieder sexuell missbraucht, in Form von analer oder vaginaler Penetration, Mitschüler unter Anwendung von Gewalt und Drohungen auf der Schultoilette zum Oralverkehr gezwungen oder sie waren im Rahmen stationärer Jugendhilfeeinrichtungen gegenüber Mitbewohnern sexuell übergriffig, indem sie die Genitalien des Betroffenen angefasst haben, bis hin zur Ausübung einer Penetration mit dem Penis – um an dieser Stelle nur einige Beispiele zu nennen.

„Wenn unser Altbundeskanzler Schröder vor einigen Jahren bezogen auf Sexualstraftäter das viel zitierte Wort „Einsperren und Schlüssel wegwerfen“ im Wahlkampf zum Besten gab, entspricht dies weit geteilten Ansichten über Sexualstraftäter“ (Günter 2005, S. 62). Meiner Ansicht nach richtet sich der Blick seitens der Gesellschaft auf solche Jungen zu sehr auf die Täterrolle, dass hinter einer sexuellen Grenzverletzung äußerst prägende Opfererfahrungen stehen wird ausgeblendet.

Wie jeder andere Mensch sind auch solche Jungen durch ihre Lebensgeschichte geprägt. Dieser Umstand ist nicht nur als Tatsache anzuerkennen, sondern auch für die gesamte Arbeit fachlich relevant. Die Ursachen und Auslöser für das sexuell grenzverletzende Verhalten der Jungen finden sich in den teils hoch belasteten Lebensverläufen (vgl. Scholten/ Lachnit 2008, S. 5). Geprägt durch Missbrauchserfahrungen und emotionale Vernachlässigung seitens der Bezugspersonen ließen diese Biografien kaum Raum für das Erleben von Wertschätzung, Zuwendung und positiv geprägten Bindungen.

Jedoch besteht die Arbeit nicht aus der Suche nach Entschuldigungen für die Tat, sondern aus der Suche nach Erklärungen für die Verhaltensmuster, die zur Tat geführt haben.

Um die Ausübung der sexuellen Gewalt „verstehen“ zu können, bedarf es einer differenzierten Betrachtung der Vielzahl von Faktoren, welche die Jungen darin bestärkt haben, sexuell grenzverletzend zu agieren. In Anlehnung an Kettritz (2014, S. 226) handelt es sich, meiner Meinung nach, bei sexuell übergriffigen Jungen ausnahmslos um „grenzverletzende Menschen mit verletzten Grenzen“. Jedes Kind und jeder Jugendliche, der sexuell grenzverletzend agiert, hat zuvor selbst erlebt wie die eigenen Grenzen verletzt wurden und dies nicht zwingend auf sexueller Ebene, sondern oftmals auf emotionaler Ebene. Solche Jungen sind keinesfalls als „schlechte Menschen“ geboren, sondern weisen „Biografien eigener Entbehrlichkeit und Opfererfahrungen unterschiedlicher Art“ (Kettritz/ Waschlewski 2012, S.4) auf.

„Tritt eine sexuelle Grenzverletzung auf, so schreckt das Umfeld meist panikartig auf und lässt die Kirchenglocken Alarm läuten, während andere äußerst gravierende Störungen des Erlebens und Verhaltens häufig jahrelang nur mit einem leichten Bimmeln begleitet werden“ (Deegener 2010a, S. 172f.). Dementsprechend entsteht im Hinblick auf die Entstehung von sexuell grenzverletzendem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen eine zu starke Fixierung auf das „Sexuelle“, die oftmals dahinter stehenden tiefgreifenden Bindungsstörungen erfahren kaum Beachtung (vgl. ebd.). Aufgrund meiner Berufserfahrungen vermag ich zu behaupten, dass jeder sexuell grenzverletzende Junge negative Bindungserfahrungen gemacht hat, weshalb ich im Rahmen der Vorstellung verschiedener Entstehungsmodelle bewusst den Fokus auf die Bindungstheorie gesetzt habe.

Um einen Einstieg in die Komplexität der Thematik zu finden, erläutere ich zunächst fachliche und rechtliche Grundlagen, sowie statistische Daten zur Täterschaft. Daraufhin werde ich bestimmte Risikofaktoren und Entstehungsbedingungen auf verschiedenen Ebenen erläutern, dies entspricht dem Hauptteil meiner Arbeit. Des Weiteren stelle ich neben der Charakteristik von Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten, deren Täterstrategien und Tatmuster dar. Abschließend werde ich in einem Ausblick kurz den Forschungsbedarf und die Versorgungspfade kritisch beleuchten, sowie weitere Fragen in Bezug auf die Entstehung von sexuellen Grenzverletzungen offen stehen lassen.

Mein ursprüngliches Konzept besteht darin, einen Fragebogen zur Erhebung von statistischen Daten zur Täterschaften von Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten durchzuführen (siehe Anhang). Diesen wollte ich innerhalb der stationären Jugendhilfeeinrichtung, in der ich tätig bin und welche in mehreren spezialisierten Wohngruppen Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten betreut, durchführen. Hierbei sollte es sich um eine quantitative Forschung handeln, im Rahmen derer ich rund 30 Klienten erfasst hätte.

Aufgrund von mehreren ungünstigen Umständen, war es mir leider nicht möglich, mein geplantes Vorhaben umzusetzen. Obwohl der Fragebogen anonym erfolgt und bestimmte Angaben lediglich durch ein Ankreuzen bejaht bzw. verneint werden, war es seitens der Geschäftsleitung verpflichtend, zuvor von jedem Klienten eine schriftliche Schweigepflichtsentbindung einzuholen. Aufgrund der implizierten Befragung der pädagogischen Mitarbeiter hätte ich mein Vorhaben zunächst an die Mitarbeitervertretung der Einrichtung weiterleiten müssen.1 All dies sind äußert langwierige Prozesse, welche nach einer ausführlichen Besprechung meines Fragebogens mit der Bereichsleitung zeitlich nicht mehr umsetzbar waren. Aufgrund meiner Berufserfahrungen vermag ich zu behaupten, dass das Erhalten einer schriftlichen Schweigepflichtsentbindung, insbesondere bei den teilweise „unzuverlässigen“ Eltern in der Jugendhilfe sich schwierig und vor allem langwierig gestaltet.

Bei den im Folgenden beschriebenen Merkmalen und Hintergründen handelt es sich nicht um eine Etikettierung im Sinne einer generalisierenden, dauerhaften Zuschreibung, sondern um einen Versuch, sich der inneren und äußeren Situation dieser Jungen anzunähern. Zudem erhebt die Arbeit nicht den Anspruch, einen Überblick über sämtliche Gründe jugendlicher Delinquenz zu geben.

2 Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten – Grundlagen und deren Problematiken

Bevor der Blick gezielt auf die Hintergründe sexuell grenzverletzendes Verhalten gerichtet wird, bedarf es einiger grundlegender Informationen zum Klientel. Im Folgenden soll eine begriffliche Basis geschaffen, sowie Informationen zu rechtlichen Grundlagen und statistischen Daten zur Täterschaft dargestellt werden, um dem Leser2 eine erste Vorstellung über die Thematik zu verschaffen.

Im Rahmen der Arbeit konzentriere ich mich ausschließlich auf Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten. Dieser Schwerpunkt soll keineswegs implizieren, dass es nicht auch Mädchen mit solchen Verhaltensweisen gibt. Aufgrund des steigenden Problembewusstseins werden auch solche Fälle bekannt. Jedoch bleibt ihr Anteil weit unter dem der Jungen.3

Weiter differenziert die vorliegende Arbeit nicht zwischen den üblichen Alterseinteilungen, sondern schließt in die Bezeichnung „Jungen“ sowohl Kinder (unter 14 Jahren), als auch Jugendliche (14 bis 18 Jahren) ein. Die Gruppe der unter 14-Jährigen wird häufig übersehen und ihr Anteil deutlich unterschätzt, aufgrund dessen möchte ich sie nicht unbeachtet lassen. Aus der ausgelassenen Trennung ergibt sich ebenfalls, dass nicht differenziert wird, ob die Jungen durch sexuell grenzverletzendes Verhalten „nur aufgefallen“ sind oder, ob sie bereits aufgrund ihres Alters strafrechtlich verfolgt werden. Dies impliziert meine Auffassung, dass bereits bei kindlichen Handlungen strafrechtliche Verhaltensweisen gegeben sein können (siehe Kapitel 2.2).4 Zudem wird in der Fachliteratur häufig eine Ausklammerung der Altersgrenzen vorgenommen. Dennoch können sexuelle Verhaltensweisen und sexuelles Erleben in Abhängigkeit vom Alter und dem individuellen Entwicklungsstand stark variieren (vgl. König 2012, S. 77). Aus diesem Grund bemühe ich mich im Kontext der Entstehung von sexuell grenzverletzenden Verhalten die Trennung der Altersgruppen nicht zu vernachlässigen.

Des Weiteren ist bewusst die Rede von „Jungen mit sexuell grenzverletzenden Verhalten“. Zum einen betont die Wortkombination „sexuell grenzverletzend“ im Gegensatz zu den oftmals in der Fachliteratur synonym verwendeten Bezeichnungen „sexuell übergriffig“, „sexuell auffällig“, „sexuell aggressiv“ oder „sexuell abweichend“ die Überschreitung der persönlichen Grenzen des Anderen und veranschaulicht das problematische Verhalten am ehesten (vgl. Allroggen 2015, S. 384).

Zum anderen spreche ich nicht von „sexuell grenzverletzenden Jungen“, sondern von „Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten“. Diese Formulierung verdeutlicht die Haltung, dass die Jungen über weitere zahlreiche Ressourcen und Eigenschaften verfügen und es sich hierbei nicht um ein festgeschriebenes „Etikett“ handelt, auf welches sie reduziert werden können (vgl. Deegener 2010b, S. 59). Ich vertrete die Auffassung, dass es sich hierbei nicht um ein persönliches Merkmal handelt, sondern vielmehr um Jungen, die sich situativ so verhalten haben. Laut Bange (2002, S. 48) ist es wichtig, die verwendeten Begriffe sorgfältig auszuwählen und die dahinterliegenden theoretischen Annahmen transparent zu machen.

Angelehnt an diese Haltung stehe ich den Bezeichnungen „Sexual(straf)täter“, „Täter“ sowie „Opfer“ kritisch gegenüber. Nach Freund/ Riedel-Breidenstein (2014, S. 66) heizen solche Ausdrucksweisen die Atmosphäre unangemessen auf, erschweren folglich einen pädagogischen Umgang und können zu Stigmatisierungen führen. Da Begrifflichkeiten wie „Jungen, die sexuell grenzverletzend agiert haben“ bzw. „sexuell grenzverletzendes Verhalten“ nicht gut handhabbar sind und kaum in der Fachliteratur zu finden sind, muss ich auf die bereits genannten Begrifflichkeiten zurückgreifen. Im Sinne einer sprachlichen Verkürzung halte ich dies für angemessen und vertretbar. Zudem gibt es viele festgeschriebene Begriffe, wie „Täterprofil“ und „Täterstrategien“ sowie Definitionen im juristischen Kontext oder andere konkrete Inhalte in der Fachliteratur, welche als Zitat übernommen werden. Anstatt des Begriffs „Opfer“ wird auch von „Betroffenen“ gesprochen. Dies impliziert keinesfalls die Absicht einer Verharmlosung der Handlungen. Weiter anknüpfend an den in der Fachliteratur benutzten Sprachgebrauch verwende ich alternativ zur „sexuellen Grenzverletzung“ Begrifflichkeiten, wie „sexuelle Gewalt“ und „sexuellen Übergriff“, trotz des Wissens, damit nicht allen Situationen gerecht werden zu können.

2.1 Begriffsbestimmungen

Die Schwierigkeit bei der Klärung des Problemverhaltens beginnt bereits mit der Definition. In der Fachliteratur lassen sich eine Vielzahl von Begrifflichkeiten finden, welche synonym verwendet werden, ohne sich der jeweiligen Bedeutung bewusst zu sein (vgl. Kohlhofer/ Neu/ Sprenger 2008, S. 29). Dies kann bei der Interpretation von Daten und Fakten, wie ich sie im Kapitel 2.3 vorstellen möchte, zu erheblichen Missverständnissen und Fehinterpretationen führen (vgl. Bange 2011, S. 12). Jede Gruppe von Professionellen hat ihren Standpunkt, eigene oft institutionell bedingte Interessen bei der Betrachtung und Bewertung von sexuellen Handlungen. Dies schlägt sich auch in der Art der Definition nieder, die bei der Lösung der bereichsspezifischen Aufgaben und Probleme verwendet wird (vgl. Julius & Boehme 1997, S. 15). Um die in den folgenden Kapiteln aufgezeigten Erkenntnisse einordnen zu können, ist es wichtig, der Frage „Was ist sexuell grenzverletzendes Verhalten und ab wann ist davon bei Jungen die Rede?“ genauer nachzugehen.

Zunächst beziehe ich mich auf eine weit verbreitete Definition nach Bange (2011, S. 14; Gründer/ Stemmer-Lück 2013, S. 15; Hartwig/ Hensen 2008, S. 20; Bründel 2011, S. 26f.; Deegener 2010b, S. 22):

„Sexueller Missbrauch ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen seinen Willen vorgenommen wird oder das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“

Viele Wissenschaftler verwenden das Konzept der „wissentlichen Einverständnis“ als Definitionsgrundlage, welches gleichzeitig von vielen kritisiert wird. Kindern fehlen aufgrund ihres Entwicklungsstandes die kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, die gesamte Tragweite sexuellen Handlungen zu überblicken und zu verstehen. Häufig sind sie emotional abhängig und können sich dementsprechend nicht selbstbehauptend zur Wehr setzen. Zu den Merkmalen „Zustimmung“ und „entgegen dem Willen“ ist Folgendes anzumerken: Selbst, wenn die Betroffenen aus Sicht des Täters zugestimmt oder selbst daran Spaß gehabt haben, haben sie meistens keine andere Chance. Eine Zustimmung entspricht einer Unterwerfung oder Anpassung an die Wünsche des Täters und ist eine unbewusste Abwehrstrategie (vgl. Gründer/ Stemmer-Lück 2013, S. 16). Aussage der Betroffenen, dass sie „es“ auch gewollt hätten, ist eine wichtige Strategie, um die Situation auszuhalten. Sie versuchen so ihre eigene Machtlosigkeit und das sie verletzende Verhalten des Täters umzudeuten (vgl. Bange 2011, S. 12f.).

Weiter ist zu unterscheiden, ob es sich um eine primär sexuell motivierte Bedürfnisbefriedigung oder um das Bedürfnis nach Ausübung von Macht und die Sucht nach Anerkennung handelt (vgl. Bründel 2011, S. 28; Allroggen/ Rau/ Spröber/ Fegert 2012, S. 19). Somit ist nach Wipplinger und Amann (zit. in Bründel 2011, S. 28) ein wesentliches Kriterium die Form der Beziehung zwischen dem Täter und dem Opfer und speziell das Machtgefälle zwischen ihnen. Freund (zit. in Manske-Herlyn 2012, S. 13) ergänzt, dass durch Versprechungen, Anerkennung, Drohungen oder körperlicher Gewalt Druck ausgeübt wird. Der Täter zwingt das Opfer zur Geheimhaltung der sexuellen Handlungen mit unterschiedlichen Strategien. Oftmals ist das Opfer in einer Abhängigkeitsbeziehung und erlebt sich von daher als ohnmächtig (vgl. Gründer/ Stemmer-Lück 2013, S. 16f.).

Die Anwendung von Gewalt und Zwang wird in der Fachliteratur häufig als Definitionskriterium diskutiert. Diesem Kriterium stehe ich kritisch gegenüber, denn viele sexuelle Grenzverletzungen geschehen durch Überredung, gezielte Fehlinformationen über das, was „normal“ ist, und sehr häufig auch unter dem Deckmantel von Zärtlichkeiten (vgl. Bründel 2011, S. 27). Bange (2007, S. 24) behauptet, dass „fast alle Kinder unterscheiden können, wann zärtliche Berührungen enden und sexuelle Übergriffe anfangen.“ Meiner Ansicht nach, können insbesondere Kinder aufgrund der eben genannten Entwicklungsbeeinträchtigungen die oftmals fließende Grenze zwischen sexuellen Übergriffen und Zärtlichkeiten nicht wahrnehmen. An dieser Stelle vermag ich auf meine Erfahrungen aus meinem Berufsalltag zurückgreifen. Insbesondere Kinder und Jugendliche werden oftmals innerhalb des Familiensystems, gegenüber ihren Geschwistern sexuell übergriffig. Innerhalb solcher meist intensiven Beziehungen kommt es selten zur Ausübung von Gewalt und Zwang. Im Rahmen der Wohngruppe, in welcher ich tätig bin, waren vier von sieben Jugendlichen gegenüber ihren Geschwistern sexuell übergriffig ohne dabei Gewalt- oder Zwangshandlungen auszuüben.

Ein weiters gängiges Kriterium ist die „Abhängigkeit von Folgen“. Dies meint die Tatsache, dass der Betroffene geschädigt ist (vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S. 19). In Anlehnung an Bange (zit. in ebd.) widerspreche ich dieser begrifflichen Bestimmung. Nicht jede sexuelle Grenzverletzung ist traumatisierend und die Verarbeitung dessen ist individuell bedingt. Zudem sind Verhaltensauffälligkeiten nicht bei allen Betroffenen die direkte Folge. Teilweise entwickeln sich Schädigungen erst im Laufe der Jahre. Auch gibt es kein „Verhaltenssyndrom“, wie Fegert (zit. in Bründel 2011, S. 28) zusammenfasst. Im Zuge dessen möchte ich die „mangelnde Einfühlung des Täters“ (vgl. Wipplinger/ Amann 2005, S. 24) als wichtigen Faktor betonen, worauf ich im Kapitel 3.1 näher eingehen werde.

Neben der Nennung verschiedener Kriterien, ist die große Bandbreite von sexuellen Handlungen zu beachten. Hierzu wird in der Fachliteratur sexuelle Gewalt durch zahlreiche unterschiedliche Systeme kategorisiert (vgl. Bange 2011, S.12). Einer der gängigsten Modelle ist die grobe Unterscheidung nach „weiten“ und „engen“ Definitionen (vgl. ebd.). Je weiter die Definition, desto mehr unterschiedliche Phänomene sexueller Handlungen umfasst sie (vgl. Heyden/ Jarosch 2010, S. 14). Enge Definitionen schließen lediglich „bereits als schädlich identifizierte bzw. nach allgemeinem Verständnis als solche bewerteten Handlungen“ mit ein (Wipplinger/ Amann zit. in Bange 2011, S. 12). Der weite Missbrauchsbegriff versucht „sämtliche als potenziell schädlich angesehene Handlungen“ (ebd.) bzw. „jede unerwünschte, gewaltsame geschlechtliche Handlung“ (Hartwig/ Hensen 2008, S.17) zu erfassen. Dies impliziert sämtliche sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt (vgl. ebd.). Bange und Deegener “ (zit. in ebd., S. 19) sprechen von sexuellen Übergriffen „durch Blicke und Worte“. Im Gegensatz zum engen Verständnis ist es hier das Anliegen, den gesamten Umfang der sexuellen Gewalt zu beschreiben (vgl. Wipplinger/ Amann 2005, S. 27) und somit auch die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen einzubeziehen (vgl. Roth 2013, S. 84). Jedoch sind solche Definitionen unscharf bezüglich spezifischer Missbrauchsformen und Verhaltensweisen und lassen somit einen großen Spielraum für Interpretationen. Im Rahmen empirischer Studien werden sie häufig verwendet und liefern folglich oftmals sehr hohe Prävalenzraten, welche wenig aussagekräftig sind (vgl. Heyden/ Jarosch 2010, S. 14).

In Anlehnung dessen ist häufig die Rede von sexuellen Handlungen mit direktem Körperkontakt - „Hands-on“ sowie ohne direktem Körperkontakt - „Hands-off“ (vgl. Jud 2015, S. 44; Kohlhofer/ Neu/ Sprenger 2008, S.30; Schmidt 2015, S. 2):

„Hands-on“:

- Versuchte oder vollendete vaginale oder anale Penetration mit dem Penis, Fingern oder Gegenständen
- Kontakte zwischen Mund und Genitalien oder Anus
- Absichtliche Berührungen der Genitalien, Leistengegend, inneren Oberschenkel, Brüste oder des Anus, sowie das Verlangen der Täter an diesen Stellen berührt zu werden
- Frotteurismus5

„Hands-off“:

- Aussetzung des Betroffenen gegenüber sexuellen Aktivitäten, z.B. Pornografie oder Exhibitionismus6
- Film- oder Fotoaufnahmen, die den Betroffenen auf eine sexualisierte Art darstellen
- Verbale sexuelle Belästigung
- Voyeurismus7
- Sexualisierte Übergriffe in sozialen Netzwerken
- Stalking

An diesen Kategorisierungen anknüpfend, unterteilen einige Wissenschaftler zusätzlich diese Handlungen nach vier Intensitätsgraden (vgl. Gründer/ Stemmer-Lück 2013, S. 15f.; Engfer 2016, S. 14):

1. Leicht: siehe „Hands-off“
2. Wenig intensiv: Versuch Genitalien anzufassen, sexualisierte Küsse
3. Intensiver: Berühren oder Vorzeigen der Genitalien, Opfer muss vor dem Täter masturbieren oder der Täter masturbiert vor dem Opfer, Täter lässt sich von dem Opfer masturbieren oder masturbiert das Opfer
4. Intensivste Form: Versuchte oder vollzogene orale, anale oder vaginale Penetration

Dieser Betrachtungsweise von Intensität folgt hauptsächlich einer juristischen, äußeren Logik (vgl. Freund/ Riedel-Breidenstein 2014, S. 79), von welcher ich mich abgrenzen möchte. Solche Handlungen müssen zusätzlich von ihrer Wirkung auf die Betroffenen her betrachtet werden. Ebenfalls spielen die inneren Zusammenhänge des Jungen, welcher sexuell grenzverletzend agiert hat, eine wichtige Rolle. So kann die Intention, die ihn beispielsweise zu exhibitionistischem Verhalten veranlasst, ggf. schwerwiegender sein als die bei sexuellen Berührungen (vgl. ebd., S. 80).

Abschließend möchte ich anmerken, dass bei minderjährigen Tätern eine genaue und sichere Abgrenzung von kindlichen sexuellen Aktivitäten, im Sinne des „Experimentieren“, von Nöten ist (siehe Kapitel 3.2). Wenn die Grenzen verwischen, sind typische Verzerrungen das Ergebnis. Es kommt zur Verharmlosung des Vorfalls oder zu Dramatisierungen in der Einschätzung der Situation, mit den daraus resultierenden Konsequenzen (vgl. Freund/ Riedel-Breidenstein 2014, S.57f.). Zudem besteht vor allem unter gleichaltrigen Jugendlichen ein fließender Übergang zwischen freiwilligen und unfreiwilligen sexuellen Handlungen. Auch dies bringt einerseits die Gefahr, sexuelle Übergriffe zu bagatellisieren, andererseits aber auch eine Tendenz, eine Einteilung der Beteiligten in Täter und Oper zu erzwingen und somit einvernehmliche Handlungen als Übergriffe zu werten (vgl. Allroggen 2015, S. 384). Auch eine Unterscheidung zwischen sexuellen Übergriffen durch Minderjährige und durch Erwachsene ist unabdingbar, um einen klaren Blick auf die Beteiligten und deren Rollen zu gewinnen (vgl. Freund/ Riedel-Breidenstein 2014, S.57 f).

Offensichtlich ist ein einziges Definitionskriterium nicht ausreichend, um den komplexen Zusammenhang sexueller Gewalt zu erfassen. Insbesondere sexuelle Grenzverletzungen seitens Jungen beinhalten zu viele Facetten und Erscheinungsformen, um sie in einer Begriffsbestimmung festzulegen (vgl. Hartwig/ Hensen 2008, S. 20). Julius & Boehme (1997, S.15) sprechen hier vom „Mythos einer gemeinsamen Definition“. Es wird vermutlich immer Grenzfälle geben, die für Kontroversen sorgen (vgl. Bange 2007, S. 24).

Im Rahmen dieser Arbeit wird sexuelle Grenzverletzung im Sinne eines „weiten“ Verständnisses definiert. Dadurch sollen sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt nicht unbeachtet bleiben und diese sollen hinsichtlich ihrer „Intensität“ nicht von den sogenannten „Hands-on“-Delikten abgegrenzt werden. Stattdessen möchte ich den Blick auf die dahinterliegende Intention des agierenden Jungen richten. Die Bezeichnungen beinhalten somit lediglich deskriptiven Charakter.

2.2 Rechtliche Grundlagen

Auch wenn ich, wie bereits erwähnt, den juristischen Merkmalen kritisch gegenüberstehe, möchte ich sie nicht unbeachtet lassen, da auch im Rahmen der rechtlichen Grundlagen und der ggf. davon abhängigen Versorgungspfade Forschungsbedarf besteht.

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung werden im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches definiert (vgl. §§ 174-184 StGB). Sie sind höchst verschieden und reichen angefangen von den schwersten Delikten, der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung über den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen hin zur Verbreitung von Pornografie, sowie zu exhibitionistischen Handlungen und zur Erregung öffentlichen Ärgernisses (vgl. Ostendorf 2010, S. 84). Im Rahmen der Debatte um Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten sind vor allem zwei Paragrafen relevant: Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176) und sexuelle Nötigung, Vergewaltigung (§ 177). Ein sexueller Missbrauch von Kindern definiert jede sexuelle Handlung mit einem Kind (unter 14 Jahren). Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung liegt vor, wenn sexuelle Handlungen an einer anderen Person, unabhängig vom Alter, mit Gewalt, durch Drohung oder unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage vorgenommen werden (vgl. Kohlhofer/ Neu/ Sprenger 2008, S. 26f.).

Es ist bekannt, dass Kinder bis 14 Jahren nicht strafmündig sind und dies gilt ausnahmslos (vgl. Ostendorf 2010, S. 84). Jugendlichen (ab 14 Jahren) wird abverlangt, einschätzen zu können, ob ihr konkretes Verhalten rechtlich verboten ist. Bei Delikten, wie Diebstahl wird dies unterstellt, da Jugendliche in der Regel ein Unrechtsbewusstsein in dieser Hinsicht haben. Anders sieht dies bei Sexualstraftaten aus, da diese Tat Bezug zu Entwicklungsproblemen hat. Hier wird bei Jugendlichen im Einzelfall deren Verantwortungsreife geprüft. Nur wenn dies bejaht werden kann, kann der Jugendliche strafrechtlich belangt werden (vgl. Burgsmüller 2015, S. 392).

„Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“ (§ 3 JGG).

An dieser Stelle möchte ich zwei Überlegungen äußern, welche ich bewusst provokant formuliert habe. Offensichtlich berücksichtigt der Gesetzgeber bei Sexualstraftaten bei Kindern über 14 Jahren neben dem Alter, auch die individuelle Entwicklung, aber hingegen dessen bei Kindern unter 14 Jahren wird lediglich das Alter berücksichtigt. Frühreife Täter werden somit unbeachtet gelassen (vgl. Ostendorf 2010, S. 84). Demnach hat beispielsweise ein 13-jähriger Junge, welcher ein Mädchen mehrmals unter Gewalteinfluss anal mit seinem Penis penetriert keinerlei strafrechtlichen Konsequenzen zu befürchten. Allein bei dem Gedanken an solche, nicht unrealistische und vor allem nicht seltene (siehe Kapitel 2.3) Vorfälle kommt alles andere als ein Verständnis für die Rechtsgrundlage auf. Natürlich können solche Fälle im Rahmen des Familiengerichts belangt werden, aber mir geht es um die fragliche Legitimierung dieser strafrechtlichen Altersbegrenzung unter zusätzlicher Prüfung der nötigen Verantwortungsreife. Laut Ostendorf (2010, S. 91) bleibt es, dass formale Schutzaltersgrenzen sich zu Strafbarkeitsfällen entwickeln können. Zudem impliziert der Übergang aus der kindlichen Strafunmündigkeit in die jugendliche Strafverantwortung hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern ebenfalls ein naturgemäßes Problem: „Was mit 13 Jahren noch erlaubt war, ist ab dem 14. Geburtstag verboten“ (Ostendorf 2010, S. 91).

Weiter möchte ich auf die oben genannte exemplarische Unterscheidung zum Diebstahl, dass Jugendliche dahingehend „in der Regel ein Unrechtsbewusstsein haben“, zurückkommen. Meint dies im Umkehrschluss, dass Jugendliche in der Regel hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs an Kindern kein Unrechtsbewusstsein haben; dass Jungen beispielsweise das Klauen in einem Supermarkt als rechtlich verboten einschätzen können und gleichzeitig das beispielsweise Masturbieren und oral Befriedigen lassen von einem Kind unter Gewaltdrohungen nicht als rechtlich verboten einschätzen können? Abgesehen von dieser Veranschaulichung - Ist das „Unrechtsbewusstsein“ in diesem Sinne auf gesellschaftlicher Ebene zu verstehen? Könnte die Ursache in der immer noch anhaltenden Tabuisierung sexueller Gewalt liegen? Folglich müsse dieser entgegengewirkt werden, sodass die Jugendlichen auch hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs an Kindern ein gesteigertes Unrechtsbewusstsein entwickeln (siehe Kapitel 3.4).

Des Weiteren wird nicht jeder sexueller Übergriff den Strafverfolgungsbehörden gemeldet. Etliche Sachverhalte werden aus unterschiedlichen Gründen nicht angezeigt (vgl. Stahlmann-Liebelt 2012, S. 157) (vgl. Kap. 2.3). Vor allem bei sexuellen Übergriffen innerhalb eines Familiensystems, unter Geschwistern, kommt es selten zur Anzeige, wie ich durch meine Berufserfahrungen bestätigen kann. Über die Hälfte meiner Klienten waren gegenüber einem Geschwisterkind sexuell übergriffig und wurden nicht seitens der Schwester/ des Bruders bzw. seitens des erziehungsberechtigten Elternteils angezeigt.

Abgesehen von dem ersten, wohl schwierigsten Schritt, die sexuellen Erfahrungen als Grenzverletzungen wahrzunehmen und diese jemandem anzuvertrauen, sowie dies zur Anzeige zu bringen, sind die Opfer oft noch nicht in der Lage, sich vor Gericht zu öffnen bzw. das Geschehen so zu schildern, dass eine Bestrafung möglich wäre (vgl. Kliemann, 2015, S. 128). Insbesondere bei Kindern gestaltet sich die Beurteilung der Glaubhaftigkeit derer Aussagen schwierig (vgl. Vögele 2005, S. 80ff.).

Es sieht so aus, als ob in unserer Gesellschaft sexueller Gewalt weniger Bedeutung beigemessen wird als anderen Gesetzesübertretungen. Dies ist im Hinblick auf die gesellschaftliche Ächtung der Täter und die Aggression, die ihnen nach Bekanntwerden der Tat entgegenschlägt, paradox (vgl. Heyden/ Jarosch 2010, S. 10).

Zudem ist es im Verfahren wegen Sexualdelikten erforderlich, sich ein möglichst lückenloses, umfassendes Bild von der Persönlichkeit des Beschuldigten und der Art der Übergriffe zu verschaffen. Nur dann können Maßnahmen getroffen werden, die der Person des Beschuldigten gerecht werden, eine Rückfälligkeit verhindern und damit dem Opferschutz dienen (vgl. Stahlmann-Liebelt 2012, S. 166).

Jedoch besteht bei jugendlichen Sexualstraftätern bislang neben der möglichen Freiheitsstrafe keine Pflicht zur Therapieteilnahme. Im Erwachsenenstrafrecht sind Sexualstraftäter, die zu mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, zur Teilnahme an einer täterspezifischen Therapie verpflichtet (vgl. Nowara/ Pierschke 2005, S. 9). Warum hat der Gesetzgeber die Gruppe der Jugendlichen ausgeklammert, obwohl gerade hier entscheidende Weichen gestellt werden? Meiner Ansicht nach, ist insbesondere bei Kindern und Jugendlichen eine Therapie unabdingbar und mehr als angebracht, vor allem im Hinblick auf den Opferschutz. Wie soll ein Kind bzw. Jugendlicher sonst sein Fehlverhalten angemessen reflektieren? Zudem befinden sich Kinder und Jugendliche in einem Entwicklungsprozess, was meiner Meinung nach auf höhere Erfolgsaussichten im Vergleich zu erwachsenen Tätern schließen könnte. Warum wird nicht generell eine Therapiepflicht für alle Sexualstraftäter, unabhängig vom Alter und dem Ausmaß der Tat ausgesprochen, wenn doch das Ziel der Gesellschaft im Sinne des Opferschutzes eine effektive Minimierung des Rückfallrisikos ist?

Des Weiteren liegen für die oft notwendigen freiheitsentziehenden Maßnahmen die harten Kriterien des PsychKG (unmittelbare Eigen- und Fremdgefährdung) nicht in jedem Fall eindeutig vor. Die einerseits damit verbundenen bürokratischen Hürdenläufe und die andererseits daraus resultierende therapeutische Ohnmacht erschweren die Umsetzung (vgl. Häßler/ Schläfke 2005, S. 158f.).

Zudem ist die Eigenmotivation von Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten, an sich zu arbeiten, äußerst gering. Durch strafrechtliche Maßnahmen wird bei Jugendlichen eine extrinsische Motivation erzeugt (vgl. Stahlmann-Liebelt 2012, S. 165). „Deshalb wird äußerer Druck – der nicht zwangsläufig in strafrechtlichen Maßnahmen oder deren Androhung bestehen muss, dann aber als besonders effektiv gilt – durchweg für erforderlich gehalten“ (Elz zit. in ebd.). In Anlehnung an meine beruflichen Erfahrungen kann ich bestätigen, dass sich im Laufe einer Maßnahme diese Motivation oftmals hin zu einer intrinsischen Motivation wandelt.

Offensichtlich gibt es im Rahmen des strafrechtlichen Umgangs mit sexuell grenzverletzenden Jungen einige Bestimmungen, welche meiner Ansicht nach einer unzureichenden Legitimierung unterliegen. Das Strafrecht kann andererseits nie die Lösung eines sozialen Problems selbst darstellen, nur den Rahmen aufzeigen, innerhalb dessen die Gesellschaft Anstrengungen der Bewältigung unternehmen muss. Oft sind die Gesetze der sozialen Realität voraus, denn die Gesetze sind zwar vorhanden, im Falle von sexuell übergriffigen Jungen haben sie aber wenig Relevanz. Die Strafjustiz ist in keiner Weise geeignet, einem derart komplexen gesellschaftlichen, familiären und psychischen Problemverhalten adäquat zu begegnen. Ein integratives Netz von juristischen, pädagogischen und psychotherapeutischen Maßnahmen ist somit unabdingbar (vgl. Hirsch 1999, S. 8f.). Die Strafjustiz muss mit dem Jugendamt und dem Familiengericht kooperieren (vgl. Stahlmann-Liebelt 2012, S. 166). Mit dem Strafrecht allein kann den Interessen sowohl des Opfers, als auch des Täters nicht entsprochen werden (vgl. Hirsch 1999, S. 9).

2.3 Statistische Daten

Innerhalb der Forschung wurde der Bereich des sexuell übergriffigen Verhaltens durch Kinder und Jugendliche in Deutschland lange Zeit vernachlässigt, obwohl etwa 20-25% der Vergewaltigungen und 30-40% der sexuellen Missbrauchshandlungen durch Kinder, Jugendliche und Heranwachsende begangen werden (vgl. Deegener 2010b, S. 56). Seit ca. 25-30 Jahren findet das Thema jedoch zunehmend Beachtung (vgl. Elsner/ König 2010, S.22). So zeigen verschiedene Statistiken und Studien, dass sexuelle Gewalt, die durch junge Menschen ausgeübt wird, nicht mehr übersehen werden darf.

Eine erste Annährung an diese Thematik ermöglicht die Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die jährlich vom Bundeskriminalamt erstellt wird. Diese erfasst alle den Strafverfolgungsbehörden bekannt gewordenen Straftaten, sowie Tatverdächtige (vgl. BMFSFJ 2005, S.4). Hinsichtlich der Alters- und Straftatendifferenzierung ist die PKS die detaillierteste kriminologische Hellfeldstatistik in Deutschland (vgl. König 2011, S.17). Mögliche Formen und Entwicklungstendenzen von Sexualstraftaten werden ersichtlich, welche auf gewisse „Täter-Gruppen“ schließen (vgl. Roth 2013, S. 84). Ebenfalls bezieht sich die PKS auf tatverdächtige Kinder, sodass auch Aussagen über die Tathäufigkeit dieser ebenso relevanten Altersgruppe getroffen werden können (vgl. Elz 2010, S. 76).

Laut der PKS wurden 2010 bundesweit insgesamt 46.869 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfasst. Dies entspricht lediglich 0,9% der registrierten Gesamtkriminalität (vgl. Allroggen/ Spröber/ Rau/ Fegert 2011, S.9). Eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Thematik erscheint, vor allem für das Feld der Kinder- und Jugendhilfe, zunächst häufig überzogen. Richtet man bei dieser Straftat jedoch den Blick auf die Verteilung der Altersstruktur, fällt auf, dass rund 23% dieser Tatverdächtigen unter 21 Jahre alt sind, darunter 12% Jugendliche (14-18 Jahre), sowie 4% Kinder unter 14 Jahren. Dies bedeutet eine Überrepräsentativität von jungen Tatverdächtigen, bezogen auf ihren Anteil an der Allgemeinbevölkerung (vgl. ebd.).

Bei diesen Delikten handelt es sich überwiegend um sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB), sowie sexuelle Gewaltdelikte (§§ 117, 178 StGB) (vgl. Elz 2010, S. 76). Im Bereichsjahr 2007 lag der Anteil der Minderjährigen, welche wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verdächtigt wurden, bei ca. 25% (18% Jugendliche, 8% Kinder). Dies bedeutet, dass jeder Vierte aller Tatverdächtigen unter 18 Jahre alt war. Bezogen auf sexuelle Gewaltdelikte handelte es sich bei 12% aller Tatverdächtigen um Jugendliche, sowie bei 2% um Kinder (vgl. ebd.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: TV nach Altersgruppen – Sexueller Missbrauch von Kindern (N=9.087) (PKS 2007 zit. in Elz 2010, S. 76)

Allerdings berücksichtigen solche Daten keine demographischen Aspekte und können somit nichts über die konkrete Belastung der jeweiligen Altersgruppen aussagen. Eine bessere Vergleichbarkeit verschiedener Alterskohorten bieten die sogenannten Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) (vgl. BMFSFJ 2005, S. 4). Diese „bezeichnen die Anzahl der durch die Polizei ermittelten deutschen Tatverdächtigen, errechnet auf 100.000 Einwohner des entsprechenden Bevölkerungsanteils eines Kalenderjahres“ (König 2011, S. 19).

Für die zuvor betrachteten Deliktgruppen „sexueller Missbrauch von Kindern“ und „sexuelle Gewaltdelikte“ bestätigen die TBVZ (Bereichsjahr 2007), dass Jungen unter 21 Jahren eine „Hochrisikogruppe“ (Elz 2010, S. 81) unter den Tatverdächtigen sind. So zeigt die nachfolgende Abbildung, dass männliche 14- bis 16-Jährige bei sexuellem Missbrauch von Kindern mit einer TBVZ von 95 den höchsten Wert aufweisen. Dieser entspricht das Vierfache der 40-50-Jährigen. Sogar die TBVZ der 8-14-Jährigen liegt nur 0,6 unter dem Wert, der 25-30-Jährigen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: TBVZ (männl.) nach Altersgruppen – Sexueller Missbrauch von Kindern (PKS 2007 zit. in Elz 2010, S. 79)

Ergänzend möchte ich Bezug auf die Zeitreihen der PKS nehmen, welche die zeitliche Entwicklung einzelner Deliktkategorien abbilden (vgl. ebd., S.80). Die TVBZ sowie deren Steigung ist im Vergleich zu den restlichen Altersgruppen dramatisch hoch. Im Rahmen des sexuellen Missbrauchs von Kindern beträgt die Belastung der 14-18-Jährigen im Jahr 2007 bereits das 2,5-fache des Wertes aus dem Jahr 1988. Ebenfalls bestätigt die PKS 2017 einen weiteren Anstieg für diese Altersgruppe, vor allem in den beiden bereits erwähnten Deliktbereichen (vgl. BKA 2018, o.S.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: TVBZ (männl.) nach Altersgruppen – Zeitreihen 1988-2007 – Sexueller Missbrauch von Kindern

(PKS zit. in Elz 2010, S. 80)

Allerdings kann nicht zwingend von einer Zunahme von sexuellen Übergriffen durch Kinder und Jugendliche ausgegangen werden. Faktoren, wie eine erhöhte Anzeigebereitschaft oder eine erhöhte Sensibilität gegenüber Sexualdelinquenz können ebenfalls eine Rolle spielen (vgl. Habermann, zit. in Allroggen/ Spröber/ Rau/ Fegert 2011, S. 12). Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik der sexuellen Gewalt ist ein gewisses Umdenken zu vermuten, sodass sexuell grenzverletzendes Verhalten junger Menschen nicht mehr als „Doktorspiele“ o.ä. hingenommen werden (vgl. BMFSFJ 2005, S.4). Auch spielt das erhöhte Forschungsinteresse sowie die fokussierte Wahrnehmung entsprechender Medienberichte, welche unsere „Kriminalitätsfurcht“ maßgeblich beeinflusst, eine wichtige Rolle (vgl. Seifert 2012, S. 11).

Folglich kann die PKS „kein getreues Spiegelbild der Kriminalitätsentwicklung“ (Roth 2013, S. 84) aufweisen und somit nicht das tatsächliche Ausmaß der sexuellen Gewalt überblicken. Dunkelfeldstudien zur Folge kommt durch die PKS lediglich „die oberste Spitze des Eisberges zur Geltung“, da sie nur etwa ein fünfzehntel oder ein zwanzigstel des wahrscheinlichen Ausmaßes wahrnimmt (vgl. Meyer-Deters 2003, S. 82). Aufgrund eines immensen Geheimhaltungsdrucks bleibt sexuelle Gewalt oftmals im Verborgenen.

Somit ist es unabdingbar, ebenfalls den Blick auf die Dunkelfeldforschung zu richten. Diese ermittelt, ob Befragte von sexuellen Grenzverletzungen betroffen sind, eine solche selbst ausgeübt haben oder Zeuge sexueller Gewalt wurden. Allerdings unterliegen empirische Forschungsergebnisse erhebliche definitorische Unklarheiten. Wie im Kapitel 2.1 erwähnt, werden häufig unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet, ohne dass eine genaue Grenzziehung, sowie eine Betrachtung der differenten Perspektiven von Opfer und Täter erfolgt ist (vgl. Seifert 2012, S. 11). Weit gefasste Definitionen liefern meist sehr hohe Prävalenzraten, welche wenig aussagekräftig sind (vgl. Heyden/ Jarosch 2010 S. 14). Dennoch erachte ich es als sinnvoll auf einige Studien einzugehen, da sie eine nicht zu übersehende hohe Dunkelziffer aufweisen. Bekannte Dunkelfeldforschungen, wie die bereits aus den Neunzigerjahren von Bange und Deegener geben an, dass ca. 40% der sexuellen Grenzverletzungen von Jungen unter 21 Jahren begangen werden (vgl. Bange 1992, S. 111f./ Deegener 1999, S. 352ff.). Laut dem Bundesverein zur Prävention von sexuellem Missbrauch (vgl. Elz 2008, S. 8) werden verbale sexuelle Belästigungen schon im Grundschulalter von z.T. über 40% der Befragten beobachtet. Tätliche sexuelle Belästigungen („Begrapschen“) werden etwa halb so häufig wahrgenommen, erlebt, verübt. Solche Dunkelfeldforschungen beziehen sich meist nur auf den schulischen Raum und können somit nicht „die“ Sexualdelinquenz junger Menschen abbilden (vgl. ebd.). In Bezug auf die scheinbar nicht zu unterschätzende jüngere Altersklasse zeigt sich im Rahmen der Evaluation des Modellprojektes „Präventionsmaßnahmen gegen sexuelle Gewalt – Erzieherische Hilfen für jugendliche Sexual(straf)täter“ in NRW, dass 40% der sexuell übergriffigen Kindern und Jugendlichen (n=327) jünger als 14 Jahre waren (vgl. Nowara/ Pierschke 2005 zit. in Allroggen/ Spröber/ Rau/ Fegert 2011, S.13). Knapp 40% der Heimeinrichtungen berichten mindestens von einem Verdachtsfall von sexuellen Übergriffen unter Kindern und Jugendlichen (Studie Deutsche Jugendinstitut 2011, vgl. Rau/ Fegert/ Spröber/ Allroggen 2012, S. 5). Wohlgemerkt müssen solche Angaben zusätzlich zu den offiziellen Werten der PKS gedacht werden, da sie keine gemeldeten Fälle sind.

In der Fachliteratur lassen sich zunehmend Diskussionen zur Prävalenzentwicklung in Bezug auf Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten finden. Gleichwohl liegen für Deutschland regelmäßige, repräsentative und nach einer einheitlichen Systematik durchgeführte Dunkelfeldbefragungen nicht vor (vgl. ebd., S. 4; König 2011, S. 28).

Im Zuge dessen möchte ich kurz Bezug auf folgende Studien aus dem Ausland nehmen:

- 23% der befragten Grundschüler berichten von sexuell übergriffigem Verhalten durch Mitschüler (Hong-Kong 2010, vgl. Rau/ Fegert/ Spröber/ Allroggen 2012, S. 4).
- 50% der Mädchen einer High School und etwa 25% der Jungen berichten, sexuell übergriffiges Verhalten erlebt zu haben (USA 2009, vgl. ebd.).
- 8% der männlichen Schüler der 7.-12. Klasse einer High School gaben an, bereits sexuell aggressives Verhalten gezeigt zu haben (USA 2009, vgl. ebd.).
- 57% der Schüler einer High School gaben an, sexuell belästigendes Verhalten gezeigt zu haben (USA 2001, vgl. ebd.).

Abschließend möchte ich anhand folgender Abbildung darauf aufmerksam machen, dass trotz erkennbarer Intensivierungen entsprechender Forschungen auch zukünftig das sogenannte „absolute Dunkelfeld“ nicht ersichtlich wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Der Kriminalitätsrichter (Elz 2010, S. 72)

[...]


1 An dieser Stelle vermag ich zu spekulieren, dass in diesem Fall eine vorgeschobene Datenschutzproblematik die oftmals anti-empirischen Traditionen in der deutschen Jugendhilfe wiederspiegelt.

2 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht in geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein.

3 „80 bis 90 Prozent der Täter sind Männer. Frauen bzw. weibliche Jugendliche sind für etwa 20 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs an Jungen und für 5 bis 10 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs an Mädchen verantwortlich“ (vgl. Bange 2012, S. 19).

4 Daher wird nachfolgend gleichermaßen von „sexueller Grenzverletzung“, „Tat“ und „Delikt“ gesprochen.

5 Das Reiben am anderen Menschen zur sexuellen Erregung (vgl. Kohlhofer/ Neu/ Sprenger 2008, S.30).

6 Das Zeigen von Geschlechtsteilen gegenüber dem Opfer, möglicherweise kann es dabei zur Selbstbefriedigung kommen (vgl. ebd., S. 40).

7 Das Beobachten von möglichst nackten Menschen in intimen Situationen (vgl. ebd.).

Ende der Leseprobe aus 96 Seiten

Details

Titel
Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten. Welche Risikofaktoren beeinflussen die Entstehung von Verhaltensmustern?
Autor
Jahr
2019
Seiten
96
Katalognummer
V459659
ISBN (eBook)
9783956879753
ISBN (Buch)
9783956879760
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sexuell grenzverletzend, sexuell übergriffig, Sexualstraftäter, Jungen, Jugendliche, Minderjährige, jugendliche Delinquenz, Bindungstheorie, sexueller Missbrauch, Kinder und Jugendliche, Gewalt
Arbeit zitieren
Kerstin Woltkamp (Autor:in), 2019, Jungen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten. Welche Risikofaktoren beeinflussen die Entstehung von Verhaltensmustern?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/459659

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