Weltweit fördern Regierungen hochqualifizierte Arbeitsplätze, verhindern Stellenabbau heimischer Industrien und die ChefökonomInnen der Weltbank äußern offene Unterstützung: spätestens seit der letzten Weltwirtschaftskrise ist das Konzept Industriepolitik (IP) zurück. Tatsächlich war IP nie verschwunden. VerfechterInnen des neoliberalen Washington-Konsens hatten es vielleicht abgeschrieben; erfolgreiche Volkswirtschaften setzten jedoch stets auf Politiken, die Strukturwandel beeinflussen. Theorien zu IP waren in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger analytischer Rahmen für Länder jeglicher Entwicklungsstufe. Aus der Vielzahl an Facetten von strukturierter IP mit Auswirkung auf eine erfolgreiche Entwicklung der nationalen Volkswirtschaft stellt diese Arbeit exemplarisch eine aufschlussreiche Untersuchung anhand Entwicklungen der Volksrepublik (VR) China ab 1978 an.
Diese Arbeit soll mittels einer industriepolitischen Betrachtungsweise die Transformation der VR China erschließen; hieraus ergibt sich folgende Forschungsfrage: Welche Erscheinungsformen sowie Auswirkungen hat IP innerhalb der wirtschaftlichen Transformation Chinas nach 1978 und in wie weit lassen sich davon industriepolitische Lehrbeispiele für Länder mit nachholender Entwicklung und für Industrienationen ableiten? Von besonderer wissenschaftlicher Relevanz ist dabei, dass sowohl die Rolle von IP bei dem Wandel von einer agrarwirtschaftlich geprägten Wirtschaft hin zum global bedeutendsten Produktionsland der Fertigungsindustrie als auch die Rolle, die chinesische IP in Zeiten globaler Turbulenzen und bei einer ökonomischen Neujustierung einnahm, kritisch untersucht wird.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das Konzept Industriepolitik
2.1 Begriffliche Abgrenzung und Definition
2.2 Theoretische Grundlagen
2.3 Kritische Betrachtung und abgrenzende Einordnung
3 Industriepolitik der Volksrepublik China
3.1 Politiken und Programme von 1978 bis 2008
3.1.1 Industriepolitik ab 1978
3.1.2 Phasen chinesischer Industriepolitik
3.1.3 Advokatorische Koalitionen und konkurrierende Ministerien
3.1.4 Industrialisierung als Wachstumsmotor – Zwischenfazit
3.2 Reaktionen auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise
3.3 Eine ökonomische Neujustierung
3.3.1 Industriepolitiken zur Umsteuerung
3.3.2 Analyse kritischer Faktoren
3.3.3 Einordnung, Perspektiven und Ausblick
4 Implikationen für Industriepolitik anderer Länder
5 Entwicklungserfolg „allein“ durch Industriepolitik?
6 Fazit
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: BIP pro Kopf von China, Indien, und Sambia, (in konstanten US$ von 2010), 1978-2017
Abbildung 2: Handelsbilanz Chinas (in Mrd. US$), 1982-2017
Abbildung 3: Inkrementaler Kapitalkoeffizient (ICOR), gleitender Fünfjahresmittelwert, 1981-2012
Abbildung 4: Zusammensetzung des BIPs nach Ausgaben, 1978-2016
Abbildung 5: Industrielle Wertschöpfung (in % des BIPs) von China, Deutschland, Japan, Südkorea, USA & der Welt, 1978-2017
Abbildung 6: Relative Arbeitsproduktivität der gesamten chinesischen Ökonomie & des sekundären Sektors, 1978-2016
Abbildung 7: Dienstleistungs-Wertschöpfung (in % des BIPs) von China, Deutschland, Japan, Südkorea, USA & der Welt, 1978-2017
Abbildung 8: Wertschöpfung des primären Wirtschaftssektors (in % des BIPs) von China, Deutschland, Japan, Südkorea, USA & der Welt, 1978-2017
Abbildung 9: BIP-Wachstum von China, Deutschland, Japan & der Welt, 1978- 2017
Abbildung 10: High-Tech-Exporte (in Mrd. US$) von China, Deutschland, Indien, Japan, Südkorea, USA, 1988-2016
Abbildung 11: Pro-Kopf-Haushaltskonsum Stadt & Land (in Yuan), 1978-2016
Abbildung 12: Ausgaben für FuE (in % des BIPs), 1996-2015
Abbildung 13: Chinesische Ausgaben für intellektuelle Eigentumsrechte & Einnahmen aus der Nutzung chinesischer Patente durch das Ausland (in Mrd. US$), 1997-2017
Abbildung 14: CO2-Ausstoß pro Kopf (in Tonnen), 1978-2014
Tabellenverzeichnis
Tabell e 1: Chinas industriepolitische Schwerpunkte
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Weltweit fördern Regierungen hochqualifizierte Arbeitsplätze, verhindern Stellenabbau heimischer Industrien und die ChefökonomInnen der Weltbank äußern offene Unterstützung: spätestens seit der letzten Weltwirtschaftskrise ist das Konzept Industriepolitik (IP) zurück (Shih, 2014: 37). Tatsächlich war IP nie verschwunden (Rodrik, 2010). VerfechterInnen des neoliberalen Washington- Konsens hatten es vielleicht abgeschrieben; erfolgreiche Volkswirtschaften setzten jedoch stets auf Politiken, die Strukturwandel beeinflussen (ibid.). Theorien zu IP waren in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger analytischer Rahmen für Länder jeglicher Entwicklungsstufe (Harwit, 2007: 312). Aus der Vielzahl an Facetten von strukturierter IP mit Auswirkung auf eine erfolgreiche Entwicklung der nationalen Volkswirtschaft stellt diese Arbeit exemplarisch eine aufschlussreiche Untersuchung anhand Entwicklungen der Volksrepublik (VR) China ab 1978 an (ibid.).
Zu Beginn der Reform- und Öffnungspolitik 1978 lag das chinesische Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf hinter dem von Sambia (Abb.1: V), war niedriger als die Hälfte des asiatischen und kleiner als zwei Drittel des afrikanischen Durchschnitts (Eckart, 2016). Ungeachtet der Kritik an der Akkuratesse chinesischer Daten (Owyang & Shell, 2017) ist der rasante Aufschwung der Ökonomie eine unbestrittene Tatsache (Manske-Wang, 2018: 133). Die Transformation seit 1978 überragt jeden anderen Aufstieg in der Geschichte der Moderne (Ten Brink, 2010: 1). Nach Ende des 2. Weltkriegs verzeichneten Vorläufer wie Japan und Südkorea ähnliche hohe Wachstumsraten und die VR passt daher in Teilen in das „asiatische Wachstumsmodell“ (Priewe, 2005: 22); es konnte jedoch kein Land eine jährliche Steigerung des Pro-Kopf- Einkommens von ca. 6% oder des BIPs von 9,4% über einen vergleichbar langen Zeitraum (1978-2012) erreichen, zumal nicht annähernd so viele Menschen betroffen waren (Hirst, 2015; Ten Brink, 2010: 1). Auch wenn die Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung insgesamt anstieg (Xie & Zhou, 2014: 6930), ist die chinesische Reduktion absoluter Armut kaum vergleichbar mit der anderer Länder (Donaldson, 2017, Priewe, 2005: 22). Heute ist die VR nicht mehr nur „Werkstatt der Welt“, sondern steuert zunehmend auf einen „nachhaltigen“ und innovativen Entwicklungspfad zu (Ten Brink, 2010: 1). In weiten Teilen der Politik, Medien und Wissenschaft wird die VR gefürchtet wie bewundert (Frankenberger, 2010); es wird unter- und übertrieben und – noch vor allem – wird die Transformation kaum verstanden (Priewe, 2005: 22). Die VR passt nicht in Schemata des „ökonomischen mainstream“ (Müller, 2018: 27); Priewe, 2005: 22).
Diese Arbeit soll mittels einer industriepolitischen Betrachtungsweise die Transformation der VR China erschließen; hieraus ergibt sich folgende Forschungsfrage: Welche Erscheinungsformen sowie Auswirkungen hat IP innerhalb der wirtschaftlichen Transformation Chinas nach 1978 und in wie weit lassen sich davon industriepolitische Lehrbeispiele für Länder mit nachholender Entwicklung und für Industrienationen ableiten? Von besonderer wissenschaftlicher Relevanz ist dabei, dass sowohl die Rolle von IP bei dem Wandel von einer agrarwirtschaftlich geprägten Wirtschaft hin zum global bedeutendsten Produktionsland der Fertigungsindustrie (Li, 2013: 5) als auch die Rolle, die chinesische IP in Zeiten globaler Turbulenzen und bei einer ökonomischen Neujustierung einnahm, kritisch untersucht wird.
Zur Beantwortung der Fragestellungen wird zunächst eine kritische Betrachtung und definitorische Eingrenzung des Theoriekonzepts IP vorgenommen. Anschließend findet eine Untersuchung chinesischer IP – schwerpunktmäßig ab 1978 – statt. Nach einer zeithistorischen Betrachtung wird Chinas IP aus analytischer Perspektive in zwei Hauptphasen eingeordnet. Darauffolgend werden politische Koalitionen und Ministerien untersucht, die IP der VR bis heute prägen. Als Zwischenresümee zeigt diese Arbeit die Bedeutung chinesischer Industrialisierung für Wirtschaftswachstum und Externalitäten auf. Industriepolitische Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise ab 2007 werden anschließend – besonders im Hinblick auf Umfang und Wirkung – analysiert. Es folgt eine Ergründung der Neujustierung der Ökonomie bezüglich Maßnahmen zur Neuausrichtung, Faktoren für den Wandel, Perspektiven und Ausblick in die Zukunft. Das „Lernbeispiel“ (Schüller, 2015: 549) chinesischer IP wird dann auf „Lektionen“ sowie deren Übertragbarkeit auf andere Länder erforscht sowie abgrenzend untersucht, in wie weit neben IP weitere Faktoren wichtig für die chinesische Transformation waren.
2 Das Konzept Industriepolitik
Eine einheitliche Theorie und Definition für IP existieren nicht; IP stellt einen holistischen Sammelbegriff dar (Meyer-Stamer, 2009: 8). Ein Teil der Uneinigkeit in der Wissenschaft bezüglich des Für und Wider resultiert aus mangelnder Klarheit hinsichtlich der Definition von IP (Di Maio, 2014: 5).
2. 1 Begriffliche Abgrenzung und Definition
In der einschlägigen Literatur wird IP oftmals als eine Reihe von staatlichen Politiken definiert, die auf Basis von Produktivitätsentwicklung auf die Entwicklung des industriellen Sektors abzielen (Pack, 2000: 48; World Bank, 1993: 304). Weiter gefasste Definitionen beinhalten staatliche Eingriffe zur Förderung oder Entschleunigung von wirtschaftlichem Strukturwandel generell; also auch Maßnahmen, die nicht speziell – oder nicht nur – auf die Fertigungsindustrie ausgerichtet sind (Grosser, 1992: 523; Pack & Saggi, 2006: 2). Unterschiedliches Verständnis von IP besteht sowohl im Hinblick auf Philosophie, Praxis, Zeitverlauf als auch im internationalen Vergleich (Böheim, 2013: 954). Bezüglich der Maßnahmen und des Umfangs von IP lassen sich vier grundlegende Auffassungsunterschiede identifizieren: (i) sektorale und horizontale Maßnahmen; (ii) IP kann zur Restrukturierung großer Unternehmen beitragen, Anpassungsprozesse verlangsamen oder Marktzutritt, Unternehmertum und Innovation fördern; (iii) Schaffen von Rahmenbedingungen zu größerer Wettbewerbsfähigkeit, im Gegensatz zu Ad-Hoc-Maßnahmen, die spezielle Unternehmen, Regionen oder Industrien fördern; (iv) Erhaltungssubventionen im Unterschied zu Maßnahmen zur Förderung von Innovation und anderer positiver externer Effekte (Aiginger, 2007: 299). IP ist eng verwandt mit Politikbereichen wie der Bildungs-, Regional-, und Innovationspolitik, wird implizit auch unter anderem Namen betrieben (Böheim, 2013: 954) und kann auch Maßnahmen bezüglich Handel, Forschung und Entwicklung (FuE), öffentlicher Beschaffung, Bereitstellung von physischer oder immaterieller Infrastruktur, Landesverteidigung, Fusionskontrolle, Anti-Dumping-Verfahren, Beschäftigungssicherung, ausländischer Direktinvestitionen (ADI), geistiger Eigentumsrechten und der Zuteilung von Finanzmitteln enthalten (Aiginger, 2007: 298; Cimoli, Dosi, & Stiglitz, 2008b: 2). Nicht selten wird IP zugerechnet, einen strukturellen Wandel zu schaffen, der Aspekte sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit beinhaltet (Pianta, Lucchese & Nascia, 2016).
Aktuelle Beiträge in der Literatur betonen, dass effektive industriepolitische Maßnahmen die gesamte Wertschöpfungskette und das komplette Spektrum der Wirtschaft umfassen sollten (Landesmann, 2015: 134). Warum dem industriellen Sektor bei vielen Begriffsabgrenzungen eine besondere Rolle zukommt, hängt mit empirischer Evidenz zusammen, die der verarbeitenden Industrie eine wichtige Funktion bei wirtschaftlicher Entwicklung zurechnet (Lin, 2011: 34; Szirmai, 2012: 417). Die Fertigungsindustrie zeichnet sich durch größere technologische Spillover-Effekte, Kapitalintensität, Verflechtungen zu anderen Sektoren, Nachfrageelastizität und umfangreichen Beschäftigungspotentiale aus (Di Maio, 2014: 10; Greenwald & Stieglitz, 2006: 141; Primi & Peres, 2009: 9). Eine definitorische Verengung von IP bezogen auf den sekundären Sektor ist abzulehnen, da es schwierig ist, statistische Grenzen zwischen Wirtschaftssektoren exakt zu definieren und produktionsnahe Dienstleistungen, immaterielle und materielle Infrastruktur beim Ausbau von Wettbewerbsfähigkeit einen besonderen Stellenwert einnehmen (Aiginger, 2007: 300). Im Folgenden wird unter IP „der gezielte Einsatz von Maßnahmen verschiedener Teilpolitiken verstanden, der explizit oder implizit, direkt oder indirekt bewusst das Ziel der langfristigen Beeinflussung des sektoralen wirtschaftlichen Strukturwandels verfolgt und zu Ergebnissen führen soll, die ausschließlich unter Markteinflüssen nicht, nicht in derselben Form oder nicht zu demselben Zeitpunkt erwartet werden können“ (Benner, 2012: 76).
2. 2 Theoretische Grundlagen
Viel zitiertes Argument für IP ist die Annahme von Marktversagen, bei der staatliche Intervention bei Existenz von öffentlichen Gütern, mono- und oligopolistischen Marktstrukturen sowie externen Effekten begründet ist (Primi & Peres, 2009: 20). Öffentliche Güter zeichnen sich im Konsum durch Nicht- Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität aus (z.B. Umweltschutz) (Schulze, 2006: 37f.). Da öffentliche Güter von Individuen genutzt werden können, die nicht für das Gut gezahlt haben (Trittbrettfahrer), kommt es zu sozial nicht-optimaler Bereitstellung der Menge; individuelle Rationalität der AnbieterInnen führt zu kollektiver Ineffizienz, und nur staatliche Eingriffe können für ein optimales Angebot sorgen (Primi & Peres, 2009: 20f.). Bei unvollkommenem Wettbewerb, insbesondere bei natürlichen Monopolen (z.B. Energieversorgungsnetze) und stark steigenden Skalenerträgen bedarf es staatlicher Interventionen zur optimalen Bereitstellung von Gütern, möglichst nah am Marktgleichgewicht „natürlicher“ Wettbewerbsmärkte (ibid.). Divergieren soziale und private Kosten, treten (negative oder positive) externe Effekte auf, die nicht genügend in das Entscheidungskalkül von VerursacherInnnen mit einbezogen werden (ibid.). Die Zuweisung von Eigentumsrechten und Einführung von Kompensationsmechanismen (Besteuerung bzw. Subvention) können Divergenzen zwischen sozialen und individuellen Kosten verringern (Mankiw, 2004: 224ff.). In einigen Fällen sind direkte staatliche Subventionen, Regulierungen oder Investitionen in öffentliche Forschung geeignet, um z.B. die Förderung von FuE zu garantieren oder die Emission von Schadstoffen einzugrenzen (Coase, 1960: 17; Dahlman, 1979: 161).1
Im Unterschied zur neoklassische Wachstumstheorie (Solow, 1956; Swan, 1956) endogenisiert die neue Wachstumstheorie technischen Wandel und kommt zu dem Schluss, dass langfristiges Wachstum vor allem durch Investitionen mit positiven Wachstumsexternalitäten – wie FuE – bestimmt ist (Romer, 1986: 1003f.). Im Gegensatz zur traditionellen Außenhandelstheorie betrachtet die strategische Handelspolitik Marktstrukturen unter dem Aspekt unvollständigen Wettbewerbs und steigender Skalenerträge (Kösters, 1994: 119). In internationalen Oligopolen können demnach Exportsubstitution, Investitionszuschüsse (oft für FuE) und Einfuhrzölle – neben zusätzlichen Renten für inländischen Firmen – zu nationalen Wohlfahrtsgewinnen führen (Spencer & Brander, 1983: 717; Wong, 1995: 524ff.; Neary & Leahy, 2000: 505). Nach diesen Modellen bestehen Anreize, Oligopolrenten auf Kosten des Auslands in das Inland umzulenken (Welzel, 1998: 31) und im Entstehen begriffene Industriezweige zu schützen (Nelson, 1959; Arrow, 1962); einseitige strategische Handelspolitik geschieht zu Lasten anderer Länder (Welzel, 1998: 31). In der „neuen Strukturökonomie“ soll ein Land mit geringem Einkommen Industriezweige mit komparativen Kostenvorteilen in der globalen Arbeitsteilung bevorzugen; bei gradueller Liberalisierung des Handels, wachsendem Devisengewinn (über Exportförderung) und verbessertem technischen Wissen kann sich sukzessiv technologieintensiven Branchen zugewendet werden (Lin, 2012: 5f., 35f.).
2. 3 Kritische Betrachtung und abgrenzende Einordnung
Kritik an IP kommt hingegen insbesondere aus zwei liberalen ökonomischen Schulen, nämlich der Neoklassik und dem Ordoliberalismus (Shih, 2014: 42). Vom neoklassischen Paradigma geprägte Kritik – die grundsätzlich zu einer Minimierung staatlicher Aufgaben tendiert und von einem unlösbaren Informationsproblem ausgeht – stellt die Fähigkeit staatlicher Akteure in Frage, strategisch wichtige Branchen und Unternehmen zu identifizieren („picking the winners“) sowie diese mit entsprechenden Mitteln und Dosierung zu fördern (ibid.;
Spencer & Brander, 1983: 711). Ähnlich ist die Diskussion über Staatsversagen, wonach staatliche Interventionen Gefahr laufen, von Partikularinteressen der Privatwirtschaft eingenommen zu werden und – wie beim Marktversagen – zu Wohlfahrtsverlusten zu führen (Primi & Peres Núñez, 2009: 21). Aus ordoliberaler Betrachtung besteht in staatlicher Intervention das Problem von Verdrängung des freien Wettbewerbs, welcher für Unternehmen als ein „Entdeckungsverfahren“ funktionieren soll; ein Verfahren zur Entdeckung von Wissen, welches ohne Wettbewerb unentdeckt bleibt (Busch, 2005: 40; Hayek, 1968), bei dem der Staat vor allem als Ordnungshüter und Rahmengestalter dienen soll (VDMA, 2004).
Obwohl ex ante nicht garantiert werden kann, ob staatliche Interventionen sich als optimal herausstellen werden, gibt es gleichzeitig auch keine Garantie für optimale oder bessere Marktlösungen (Primi & Peres, 2009: 22). Die Debatte über Marktversagen tendiert dazu, normative Wohlfahrtstheoreme als Maßstab zur Bewertung über Notwendigkeit von IP zu nehmen (Cimoli, et al., 2006: 2). Dabei ist nicht das Problem, dass Marktversagen irrelevant für die Bewertung von IP ist; kritisch ist vielmehr, dass der Großteil empirischer Forschung Formen von Marktversagen nachweist (ibid.). Realwirtschaftliche Debatten anhand von theoretischen Dogmen zu führen, würde bedeuten, dass die komplette Welt als ein großes Marktversagen gesehen werden kann (ibid.). Staatsinterventionen sind notwendig, um Asymmetrien anzustoßen und um die Erforschung technologischer Möglichkeiten, Schaffung und Stärkung privatwirtschaftlicher AkteurInnen und Unterstützung der Akkumulation von Produktionskapazitäten und Wissen zu fördern (Primi & Peres, 2009: 22). Märkte weisen Tendenzen zu Unterinvestitionen (oder Unterproduktion) in FuE – insbesondere Grundlagenforschung – bei positiven externen Effekten und imperfekten Kapitalmärkten auf (Stiglitz, 2016: 7f.). Unsicherheit über die Zukunft und die nicht-deterministische Natur technischen Wandels beachtend, sollte IP nicht auf Effizienz – im Sinne einer exakten und positiven Kosten-Nutzen-Bilanz – sondern auf Wirksamkeit abzielen, nämlich die Fähigkeit, strategische nationale Entwicklungsziele zu erreichen (Görtz, 2011: 8f.; Primi & Peres, 2009: 22f.).
Horizontale Interventionen sollten als Grenzfälle verstanden werden, und nicht als klare Alternative zu sektoralen Politiken (Rodrik, 2008: 6). Die Mehrheit staatlicher Interventionen – auch die horizontalen – haben zur Folge, dass bestimmte Sektoren, Industrien, soziale Gruppen und Regionen gegenüber anderen bevorzugt werden (ibid.; Stiglitz, Lin, & Monga, 2013: 8). Beschleunigte Abschreibungen unterstützen kapitalintensive gegenüber arbeitsintensiven Tätigkeiten; Wechselkurspolitik bevorzugt handelbare Güter gegenüber nicht- handelbaren (Rodrik, 2008: 6). Investitionen in Infrastruktur und Bildung gelten gemeinhin als ein „neutrales“ horizontales wirtschaftspolitisches Instrument, wobei Entscheidungen zu Infrastruktur und Bildung – bezogen auf Ort und Zeit – keineswegs als „neutral“ betrachtet werden können (Stiglitz, Lin, & Monga, 2013: 9). VertreterInnen von IP klassifizieren verschiedene makroökonomische Instrumente – wie Fiskal-, Geld- und Währungspolitik – zusätzlich auch als Instrumente für IP (Stiglitz, 2016: 11). PolitikerInnen sollten sich nicht den „Luxus“ erlauben, asymmetrische Effekte horizontaler Interventionen zu vernachlässigen (Rodrik, 2008: 6). Märkte existieren nicht in einem Vakuum und die Form, wie Regierungen Märkte strukturieren, beeinflusst zwangsläufig die Wirtschaftsstruktur eines Landes (Stiglitz, 2017: 4). Ein Großteil der Literatur scheint zu verkennen, dass jede Regierung in irgendeiner Form IP betreibt (Stiglitz, 2016: 1; Stiglitz, Lin, & Monga, 2013: 8). Das vermeintliche „Nicht- Wissen“ und die Tatsache, dass IP den Märkten überlassen wird, kann Ökonomien besonders anfällig gegenüber der Einflussnahme von Interessensgruppen machen und zu Ineffizienz, niedrigem Wachstum und mehr Ungleichheit führen (Stiglitz, 2016: 1). Die Deregulierung von Finanzmärkten war eine industriepolitische Agenda, unterstützt von FinanzmarktakteurInnen mit dem Ziel, den Finanzsektor zu vergrößern; mit dem Ergebnis geringerem Wachstums, höherer Wirtschaftsinstabilität und Einkommensungleichheit (ibid.).
In vielen Modellen zur strategischen Handelspolitik werden Retorsionsmaßnahmen des Auslands nicht berücksichtigt (Bletschacher & Klodt, 1991: 10); sobald das Ausland auf inländische Protektion mit Handelsbeschränkungen oder mit der Förderung dort heimischer AnbieterInnen reagiert, besteht die Gefahr von Handelskonflikten und Gefangenendilemmata (Busch, 2005: 32). Kurzfristige Kosten von Handelsrestriktionen können jedoch die Produktivität über Wissens-Spillover langfristig verbessern (Stiglitz, 2016: 7f.). Die Schaffung von Produktions- und technologischen Kapazitäten ist ein lang angelegter Prozess, der meist über den Horizont politischer (und demokratischer) Konjunkturen hinaus geht; die Schwierigkeit besteht darin, kostenintensive selektive Maßnahmen durchzusetzen, deren Ertragsergebnisse oft erst in Erscheinung treten, wenn die entsprechende Regierung nicht mehr im Amt ist (Primi & Peres Núñez, 2009: 21). Einige Regierungen – demokratische und autoritäre (Knight, 2012: 20) – schaffen institutionelle Gegebenheiten, die funktionsfähige, weniger für Korruption anfällige IP wahrscheinlicher macht (Stiglitz, 2016: 1). Strukturwandel in Ländern jeglicher Entwicklungsebenen benötigt proaktive Politik, die einen Übergang zu neuen Sektoren und Tätigkeiten mit höherer Produktivität und Wertschöpfung schafft und gleichzeitig nachhaltige und inklusive Entwicklungsprozesse fördert (UNCTAD, 2018: iv). Keinem Land gelang bisher die Transformation aus ländlicher Armut hin zu postindustriellem Wohlstand ohne zielgerichtete und selektive Maßnahmen zur Modifizierung und Förderung von Wirtschaftsstrukturen und ökonomischen Dynamiken (Salazar- Xirinachs, Nübler, & Kozul-Wright, 2014: 1). Formen von chinesischem Marktversagen wie dem Bestehen von Vermögenswerten, die den freien Marktzugang und -austritt sozial kostspielig machten, Komplementarität zwischen Investitionen verschiedener Sektoren und Industrien, Externalitäten in FuE- Leistungen, Schutzbedürftigkeit junger Industrien und das Versagen der Kapitalmärkte (Chang: 125f.), lieferten für die folgende Betrachtung theoretische Begründungen für eine von China vollzogene IP.
3 Industriepolitik der Volksrepublik China
Als 1911 die über zweitausendjährige Geschichte des Kaiserreichs mit der Ausrufung der Republik China beendet wurde, war die westliche Welt bereits in die zweite industrielle Revolution gestartet (Sendler, 2016: 83). China hatte praktisch keine Industrie, war ein fast reiner Agrarstaat und nachdem die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) 1949 mit der Gründung der VR die Souveränität über die Nation gewann (ibid.), sollte China langfristig in ein sozialistischen, modernen und mächtigen Staat transformiert werden (Zhang, 2014: 3). Dazu sollte eine fortschreitende Industrialisierung, eine Verbesserung des Lebensstandards, eine Verringerung der Einkommensunterschiede und eine Produktion von modernen Rüstungsgütern erreicht werden (ibid.). Eine schnelle Industrialisierung wurde mit einer Binnenmarktorientierung bei Förderung der Schwerindustrie, Importsubstitutionspolitik und Staatsunternehmen (SU) vorangetrieben (Schüller, 2015: 543) – bei gleichzeitig geringer außenwirtschaftlicher Verflechtung (Fischer, 2006: 1). Unter anderem über das Politikprogramm des „Großen Sprungs nach vorn“ (1958-1961) wollte Mao Zedong die VR schnellstmöglich in das Industriezeitalter befördern (Heilig, 2005: 4). Das Programm endete mit der größten Hungersnot in der Geschichte der Menschheit, bei der – je nach historischer Schätzung – ca. 30 Mio. Menschen starben (Ashton, et al., 1992: 634; Heilig, 2005: 4f.). Während die industrielle Produktion zwischen 1952 und 1978 durchschnittlich um 10,5% wuchs, stieg das BIP pro Kopf nur um 3% (Knight, 2012: 4); der Pro-Kopf-Verbrauch der ländlichen Bevölkerung – die 80% der Gesamtbevölkerung ausmachte – wuchs lediglich um 1,4% pro Jahr (ibid.).
3. 1 Politiken und Programme von 1978 bis 2008
Nach dem Tod Maos 1976 stand die KPCh unter dem Druck, verlorengegangene Legitimität in der Bevölkerung über ein hohes Wirtschaftswachstum in Verbindung mit einer Verbesserung des Lebensstandards wiederherzustellen; zusätzlich hatte das „Chaos“ der Kulturrevolution die Kapazität der Zentralplanung geschwächt und die VR befand sich in einer Zeit politischer Unsicherheiten (Knight, 2012: 4; Li, 2013: 4). Die Nahrungsmittelproduktion reichte nicht mehr aus, um 965 Mio. ChinesInnen zu versorgen; hunderte Mio. Menschen lebten in Armut und das Land stand vor dem Kollaps (ibid.). Zur Wiederherstellung der politischen Rechtmäßigkeit wurden auch Politikempfehlungen, fortgeschrittene Technologie und Kapital aus dem Ausland bezogen (Heilmann & Shih, 2013: 5); Regierungsdelegationen unternahmen Erkundungsreisen in wirtschaftlich fortgeschrittene westliche und ostasiatische Länder und bauten diplomatische Beziehungen mit Japan und Westeuropa auf (Shih, 2014: 56f.). Von chinesischer Seite wurde nicht nach einem Wirtschaftsmodell gesucht, welches als „Ganzes“ importiert werden konnte; vielmehr waren wirtschaftspolitische Rezepte gefragt, die einen inkrementellen und risikoarmen Abbau essentieller Probleme möglich machen würden (Heilmann & Shih, 2013: 5). Voraussetzung für die im folgenden beschriebene Einführung der IP war der ideologische Wandel – also die Abwendung vom orthodoxen Sozialismus – unter Leitung von Deng Xiaoping (1978-1989) (Shih, 2014: 232). Anfang der 1980er wurden zusätzlich zu ökonomischen Reformen politische Restrukturierungen von Staat und Partei zur Professionalisierung der Führungsriege mit dem Ziel vorgenommen (Knight, 2012: 5), das wirtschaftliche Leben zu entpolitisieren, Führung von Ministerien und Unternehmen zu entmilitarisieren und die zentrale Planung – zumindest in Teilen – wiederherzustellen (Huchet, 2014: 4). Partei, Staatsbürokraten und Manager von SU wurden angewiesen, Zielen der KPCh – insbesondere dem wirtschaftlichen Aufholprozess – zuzuarbeiten (ibid.). Bis heute sind viele SU noch keine komplett gewinnorientierten Unternehmen, sodass Prestige der Manager und insbesondere Größen- und Beschäftigungszuwächse für Belegschaften, Staat und Partei eine wichtige Rolle spielen (Priewe, 2005: 28). Daraus ergibt sich ein ausgeprägtes Investitionsverhalten der SU und eine Vorwärtsstrategie zur Modernisierung, verstärkt durch wirtschaftlichen Druck überlegener privater konkurrierender Unternehmen und eine tabuisierte Exit-Option einer Firmeninsolvenz (ibid.). Die KPCh erzeugte zusammen mit Zentralregierung, Zentralbank (ZB) und Provinzregierungen einen moralischen Imperativ zu hohem Wachstum, der für die soziale Stabilität des Landes als notwendig erachtet wurde (ibid.) und wesentlich ist für die weitere Untersuchung chinesischer IP.
3.1. 1 Industriepolitik ab 1978
Anfang 1978 verkündete die Regierung unter Federführung von Deng Xiaoping die revidierte Fassung des Zehnjahresplans (1976 - 1985) und vollzog eine schrittweise Transformation des Wirtschaftssystems und Neuausrichtung der IP (Huchet, 2014: 3; Shih, 2014: 57). Sozialistische Entwicklungsziele und Politiken wurden durch marktwirtschaftliche Orientierung und außenwirtschaftliche Öffnung ergänzt (Schüller, 2015: 544); so wurde z.B. im Dezember 1990 die Shanghaier Börse nach 40 Jahren wieder geöffnet (Hirst, 2015). Elemente horizontaler Steuerung – wie fiskalische und kreditpolitische Anreize – wurden mit vertikaler Förderung bestimmter Industrien oder SU verbunden (Schüller, 2015: 544). Während private und ausländische Unternehmen toleriert und kleinere SU auf lokaler Ebene weitgehend privatisiert wurden, blieben große SU als „Rückgrat“ der Industrie durchgängig erhalten (ibid.). Sie wurden ab Mitte der 1980er rechtlich umstrukturiert, teilweise zu Unternehmensgruppen fusioniert und einer staatlichen Treuhandgesellschaft – der „State-owned Assets Supervision and Administration Commission“ (SASAC) – unterstellt (ibid.). 1978 wurde beispielsweise durch eine Kooperation mit der japanischen „Nippon Steel Corporation“ – zu diesem Zeitpunkt das zweitgrößte Stahlkonglomerat der Welt – ein staatliches Stahlwerk nach japanischem Vorbild in Shanghai errichtet, das zum Vorläufer der heutigen „Baosteel Group Corporation“ wurde, die wiederum 2008 drittgrößter Stahl- und Eisenproduzent weltweit war (Shih, 2014: 57f.). Da der Wert des Einfuhrvertrags damalige chinesische Devisenreserven um ca. 500 Mio. US$ überstieg, beantragte die Regierung 1978 japanische Entwicklungshilfe; ausländische Entwicklungshilfe war seit den 1960er Jahren unter Autarkiebestrebungen Maos abgelehnt worden (ibid.). „Periphere“ Reformen seit Beginn der 1980er beinhalteten außerdem die Gründung von Sonderwirtschaftszonen (SWZ) im südlichen China, das Auflösen von Volkskommunen (Formen landwirtschaftlicher Kollektivierung) und die Förderung ländlicher Kollektivunternehmen (Huchet, 2014: 4); die erste SWZ war dabei die Stadt Shenzhen nahe Hong Kong (Li, 2013: 5). SWZ halfen, ausländisches Kapital und Know-how nach China zu lenken, indem sie steuerliche Anreize und marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen für die exportorientierte Produktion und für ADI boten (Hauschild, et al., 2015: 11). Da der Zugang zum Binnenmarkt zunächst noch stark eingeschränkt und die Nachfrage zu vielen Produkten noch gering war, wurde ein Großteil der Produktion der SWZ exportiert (ibid.). Die SWZ gehören dabei zu einer Reihe räumlich begrenzter Reformexperimente, die entweder zentralstaatlich vorgegeben oder im Nachhinein akzeptiert wurden (Schüller, 2015: 542). Reformen erfolgten oftmals indirekt und in Formen, die die Regierung nicht antizipiert hatte (Huchet 2014: 4). Die institutionellen Grundvoraussetzungen, nämlich Instrumente und Organe zur Umsetzung umfangreicher, auf Verbesserung der industriellen Organisation abzielende IP, waren bis in die 1990er Jahre kaum vorhanden; weswegen industriepolitische Programme vielmals von eher kurzer Dauer waren und wenig Erfolg hatten (Heilmann & Shih, 2013: 10).
Die Förderung von ADI konzentrierte sich zunächst auf technologiehaltige und exportorientierte Unternehmen, wurde aber zunehmend breiter angelegt (Priewe, 2005: 29). Die Politik des „industrial targeting“ und „picking winners“ – die zuvor in Japan und Südkorea eingesetzt worden war, um Struktur und Entwicklung der Industrie zu beeinflussen – geschah zu einem Zeitpunkt, an dem das technologische Entwicklungsniveau Chinas verhältnismäßig niedrig ausfiel (ibid.). Deswegen gibt es durchaus Stimmen, die den ADI ein verhältnismäßig großes Gewicht im Entwicklungsprozess Chinas zurechnen (Azarhoushang, 2013; Schüller, 2015: 544) – mit abnehmendem Stellenwert ab der Jahrtausendwende (Flassbeck, Dullien, & Geiger, 2005: 36). Die Integration chinesischer Unternehmen in die Wertschöpfungsketten ausländischer Hersteller sorgte für Transfer von technischem und Management Know-how (Hauschild, et al., 2015: 11; Schüller, 2015: 544). China kam 1997 mit 40% der größte Zufluss an ADI aller Länder mit geringem Einkommen zu (Broadman & Sun, 1997: 339); und ist auch heute noch – nach den USA – weltweit zweitwichtigstes Ursprungs- und Zielland von ADI (UNCTAD, 2018a: 4; 2018b: 3). Im Verhältnis zur gesamten Investitionstätigkeit waren die ADI in den 1980ern allerdings noch recht unbedeutend und stiegen erst zu Beginn der 1990er auf 10-17% an; zwischen 1990 – 2001 lagen sie bei durchschnittlich ca. 10% (Priewe, 2005: 27). Nach 1978 hatte die Regierung traditionelle Politik der Importsubstitution über die SU und über selektiven Protektionismus (eine Erbschaft der Planwirtschaft) mit zunehmender Exportförderung verbunden (Priewe, 2005: 29). Die Exportrate stieg von 8% im Jahr (i.J.) 1980 auf etwa 35% i.J. 2003 enorm an, gleichzeitig nahmen die Importe in ähnlicher Geschwindigkeit zu (ibid.); seit 1994 weist die Handelsbilanz einen Überschuss auf (Abb.2: V). Wegen der bis 2004 noch geringen Handelsbilanzüberschüsse hat die Exportorientierung zunächst weniger direkt zur gesamtwirtschaftlichen Nachfragedynamik beigetragen; dafür aber indirekt über induzierte Investitionen (und folglich induziertem Konsum), den Import moderner Güter (ohne Auslandsverschuldung) und daraus folgendem Technologietransfer (Priewe, 2005: 29).
Um Voraussetzungen für Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen, umfasste IP ab den 1990ern – und spätestens mit der Jahrtausendwende – vermehrt die industrielle Restrukturierung und Technologiediffusion innerhalb des Landes (Heilmann & Shih, 2013: 9); beispielsweise den Ausbau der Infrastruktur für Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) (Harwit, 2007: 322; Naughton, 2007: 365, 370ff.). Außerdem lösten flexible, indirekte und lang angelegte Begünstigungen (z.B. Steuer- und Krediterleichterungen) zunehmend die Festlegung von Produktionszielen und Ressourcen ab (ibid.). Neben dem Technologietransfer aus dem Ausland wurde die Entwicklung einer eigenen Wissenschafts- und Technologiebasis gefördert; dabei kamen mittel- und langfristige Programme der Zentralregierung und der zuständigen Ministerien eine Schlüsselrolle zu (Müller & Schüller, 2004: 1333). Das „Ministry of Science and Technology“ fördert insgesamt 160 nationale Forschungsinstitute und unterstützt – teils sehr langfristig angelegte – Programme bezüglich Satelliten-, Grundlagen- und angewandter Forschung, Unternehmensneugründungen in Industrieparks und Wissenschafts- und Technologieentwicklung unterschiedlicher Wirtschaftssektoren (Schüller, 2015: 544). Das „High-Tech Research and Development“-Programm („863“- Programm) mit dem Fokus auf den Agrarsektor, auf traditionelle- und Hightech- Industrien umfasste ein Fördervolumen von €2,1 Mrd. für den Zeitraum 1986 bis 2005 (Schüller, 2008: 55f.). Über das „973“-Programm werden Grundlagen- und angewandte Forschung sowie Industrieparks im Rahmen des „Torch“-Programms mit €3 Mrd. pro Jahr gefördert (ibid.: 56). Der Zhongguancun-Technologiepark in Beijing – der im Rahmen des „Torch“-Programms entstanden ist – stellt das national bedeutendste FuE-Zentrum nach dem Vorbild des Silicon Valley in den USA dar (Walsh, 2003: 45). Um im Ausland befindliche chinesische WissenschaftlerInnen zur Rückwanderung zubewegen, legte die Regierung verschiedene Programme zum „reverse brain drain“ auf (Wogart & Schüller, 2011: 4f.). Vor dem Hintergrund des Beitritts zur World Trade Organization (WTO) im November 2001, des damit erwarteten stärkeren Wettbewerbs im Inland, und um den Übergang von einer arbeitsintensiven zu einer wissensintensiven Produktion zu fördern, lag fortan der Schwerpunkt der Technologiepolitik auf der eigenständigen technologischen Entwicklung und dem Aufbau eigener Innovationskapazitäten (Schüller, 2015: 545). Gleichzeitig wurden Internationalisierungsbestrebungen chinesischer Unternehmen durch staatliche Investitionen im Ausland gefördert, um den Zugang zu technologieintensiven Auslandsunternehmen und natürlichen Ressourcen zu sichern (Defraigne, 2014: 4; Schüller, 2015: 545). Den Rahmen für neu gefasste Technologiepolitik bildete zunächst das „mittel- bis langfristige Programm zur Technologie- und Wissenschaftsentwicklung (2006-2020)“ (Cao, Suttmeier, & Simon, 2006; Chen & Naughton, 2013: 1).2
Das Beispiel der Automobilindustrie zeigt, dass die Zentralregierung ihre industriepolitischen Vorstellungen nicht immer gegen den Widerstand lokaler Interessen durchsetzen konnte (Schüller, 2015: 545). Während industriepolitische Maßnahmen der Zentralregierung sich in einigen Fällen als ineffektiv bewiesen, entwickelten Lokalregierungen Gegenmodelle, denen die Zentralregierung teilweise nachträglich zustimmte (ibid.). Anhand der Entwicklung der Automobilindustrie lässt sich exemplarisch die Fähigkeit der VR aufzeigen, neben proaktiver auch reaktive IP zu betreiben (Chu, 2011: 1246). Zentralstaatliche Maßnahmen stellten sich zunächst als ineffektiv heraus (ibid.: 1235). Schritt für Schritt, unter Einbezug positiver Resultate lokaler Innovation und – angetrieben von einem „Aufhol-Konsens“ – wiesen sie einen Lernprozess vor, durch den chinesische IP auf lange Sicht an Effektivität gewann (ibid.).
Der staatliche Industriesektor war fast durchgehend von einer hohen Kapitalintensität geprägt (Lo & Wu, 2014: 309). Der Kapitalanteil staatlicher Unternehmen an der Gesamtindustrie überschritt deutlich den Anteil des staatlichen Outputs an der gesamten industriellen Produktion, während gleichzeitig der Beschäftigungsanteil weitaus geringer ausfiel (ibid.: 310). Zusammen mit nationalen Branchenvereinigungen stellen die Staatskonzerne die faktische Triebkraft des industriepolitischen Gestaltungsprozesses dar (Shih, 2014); sie kontrollierten die „Kommandobrücken“ der Industrie (Lo & Wu, 2014: 310). Gleichzeitig stand die Zuteilung von Finanzmitteln während der Transformation unter staatlicher Kontrolle (ibid.). Der Bankensektor war in den verschiedenen Phasen der Reformära durchgehend vorherrschender Teil der Finanzwirtschaft (Lo & Wu, 2014: 310); dieser bankenzentrierte Finanzsektor ist einfach strukturiert, erwies sich aber bislang als äußerst funktionsfähig (Priewe, 2005: 27). 2010 waren staatliche Banken noch immer für mehr als 70% der Vermögenswerte im Bankensektor zuständig (Lo, Li, & Jiang, 2011: 271). Einlagen- und Kreditzinsen werden heute noch in engen Bandbreiten „repressiv“ (McKinnon, 1973) und staatlich kontrolliert (ibid.). Bei Reformen des Finanzsektors und internationalen Kapitalverkehrs vollzog China eine gradualistische Strategie, bei der das Finanzsystem für industriepolitische Zwecke verwendet wurde (Herr, 2000: 201). Politisch beeinflusste Investitionstätigkeit vollzog sich dabei nicht immer in einem stringenten industriepolitischen Konzept (ibid.: 192). Vielmehr versuchten Provinzen und Städte, möglichst viele an den staatlichen Investition zugeteilt zu bekommen; mit der Folge einer lokalen Industrieentwicklung ohne effiziente Arbeitsteilung auf nationaler Ebene (Flassbeck, Dullien, & Geiger, 2005: 40; Herr, 2000: 192). Der Zentralregierung gelang es – trotz Rezentralisierungs- und makropolitischer Kontrollmaßnahmen – aufgrund der Wirksamkeit von Konkurrenzimperativen kaum, den internen Standortwettbewerb und damit verbundene risikobehaftete Finanz- und Wachstumspolitiken subnationaler Regierungen einzudämmen (Ten Brink, 2013: 81). Mit Unterstützung der ZB lenkten die Staatsbanken (SB) Kredite in die SU und aus einem „Investitionshunger“ der SU resultierte ein „Kredithunger“, der durch partielle weiche Budgetrestriktionen der SB gestillt wurde (Priewe, 2005: 27). Während der Wachstumsepoche wies das Land grundsätzlich eine hohe Investitionsquote vor: zwischen 32 und 48% (ibid.: 26). Wobei aus den SU und den öffentlichen Haushalten der größte Teil der Investitionen stammt – 2001 noch ca. die Hälfte (1980 über 80%) – und sich 1998 nur noch 26% der Industrieproduktion auf die SU konzentrierte; die Investitionstätigkeit wurde zunehmend von Kollektiv- und Privatunternehmen getragen (ibid..: 27). Die in Teilen problematische Kapitallenkung wurde auch durch wachstumsbedingten starken technologischen Fortschritt ausgeglichen; und die SU (kaum aber die SB) standen zunehmen im Wettbewerb mit nicht-staatlichen Unternehmen und wurden mit Beginn der 1990er Jahre vermehrt privatisiert (ibid.). Nicht alle staatlichen Investitionen waren effizient und Budgetrestriktionen wurden schrittweise gehärtet, jedoch schuf diese Form der Geld- und Kreditpolitik (spätestens seit 1998) einen Monetarisierungsgrad, der denen hochentwickelter Volkswirtschaften entspricht (ibid.). Der SB-SU-Komplex war und ist ein stabiler, verlässlicher und kontrollierbarer Nachfragemotor, allerdings in abnehmendem Maße (ibid.).
3.1. 2 Phasen chinesischer Industriepolitik
Grundsätzlich ist die chinesische IP in zwei Hauptphasen einzuteilen (Lo, 2006: 18; Lo und Wu, 2014: 308); China vollzog eine Transformation von einer arbeitsintensiven Industrialisierung (1978-1992) hin zu einer kapitalintensiven (ab 1992), gemessen an dem marginalen Kapital-Output-Verhältnis (Abb.3: VI; Lo und Wu, 2014: 308). Zwischen 1978 und 1992 war das Wirtschaftswachstum – neben Produktivitätszuwächsen und Verbesserungen der allokativen Effizienz – eng mit schnellen Beschäftigungszuwächsen verbunden; die jährliche Durchschnittsrate des Wachstums von Beschäftigung überstieg die Wachstumsrate der Erwerbspersonen (Lo & Zhang, 2011: 38f., 42). Während nach 1992 gesamtwirtschaftliche Produktivitätszuwächse durchschnittlich 3% höher ausfielen, als die von 1978-1992, verringerten sich gleichzeitig die Beschäftigungszuwächse; das Beschäftigungswachstum blieb im Mittel 0,08% hinter dem Wachstum der Erwerbspersonen zurück (Lo & Zhang, 2011: 39). Steigende Produktivität und eine zunehmend kapitalintensive Industrialisierung bildeten nach 1992 zunehmend die Basis für soziale Entwicklungsziele der Regierung (Lo & Wu, 2014: 325). Die Industrialisierung umfasste vor 1992 eine – eher komparativen Vorteilen folgenden Strategie – danach begann sie, komparative Vorteile auch aktiv selbst zu definieren (Lin & Chang, 2009: S. 487f.; Lo & Wu, 2014: 311). Unternehmen mit staatlicher Beteiligung dominierten insbesondere in der Zeit bis 1992 die wirtschaftliche Entwicklung, waren aber auch in der zweiten Hälfte signifikanter Bestandteil der Transformation (Lo & Wu, 2014: 309). Der Anteil staatlicher Industrieproduktion an der gesamten industriellen Wertschöpfung sank von 78% i.J. 1978 auf 32% i.J. 1998; er wuchs bis 2010 wieder auf 38% an (ibid.). Die Transformation ist auch durch einen Wandel von durch Konsum getriebenem Wachstum zu einem investitionsgestützten (und exportgetragenen) Wachstum gekennzeichnet (Abb.4: VI; Lo & Wu, 2014: 311; Lo & Zhang, 2011: 39f.). Von 1978-1992 war der Anteil der Konsumausgaben an den gesamten Aufwendungen durchschnittlich 10% höher als in der Zeit von 1993- 2007; der Anteil der Investitionsausgaben stieg gegenteilig ab 1993 an (Lo & Zhang, 2011: 39). In beiden Perioden wurden auch durch IP Nachfragebedingungen für eine Industrialisierung geschaffen, die die Förderung produktiver Investments und steigender Renditen der etablierten Industrien stützte (Lo & Wu, 2014: 311).
Naughton (2007: 90f.) und Huchet (2014: 1f.) wählen einen ähnlichen Zwei- Phasen-Ansatz zur Betrachtung chinesischer IP. 1978 bis Mitte der 1990er zielten Reformen auf die Dezentralisierung und die Stärkung lokaler AkteurInnen, Technologieeinfuhr, Reformierung der Systeme von FuE und graduelle Reduzierung von Markteintrittsbarrieren – während zentralstaatliche Kernanliegen und SU geschützt wurden (Huchet 2014: 4; Naughton, 2007: 90f.); industriepolitische Instrumente umschlossen dabei Steuer- und Zinserleichterungen, Zollbarrieren und einen Investitionskatalog, über den (Auslands-)Investitionen und Know-how in strategische Industrien gelenkt wurden (Rödl & Partner, 2018: 13; Schüller, 2015: 544). Li (2013: 6) spricht hierbei von der „Brutzeit“ (1978-1991), in der ökonomische Reformen die Transformation einer Planwirtschaft hin zu einer Ökonomie des Sozialismus mit chinesischen Charakteristika begleiteten. Aus der „Brutzeit“ war die Wirtschaft Mitte der 1990er „herausgewachsen“ und vermehrt wurde eine stabile institutionelle Basis für die sich entwickelnde Marktwirtschaft geschaffen (Naughton, 2007: 92). Im Zuge einer rapide anwachsenden Ökonomie wurde Ende der 1980er die Steuerung sich schnell wandelnder konjunktureller Zyklen und makroökonomischer Ungleichheiten schwieriger (ibid.: 98); zeitweise verzeichnete China ein Wachstum des BIPs von 13% (Manske-Wang, 2018: 133). Anwachsende Inflation, Wut über Korruption und steigende Erwartungen über politischen und ökonomischen Wandel waren Motivationsfaktoren für die Proteste auf dem Tian’anmen-Platz 1989 und die politischen Verwerfungen der Folgejahre (Naughton, 2007: 98f.); 1990 erreichte das BIP-Wachstum mit 3,9% den niedrigsten Stand seit Beginn der Öffnungspolitik 1978 (Manske-Wang, 2018: 133). Ende 1992 bekannte sich die Regierung erneut zu wirtschaftlicher Entwicklung als „einzige Wahrheit“, prägte den Begriff der „Sozialistischen Marktwirtschaft“ und leitete die vorerst zweite Phase chinesischer IP ein (Naughton, 2007: 99f.). Neben der Rezentralisierung der Haushaltsmittel wurden regulatorische und administrative Restrukturierungen vor allem im Banken- und Steuersystem, im Bereich der Unternehmensführung und in der Außenwirtschaft (über den WTO-Beitritt 2001) vollzogen (Naughton, 2007: 100); das Land entwickelte eine modernere Infrastruktur und navigierte teilweise von einer Low- Cost- und Low-Tech- hin zu einer High-Tech-Produktion (Li, 2013: 6). Die IP und Wirtschaftsentwicklung war insbesondere gekennzeichnet durch die Rückkehr zur Preisstabilität, autoritär agierende Regierungsinstitutionen, eine Verkleinerung des staatlichen Unternehmenssektors (und daraus folgender Stellenabbau) und die Akzeptanz einer – aus chinesischer Sicht – moderaten Menge an Privatisierung und Förderung der Privatwirtschaft (Huchet, 2014: 13; Li, 2013: 6). Li (2013: 6) spricht hierbei von den „Navigationsjahren“ (1992-2001), die mit der wirtschaftlichen Öffnung für ausländisches Kapital der „Pudong New Area“ in Shanghai und einer Reihe anderer Städte entlang des Flusslaufes des Yangtse begannen und deren wichtigster Meilenstein der Beitritt zur WTO 2001 darstellte; als Reaktion auf die Asienkrise und eine anhaltende schwache Binnennachfrage hatte die Regierung ab 1999 die Bemühungen um eine Aufnahme in die WTO forciert (Fischer, 2006: 1). Nach dem WTO-Beitritt befand sich die IP unter Anpassungsdruck: Industriepolitische Bestimmungen, wie „local content“- Auflagen (Festlegung eines im Inland hergestellten Produktionsanteils), Exportquoten, der Joint-Venture-Zwang und andere Gesetze und Durchführungsbestimmungen mussten abgeschafft oder an internationale Standards angepasst werden (Schüller, 2015: 544f.). Übergangsfristen erleichterten diesen Anpassungsprozess, jedoch existieren bis dato Zutrittsbarrieren in Branchen, in denen chinesische Unternehmen nicht genügend Wettbewerbsfähigkeit vorweisen (Covington & Burling LLP, 2014: 13; Schüller, 2015: 544). Ergänzt werden kann der hier beschriebenen Zwei-Phasen-Ansatz durch die „dynamischen Jahre“ (2002-heute), in denen China eine proaktive Fertigungsstrategie mit Fokus auf eine wirtschaftliche Entwicklung mit „sanften“ Machtinstrumenten (soft power) verfolgte (ibid.: 7f.). Dabei steht China zunehmend auch im globalen Wettbewerb um hochwertige Produktgestaltung und Fertigungsaufträge und besitzt gleichzeitig eine arbeitsintensive Produktion mit geringer Gewinnspanne (ibid.: 8, 12).
Die seit den Anfang 1990ern einsetzende bürokratische Restrukturierung und Rezentralisierung der Staatseinnahmen zielte auf eine Stärkung des zentralen Regierungsapparates und die Entwicklung eines wirkungsvollen Krisenmanagements ab; Ende der 1990er verfügte der Zentralstaat wieder über 50% der gesamten Staatseinnahmen – somit auch über Mittel zur Konjunkturstimulation in Zeiten der Asienkrise ab 1997 und der globalen Krise ab 2008 (Ten Brink, 2013: 70f.). Während der Asienkrise wurde China durch die Abwertung umliegender Währungen und den Rückgang der Exporte von einem negativen Nachfrageschock – vor allem in der Fertigungsindustrie – getroffen; innerhalb von einem Jahr wurden etwa 10% der Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie entlassen (Flassbeck, Dullien, & Geiger, 2005: 33). Das Finanzwesen Chinas blieb aufgrund strikter Kapitalkontrollen quasi unberührt von der Krise (Kobayashi, Baobo, & Sano, 1999). Während ADI in anderen Regionen einbrachen, dauerten Zuflüsse nach China an und das Finanzsystem Chinas wurde als „sicherer Hafen“ gewertet (Davies, 2013: 10). Im April 1998 verkündete die Regierung ein massives Infrastruktur-Investitionsprogramm (240 Mrd. US$), gepaart mit einer Lockerung der Geld- und Kreditpolitik (Ishii, Wang, & Obata, 2002). Die Investitionen war ursprünglich als Reaktion auf die Finanzkrise verabschiedet worden, dienten jedoch einer langfristigen Strategie in den folgenden Jahren; sie stellten auch eine Aufhebung der von 1993-97 vollzogenen „neoliberalen“ Strukturmaßnahmen dar (Lo & Wu, 2014: 317).
3.1. 3 Advokatorische Koalitionen und konkurrierende Ministerien
In der Literatur wird vielmals eine dichotomische „Plan- vs. Marktwirtschaft“- Betrachtung gewählt, um die Transformation der VR zu untersuchen (Bell, et al., 1993; Siebert, 1992); außerdem neigt einschlägige Literatur dazu, Ursachen für die Transformation allein auf eine grundlegend pragmatische Haltung (ein „Geheimrezept“) zurück zu führen – die Eliten der KPCh gemeinsam teilen (Chen & Naughton, 2013: 24). Heilmann und Shih (2013: 18) erkennen hingegen vier zu untersuchende advokatorische Koalitionen, die Wirtschaftspolitik und IP der VR bis heute prägen. Dabei verlagerten sich Grenzen und Überschneidungen im Laufe der Jahrzehnte; jede advokatorische Koalition hatte jedoch einen Kern aus hochrangigen PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, bürokratischen Institutionen und UnterstützerInnen. Vor allem die UnterstützerInnen der imperativen Planung (i) und des Marktliberalisierungscamps (ii) waren Gegenstand westlichen Medien- und Forschungsinteresses, wobei letztere durch aktiven Politik- und Forschungsaustausch mit westlichen Ländern ihren Beitrag hierzu lieferten. Imperative PlanerInnen verfolgen als „orthodoxe“ SozialistInnen das Ziel der Top- Down-Planung mit Preis- und Outputfestlegung, einschließlich direkter staatlicher Eingriffe in Unternehmensentscheidungen. Von westlicher Forschung weniger beachtet wurden ProtagonistInnen der sektorübergreifenden indikativen Planung (iii) und sektoralen IP (iv), die jedoch für eine Betrachtung ab 1993 besonders wichtig sind. Indikative Planung setzte keine verbindlichen Vorgaben zur Produktion oder Investition fest und lieferte hauptsächlich langfristige Prognosen über wirtschaftlichen und industriellen Strukturwandel, der auf einer Analyse des Angebots- und Nachfrageverhältnisses beruhte (Shih, 2014: 77). Spannungen zwischen BefürworterInnen sektorübergreifender und partikularistischer IP waren seit Gründung der VR bis heute konstantes Merkmal der Wirtschaftspolitik. Spätestens mit der Hu-Wen-Regierung (2003-2013) dominierten indikative PlanerInnen die IP und legten einen Fokus auf langjährige, sektorübergreifende Programme in wirtschaftlicher, sozialer und technologischer Entwicklung. Obwohl wirtschaftsliberale Kräfte ab den 2000ern an politischen Einfluss verloren, sind sie weiterhin etabliert in der Forschungsgemeinschaft (z.B. an der Universität Peking), der Finanzbranche (z.B. in der ZB) und bei ausländischen Unternehmen und Finanzinstitutionen, die bemüht sind, ihre Tätigkeiten und Vermögenswerte in China auszubauen. Ihr bestehender Einfluss und ihre Möglichkeiten eines umfangreichen Comebacks sind wichtiger Gegenstand einer Analyse chinesischer IP. (Heilmann & Shih, 2013: 13f., 18-20, wenn nicht anders ausgewiesen).
[...]
1 Weitere theoretische Erklärungsansätze für IP finden sich in der Neuen Politischen Ökonomie (Downs, 1968), Regionalökonomik (oder „Economic Geography“) (Krugman, 1991) und der Industrieökonomik (Porter, 1980).
2 Für eine Übersicht über die industriepolitischen Schwerpunkte Chinas von 1950-2015 siehe Tabelle 1 auf S.XII.
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