Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Die aktuelle Einwanderungssituation und Bildungsbenachteiligung
3 Zweitspracherwerb
3.1 Die Identitäts-, Kontrastiv- und Interlanguagehypothesen
3.2 Die Interdependenzhypothese
4 Diagnoseverfahren
4.1 Qualitative und quantitative Diagnoseverfahren
5 Kontrastive Linguistik am Beispiel Deutsch-Türkisch
5.1 Besonderheiten der deutschen Sprache
5.2 Besonderheiten der türkischen Sprache im Vergleich zur deutschen Sprache
5.3 Häufige Fehlerquellen
5.4 Sprachvergleich in der Schule
6 Fördermöglichkeiten
6.1 Praxisbeispiel BiZuKi
7 Fazit
Literaturverzeichnis.
1 Einleitung
In Deutschland wachsen sehr viele Kinder und Jugendliche mehrsprachig auf. Jedoch ist es um den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien oft nicht gut bestellt, obwohl sprachliche und kulturelle Diversität in vielen deutschen Schulen zum Alltag gehören. In der Praxis werden mehrsprachige Kinder leider häufig als „Problemgruppe“ wahrgenommen. Die Gründe für die Bildungsbenachteiligung sind nicht immer auf individuelle Lernschwierigkeiten zurückzuführen, sondern auch auf Defizite auf Seiten der Bildungseinrichtung und der Ausbildung der Lehrkräfte. Eine wesentliche Ursache liegt zweifellos in der unzureichenden Vorbereitung der Lehrkräfte auf diese besondere Aufgabe. Es wird davon ausgegangen, dass der Erwerb zweier Sprachen im Prinzip kein Problem ist und dass es im Vorschulalter gelingen müsse, Deutsch als Zweitsprache so zu erwerben, dass eine Beschulung gemeinsam mit einsprachig deutschen Kindern problemlos möglich ist. Die demographische Lage ändert sich jedoch stetig, und so ist es gerade im momentanen Zeitalter durchaus normal, dass Kinder oder Jugendliche die aufgrund der Einwanderungssituation noch keinen oder nur wenig Kontakt zur deutschen Sprache hatten, in der Grundschule oder weiterführenden Schule zu finden sind. Um auch deren Bildungserfolg zu gewährleisten, muss ein Perspektivwechsel im Hinblick auf den Unterricht stattfinden. Denn Schwierigkeiten und Defizite beim Erwerb der Zweitsprache Deutsch führen im Laufe der Schulzeit unter Umständen zu immer größeren Lernschwierigkeiten, die sich auch auf andere Fachbereiche auswirken. Die vorhandenen Kompetenzen in den Herkunftssprachen spielen hingegen in der deutschen Schule kaum eine Rolle. Beschäftigt man sich allerdings mit dem Zweitspracherwerb und der Förderung von Deutsch als Zweitsprache, dann fällt sehr schnell auf, dass die Herkunftssprache beim Erwerb der Zweitsprache durchaus eine große Rolle spielt. Im Hinblick auf die Förderung wird oft festgestellt, dass viele mehrsprachige Kinder in Kindergarten und Grundschule nicht ausreichend Gelegenheiten haben, Deutsch zu lernen. Die Aufgabe dieser Arbeit besteht zum einen darin, den Spracherwerb von Kindern und Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache aufzuzeigen – vor allem im Hinblick auf die sich anschließende Förderung, welche von sehr großer Bedeutung ist. Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen dem Erwerb der Sprache und der Förderung zu erläutern und anschließend verschiedene Fördermöglichkeiten mit dem Schwerpunkt auf einer bestimmten außerschulischen Förderung darzustellen. Da mittlerweile immer mehr Menschen aus Ländern mit unterschiedlichen Herkunftssprachen nach Deutschland kommen, ist es geradezu unmöglich, all diese Sprachen in die Arbeit mit aufzunehmen. Deshalb wird der Fokus vor allem auf dem Vergleich des Deutschen mit dem Türkischen liegen, da es einen großen Anteil türkischstämmiger Schüler und Schülerinnen an deutschen Schulen gibt.
Mithilfe dieses Sprachvergleichs soll die Kontrastive Linguistik und die Chancen, die sie für den Unterricht bietet, herausgearbeitet werden.
2 Die aktuelle Einwanderungssituation und Bildungsbenachteiligung
Wanderungen einzelner Menschen, Gruppen und ganzer Völker in benachbarte oder weiter entfernte Regionen, Länder und Erdteile gibt es, seitdem Menschen existieren. Zum einen sind die weltweite Transformation sozialer und wirtschaftlicher Strukturen, aber häufiger Armut, Arbeitslosigkeit, politische Unruhen, Verfolgung und Kriege häufige Ursachen von Migration. Innerhalb Europas ist Deutschland das Land mit den meisten Zugewanderten.1
Wie in der Tabelle der Asylbewerberzugänge erkennbar ist, hatte Deutschland 2014 mit 202.815 Menschen den größten Anteil an Asylbewerberzugängen. Generell ist seit 2010 ein stetiges Wachstum der Zugänge zu verzeichnen. Einen sogenannten „Migrationshintergrund“ haben zurzeit ca. 20 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen. Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.2 Besonders hoch ist dieser Anteil bei den Sechs- bis Zehnjährigen mit 29 Prozent sowie mit 33 Prozent bei Kindern unter sechs Jahren.3 Dieser Umstand und die fortlaufende Migration lassen darauf schließen, dass es in den nächsten Jahren zu einer deutlichen Veränderung der sozialen Struktur der Schulbevölkerung kommen wird. Angesichts dieser unmittelbar bevorstehenden bzw. in manchen Regionen, Stadtteilen und Schulen schon längst eingetretenen erheblichen Veränderungen was die ethnische und soziale Herkunft der Schüler betrifft, stehen das Bildungssystem, die Schulen und Lehrkräfte vor großen Herausforderungen. Integration ist ohne ausreichende Bildung nahezu unmöglich. Aus diesem Grund ist die Gruppe der mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Bildungsforschung geraten.
Betrachtet man die Ergebnisse einiger großer Studien wie PISA oder IGLU, besteht weiterhin ein beträchtlicher Unterschied in Bezug auf die Bildungsbeteiligung und die Bildungserfolge zwischen jungen Migranten und Nichtmigranten. Ganz besonders betrifft dies die große Gruppe der türkischstämmigen Schülerinnen und Schüler, bei denen sich der Leistungsrückstand zu anderen Gruppen nicht verringert hat.4
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Abbildung 1: Asylbewerberzugänge im internationalen Vergleich von 2010-2014 (Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2014) S. 28
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Abbildung 2: Indikatoren der sozialen Lade in der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund, 2005-2009 (Quelle: Matzner (2012) S. 11
In der Tabelle über die „Indikatoren der sozialen Lage in der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund“ wird ebenfalls deutlich, dass Personen mit Migrationshintergrund häufiger keinen Schulabschluss haben. 2009 lag diese Zahl bei 14,3 Prozent. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass mehrsprachige Kinder und Jugendliche nicht immer den Sprachstand in der Zweitsprache Deutsch erreichen, der notwendig wäre, um ohne zusätzliche Sprachförderung gemeinsam mit deutschen Kindern nach einheitlichen Bildungsstandards beschult zu werden. Mehrsprachige Kinder gelten in der Regel als besonders förderungswürdig und besuchen in Deutschland signifikant häufiger eine Sonderschule oder eine Hauptschule als einsprachig deutsche Kinder.5
Die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft trifft Kinder mit Migrationshintergrund in besonderem Maße. Denn trotz der stetig steigenden Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund gehören sie in Deutschland nach wie vor zu den Bildungsbenachteiligten. Die Ursachen dafür werden in verschiedenen Faktoren gesehen. Vor allem der Zusammenhang zwischen der Beherrschung der deutschen Sprache und dem Schulerfolg wird als essentiell gesehen. Einige Ursachen und Faktoren, die den Zweitspracherwerb beeinflussen, sind in folgendem Schaubild dargestellt.
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Die Forschungssituation bezüglich der Einflussfaktoren ist bislang alles andere als eindeutig. Dennoch sind einige wichtige Faktoren aufgezeigt. Zum einen spielt das Selbstkonzept des Lerners eine große Rolle. Hierbei handelt es sich um affektive Faktoren wie Motivation, Einstellung zur Zielsprache, Stärken und Schwächen und Ängste. Außerdem ist noch das Alter zu nennen, in dem sich der Lerner befindet, wenn er mit dem Zweitspracherwerb beginnt. Ein weiterer Bereich ist das soziale Umfeld, in dem der Lerner aufwächst. Es ist von enorm großer Bedeutung, ob und ich welchem Ausmaß die Deutsche Sprache in der Familie, bei Freunden und im alltäglichen Leben gesprochen wird. Wenn der Lerner in seinem sozialen Umfeld nur wenig oder fast gar nicht mit der Zielsprache – in diesem Fall Deutsch – konfrontiert wird und er nur selten in der Sprache kommunizieren muss, ist es umso schwieriger für ihn, die Sprache zu lernen und einen richtigen Zugang zu ihr zu finden. Eine entscheidende Rolle spielen hierbei auch die Peers. Da sie mehreren Bereichen zugeordnet werden können, haben sie im Schaubild eine Sonderstellung erhalten.
Peers sind häufig eine Art Vorbild und im sozialen Umfeld des Lerners mit die wichtigsten Personen. Somit verhält es sich bei den Peers ähnlich wie bei der Familie. Sprechen die Peers dieselbe Muttersprache wie der Lerner, wird diese Sprache auch meistens zur Kommunikation untereinander genutzt. Anders könnte es im institutionellen und somit dem dritten Bereich des Schaubilds aussehen. Hierbei handelt es sich um den Bereich in dem der Lerner voraussichtlich am meisten Kontakt mit der Zielsprache hat, nämlich in Institutionen wie dem Kindergarten oder der Schule. Dort wird der Lernende aller Wahrscheinlichkeit nach auch häufiger mit Peers kommunizieren, die dessen Herkunftssprache nicht beherrschen. Hier muss er also auf die Zielsprache zugreifen, was förderlich für deren Erwerb ist. Allgemein werden Kindergarten und Schulen als die wichtigsten Orte des Erwerbs eines umfangreichen und elaborierten Wortschatzes gesehen. Ihre Aufgabe ist es, den Lernenden die Zweitsprache zu vermitteln und den Erwerb der Zweitsprache zu fördern. Bei vielen Kindern fallen Schwierigkeiten in der mündlichen Kommunikation nicht immer auf und Probleme werden erst evident, wenn in der Schule im Zusammenhang mit dem schriftlichen Ausdruck weitergehende Fähigkeiten verlangt werden. Einige Kinder haben gelernt, im Alltag in der Zweitsprache zu kommunizieren. In der Schule sind jedoch darüber hinausgehende sprachliche Kompetenzen gefordert. Da der gesamte Unterricht mit der Zeit schriftlich wird, wirken sich bereits geringfügige Sprachschwierigkeiten aus, die im Alltag gar nicht oder nur wenig ins Gewicht fallen.6
Wie der Zweitspracherwerb im Allgemeinen verläuft und Schwierigkeiten diagnostiziert und gefördert werden können, wird im weiteren Verlauf der Arbeit thematisiert.
Im Fokus stehen dabei der Schriftspracherwerb und die Schwierigkeiten, vor denen ausländische Kinder beim Erwerb stehen.
3 Zweitspracherwerb
Zwar wurden die Begriffe „Deutsch als Zweitsprache“, „Muttersprache“ und „Zielsprache“ im vorherigen Kapitel schon erwähnt, allerdings werden sie an dieser Stelle nochmals eingeordnet und gegenüber einigen anderen Begriffen abgegrenzt. Es gibt die Begriffe Deutsch als Erstsprache, Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Deutsch als Fremdsprache (DaF), die nötig sind, um die Situation von DaZ-Lernenden im deutschen Schulsystem zu beschreiben. Die Sprache, die wir – meist im familiären Kontakt – von Geburt an lernen, bezeichnen wir als Muttersprache oder –zumeist in wissenschaftlicher Literatur—als Erstsprache. Wenn die deutsche Sprache von einem Migranten in Deutschland erworben wird, wird sie in dem Zusammenhang als Deutsch als Zweitsprache betitelt. Anders ist es, wenn die Sprache Deutsch in einem anderen Land, wo Deutsch nicht die Amtssprache ist, gelernt wird, in dem Fall wird Deutsch dann als Fremdsprache erworben.7
Lerner des Deutschen als Zweitsprache sind beispielsweise Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die ab dem Besuch des Kindergartens oder der Schule Deutsch lernen, oder Erwachsene, die aus beruflichen, politischen oder privaten Gründen in ein deutschsprachiges Land ziehen und die deutsche Sprache nebenbei erwerben.8
Kinder mit einer anderen Erstsprache müssen nach der Einschulung in Deutschland den Schriftspracherwerb in einer Sprache durchlaufen, die sie entweder noch gar nicht oder lediglich schwach entwickelt haben. Häufig benutzen Kinder beim Eintritt in eine institutionelle Einrichtung wie den Kindergarten ihre Erstsprache. Das ist die Sprache der Familie und in der Regel diejenige des engen sozialen Umfelds und somit ein wichtiger Teil der Identität der Kinder. Die Sprache ermöglicht Kommunikation und vermittelt Sicherheit. Dagegen fühlen sich die Kinder mit Migrationshintergrund in der Zweitsprache, die sie erlernen, häufig unsicher und unverstanden. Der Entwicklungsstand in der Zweitsprache hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt der erste Kontakt mit der neuen Sprache stattfand und mit welcher Intensität die Kinder diese Sprache erleben.9 Weitere Faktoren, die auf den Zweitspracherwerb Einfluss nehmen, wurden in Kapitel 2 bereits erwähnt. Eine weitere kognitive Herausforderung für den Lerner ist es, wenn der Schriftspracherwerb erfolgt, obwohl das Erlernen der Sprache im Mündlichen noch nicht gemeistert wurde. Häufig wird bei dieser Problematik auf den Zusammenhang von Erstsprache und Zweitsprache verwiesen. Ob es einen Zusammenhang zwischen dem Erwerb von der Erstsprache und der Zweitsprache gibt, und wenn ja, von wie großer Bedeutung dieser ist, darüber sind Sprachwissenschaftlicher sich bis heute noch nicht einig. Allerdings wurden in den letzten Jahren einige Hypothesen, die auch diesen Aspekt beinhalten, aufgestellt. Diese werden im weiteren Verlauf der Arbeit dargestellt.
3.1 Die Identitäts-, Kontrastiv- und Interlanguagehypothesen
Allgemein wird zwischen drei „großen“ Hypothesen des Zweitspracherwerbs unterschieden: der Identitiäts-, der Konstrastiv- und der Interlanguagehypothese. Allen drei Hypothesen liegt die Frage des Verhältnisses zwischen Erst- und Zweitspracherwerbs zugrunde.
Auf Basis der nativistischen Reifungstheorien nach Chomsky wurde die Identitätshypothese formuliert. Nativistische Ansätze gehen davon aus, dass die Sprachentwicklung nicht allein mit allgemeinen kognitiven Reifungsprozessen erklärt werden kann. Vielmehr verfügen die Menschen über einen sogenannten „Sprachinstinkt“, also angeborene, spezifische kognitive Fähigkeiten zur Verarbeitung von sprachlichen Mustern.10 Die Identitätshypothese geht davon aus, dass das sprachliche Vorwissen für den Zweitspracherwerb keine besondere Rolle spielt. Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb unterliegen nach dieser Hypothese denselben Prinzipien. Der Zweitspracherwerb ist quasi als zweiter Erstspracherwerb anzusehen und somit sind Entwicklungsverläufe im Erstspracherwerb und im Zweitspracherwerb identisch. Fehlleistungen sind dabei als produktive Zwischenschritte anzusehen und nicht mit der Struktur bereits gelernter Sprachen erklärbar.11
Die Kontrastivhypothese, die auf der Grundlage eines behavioristischen Erklärungsansatzes formuliert wurde, geht im Gegensatz dazu davon aus, dass das sprachliche Vorwissen für den Zweitspracherwerb eine entscheidende Rolle spielt. Obwohl auch der behavioristische Ansatz – bei dem Lernen mit Hilfe von Versuch und Irrtum erfolgt – als überholt gilt, wird im Alltagsverständnis die kindliche Nachahmungsfähigkeit häufig noch als Hauptantriebskraft für die Sprachentwicklung angesehen.12 Bei der Kontrastivhypothese wird davon ausgegangen, dass beim Lernen einer zweiten Sprache Eigenschaften und Strukturen der Erstsprache auf die Zweitsprache übertragen werden. Eine positive Übertragung ist bei Gleichheit oder Ähnlichkeit zu erwarten, große Unterschiede hingegen können zu einer negativen Übertragung führen.13 Für den Spracherwerbsprozess würde dies bedeuten, dass sich ähnliche Sprachen leichter erlernen lassen als unterschiedliche. Fehler bei der Aneignung wären aufgrund des Kontrasts der Sprachen zu erklären. Die Frage, inwieweit sprachliche Aneignungsprozesse im Erst- und Zweitspracherwerb dennoch durch identisch kognitive Prozesse gesteuert werden, ist damit aber noch nicht beantwortet. Aus diesem Grund gelten die beiden Hypothesen mittlerweile als überholt und die Interlanguagehypothese hat sich durchgesetzt.
Versucht man die Interlanguagehypothese einer Lerntheorie zuzuordnen, dann kann man sagen, dass sie eher eine kognitive Ausrichtung hat. Von kognitiven Ansätzen wird meist gesprochen, wenn man nicht-behavioristische Ansätze meint. Sie gehen davon aus, dass für den Spracherwerb von Kindern dieselben Gesetzmäßigkeiten gelten wie für deren übrige kognitive Entwicklung. Die Bedeutung von Wörtern spielt in diesem Fall eine große Rolle, denn über sie erfolgt der Zugang zu formalen Strukturen im Spracherwerb.14 Laut der Interlanguagehypothese durchlaufen Lerner beim Zweitspracherwerb verschiedene Zwischenstadien, die als „Interlanguages“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um grammatische Systeme, die einerseits Merkmale der Zielsprache und der Erstsprache enthalten und andererseits Merkmale, die weder in der Ziel- noch in der Erstsprache zu finden sind. Im Deutschen finden sich einige Termini für „Interlanguages“. Der am häufigsten verwendete ist der Begriff der Lernersprache. Anhand von Verhaltensweisen des Lerners, die häufig als Fehler wahrgenommen werden, kann beurteilt werden, was dieser bereits weiß. Daraus können dann Rückschlüsse auf den Stand der Lernersprache gezogen werden. Hier spielen zwei Begriffe eine wichtige Rolle: die Übergeneralisierung und die Fossilierung. Durch Übergeneralisierung zeigt sich, dass ein Lerner in einem bestimmten Bereich in der Lage ist, Regeln anzuwenden. Formen wie kommte in dem Satz Ein Vogel kommte entstehen dadurch, dass der Lerner eine Regel der Zielsprache, hier die regelmäßige Präteritumsbildung, auf ein unregelmäßiges Verb übertragen hat, er sich der Regel aber bewusst ist. Man kann sich den Zweitspracherwerbsprozess eines Lerners insgesamt als eine Abfolge sich ständig verändernder Lernersprachen vorstellen. Bleibt ein Lerner auf einer Entwicklungsstufe stehen, so spricht man von Fossilierung. Gründe hierfür könnten fehlende Motivation, seinen aktuellen Sprachstand zu perfektionieren aber auch Identitätsprobleme sein.15
Die Interlanguagehypothese kann als Weiterentwicklung beziehungsweise Revision der Identitätshypothese bezeichnet werden. Bezieht man die Interdependenzhypothese mit ein, verschiebt sich das Bild von der einen Zweitspracherwerbshypothese wieder zu zwei sich gegenüberstehenden Theorien. In diesem Fall ist die Interdependenzhypothese dann entsprechend als Weiterentwicklung oder Revision der Kontrastivhypothese zu sehen.
3.2 Die Interdependenzhypothese
Jim Cummins greift die bisherigen Befunde auf und entwickelt die Interdependenzhypothese. Sie besagt, dass sich die Zweitsprache auf Grundlage der Erstsprache entwickelt, von der die Zweitsprache dann profitiert. Wenn keine hohe Kompetenz in einer Sprache ausgebildet ist, kann – so die Annahme – auch keine hohe Kompetenz in der zweiten Sprache erreicht werden. Das würde letztendlich bedeuten, dass Kinder, die keine intakte Erstsprache erworben haben, auch beim Erwerb der Zweitsprache auf Schwierigkeiten stoßen. Darüber hinaus geht Cummins davon aus, dass die Kompetenz, die ein zweisprachiges Kind in der Zweitsprache erreicht, zum Teil vom Stand der Kompetenzentwicklung der Erstsprache beim ersten Kontakt mit der Zweitsprache abhängt.16 An diesem Punkt kann erneut auf das Schaubild „Faktoren die den Zweitspracherwerb beeinflussen“ zurückgegriffen werden. Ein Faktor, der dort aufgezeigt, ist das Alter, in dem sich der Lerner zu Beginn des Zweitspracherwerbs befindet. Laut Cummins kann man davon ausgehen, dass Kinder, welche im Aufnahmeland eingeschult wurden, und somit in niedrigem Alter die Zweitsprache erlernen, auf größere Probleme und Schwierigkeiten stoßen, als Kinder die während der Schulzeit immigriert sind. Eine weitere Frage, mit der sich häufig im Zusammenhang mit dem Zweitspracherwerb beschäftigt wird, ist die Frage inwieweit es hilfreich oder sogar nötig ist, die Erstsprache des Lerners im Aufnahmeland weiterzuentwickeln. Hier konnte in einer Reihe von Studien weltweit gezeigt werden, dass Migrantenkinder erfolgreicher in der Schule des Aufnahmelandes sind, wenn ihre Erstsprache ebenfalls weiterentwickelt wird.17 Mit der Interdependenzhypothese kann gezeigt werden, dass der Erwerb einer zweiten Sprache auf der Erstsprache aufbaut und dass es sinnvoll ist, diese Kompetenzen zu nutzen. Unterstützt wird diese Annahme durch die Unterscheidung zwischen einer situationsgebundenen und einer kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit. Mithilfe dieser beiden Dimensionen wird versucht, die Diskrepanz zwischen kommunikativen Fähigkeiten im Alltag und schulsprachlichen Anforderungen zu begründen. Die situationsgebundenen Sprachfähigkeiten werden BICS (basic interpersonal communicative skills) genannt und umfassen grundlegende Fähigkeiten der mündlichen Kommunikation. Sie sind kontextgebunden und spielen häufig in Alltagssituationen eine Rolle. Bei den CALP (cognitive academic language proficiency) handelt es sich um die kognitiv-akademische Sprachfähigkeit. Sie wird auch als Bildungssprache bezeichnet und hauptsächlich in der Schule manifestiert. Sie soll das Individuum befähigen, Sprache als kognitives Werkzeug zu gebrauchen.18 Betrachtet man diese beiden Begriffe verbunden mit der Interdependenzhypothese ergibt sich folgender Zusammenhang: Die später eingewanderten Kinder – die sogenannten „Seiteneinsteiger“ – haben in ihrer Erstsprache kognitiv-akademische Sprachkompetenzen erworben, die sie auf die Zweitsprache übertragen können. Die in Deutschland eingeschulten Kinder haben zwar die grundlegenden kommunikativen Fähigkeiten in der Erstsprache und in der Zweitsprache erworben, die Förderung kognitiv-akademischer Sprachfähigkeiten setzt in der Zweitsprache jedoch zu einem Zeitpunkt ein, an dem sich die grundlegenden Kompetenzen noch in ihrer Entwicklung befinden. Bei den später eingewanderten Kindern unterstützt das Beherrschen der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit in der Erstsprache den Erwerb dieser Sprachfähigkeit in der Zweitsprache. Welche Möglichkeiten es gibt, den aktuellen Sprachstand eines Schülers zu ermitteln wird im Kapitel zu den Diagnoseverfahren aufgezeigt.
[...]
1 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015a) S.28
2 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015b) S.1
3 Vgl. Matzner (2012) S.9
4 Vgl. Matzner (2012)S. 11
5 Vgl. Ahrenholz/Oomen-Welke (2008) S.63
6 Vgl. Jeuk (2010) S.21
7 Vgl. Rösch (2011) S.15
8 Vgl. Ahrenholz/Oomen-Welke (2008) S.64
9 Vgl. Michalak/ Kuchenreuther (2013) S.123
10 Vgl. Kniffka/ Siebert-Ott (2007) S.33
11 Vgl. Jeuk (2010) S.32
12 Vgl. Rösch (2011) S.23
13 Vgl. Jeuk (2010) S.31
14 Vgl. Kniffka/ Siebert- Ott (2007) S.32
15 Vgl. Jeuk (2010) S.34
16 Vgl. ebd. S.50
17 Vgl. Jeuk (2010) S.50
18 Vgl. Rösch (2011) S.26