Ort und Identität im Hamburger Hafenviertel St. Pauli - Die Talstraße


Forschungsarbeit, 2004

77 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I – Die Vorbereitungen
I.1. Vorbereitungen: St. Pauli statt Amazonas – Von Tagträumen zum Feldforschungspraktikum
I.2. Vorgedanken zur Forschung in der eigenen Stadt
I.3. Die St. Pauli AG
I.4. Thema und Themenfindungsprozess
I.4.1. Zur Wahl der InformantInnen – Anmerkungen zur Talstraße
I.5. Zur Auswahl der Methoden und Vorgehensweisen
I.6. Arbeitsbegriffe im Rahmen des Feldforschungspraktikums

Teil II – St. Pauli: Wohnviertel, Amüsiermeile und ethnologisches Forschungsfeld
II.1. Zur Geschichte St. Paulis
II.2. Die Straße als Forschungsschwerpunkt
II.3. Zwei Wahrnehmungsspaziergänge durch die Talstraße
II.4. Das Problem, InformantInnen zu finden
II.4.1. Der „indirekte“ Weg
II.4.2. Der „direkte“ Weg
II.4.3. Bürokratie und Feldforschung
II.5. Zur Auswahl der InformantInnen
II.5. 1. InformantInnenaufstellung
II.5.2. Nicht aufgeführte InformantInnen

Teil III – Auswertung
III.1. Materialaufstellung
III.2. Die Durchführung der Methoden: Vorgehen, Resultatbeispiele und Reflexion
III.2.1. Interviews
III.2.1.1. Grand-Tour Interviews
III.2.1.2. Leitfragengestützte Interviews
III.2.3. Atlas ti
III.2.4. Schlagwortsortierungen
III.2.5. Mental Maps
III.2.6. Teilnehmende Beobachtung
III.2.7. Wahrnehmungsspaziergänge

Teil IV - Forschungsergebnisse
IV.1. Warum St. Pauli? - „hier ist keine heile Welt!“
IV.2. Eigenschaften St. Paulis und der PaulianerInnen: Der Titel „Paulianer“
IV.3. Selbst- und Fremdzuschreibungen in Konflikt: Ruf und Mythos St. Paulis
IV.3.1. Der Mythos in Hinblick auf Prostitution & Gefahr: Realität und Klischees
IV.4. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold –Erwünschtes Verhalten auf St. Pauli
IV.5. Der Unterschied als Gemeinsamkeit – Oberfläche und Untertöne St. Paulis
IV.6. Zur Datenauswertung und dem Berichtschreiben – Reflexion Forschen in der eigenen Stadt - Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Stadttiger statt wilden Löwen – Fenster auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg)

Abb. 2: Stadtdschungel (Foto: S Katzenberg).

Abb. 3: St. Pauli Hafen (eigenes Foto)

Abb. 4: Fensterdekoration auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg)

Abb. 5: Blick von der Reeperbahn in Nebenstraße (eigenes Foto)

Abb. 6: Raumgestaltung auf St. Paulis Straßen (Foto: S. Katzenberg)

Abb. 7: Fenster auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg)

Abb. 8: Der Hamburger Hafen im 15. oder 16. Jahrhundert (Künstler unbekannt, Quelle: Microsoft Enzyklopädie 2000)

Abb. 9: Aufstellung der InformantInnen (eigene Quelle)

Abb. 10: Materialaufstellung (eigene Quelle)

Abb. 11: Pilesortierung 1

Abb. 12: Pilesortierung 2

Abb. 13: Graffiti auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg)

Abb. 14: Straßenszenario (Foto: S. Katzenberg)

Abb. 15: Logo auf Internetseite der Kiezkicker (Quelle: www.kiezkicker.de)

Abb. 16: Totenkopflogo des FC (Quelle: www.xenofit.de)

Abbildungen Deckblatt (von links nach rechts)

Abb. 4: Fensterdekoration auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg)

Abb. 3: St. Pauli Hafen (eigenes Foto)

Abb. 16: Totenkopflogo des FC (Quelle: www.xenofit.de)

Abb. 7: Fenster auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg)

Abb.13: Graffiti auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg) Foto: Susanne Katzenberg

Einleitung

Die vorliegende Arbeit ist der Bericht über mein Feldforschungspraktikum. Ich führte es im Rahmen einer AG im September/Oktober 2002 und Februar/März 2003 in dem Hamburger Hafenviertel St. Pauli durch. Mein Forschungsziel war, die Zusammen-hänge von Raum und Identität in dem Viertel zu untersuchen.

Das Thema meines Feldforschungspraktikums kann in der Tradition der Community Studies verortet werden. Das Untersuchungsgebiet ist, wie bei klassischen Monographien, räumlich abgegrenzt. Ebenso wie in den ersten Community Studies handelt es sich bei St. Pauli um ein Stadtviertel, beziehungsweise in meinem Fall um eine Straßenzug innerhalb des Viertels. Das Hafenviertel St. Pauli hat, ebenso wie viele Orte der Community Studies, einen marginalisierten Status inne. St. Pauli ist ein ökonomisch und sozial schwaches Gebiet mit einer hohen Kriminalstatistik und Arbeitslosenquote im Hamburger Vergleich. In den frühen Untersuchungen wurde die Community als eine Einheit gesehen „in der einer Gruppe eine gemeinsame Identität über das Bewohnen zugeschrieben wird“ (Wildner 1995: 12). Ich sehe die Gruppe von Leuten, mit denen ich kommuniziert und deren Aussagen ich unter ethnologischem Aspekt analysiert habe, jedoch, den Forderungen Marcus´ gemäß, nicht als eine gleichförmige Einheit, sondern versuche, ihrer Individualität in dem Prozess St. Pauli gerecht zu werden (vgl. Marcus nach Wildner 1995: 13). Der Raum des Viertels St. Pauli wird von mir als kleinster gemeinsamer Nenner genutzt, um die Wechselbeziehungen von Ort(en) und Identität(en) zu erforschen.

Der Bericht, fertiggestellt im August 2003, gibt Vorbereitungen, Themafindung, Durchführung meiner Feldforschung sowie Teile des Prozesses der Berichterstellung wieder. Er ist chronologisch aufgebaut: Er beginnt mit den Vorbereitungen (Teil I), beschreibt dann das Feld St. Pauli (Teil II), anschließend die Forschung (Teil III) sowie ihre Ergebnisse (Teil IV) und endet mit einer Schlussbemerkung. Viele der Kapitel enthalten einen Abschnitt, der meine Reflexionen bezüglich der einzelnen Situationen (wie Themenwechsel, Interviewführung oder Auswertung) wiedergibt.

Alle Namen meiner „InformantInnen“ sind anonymisiert, Orte habe ich teilweise mit veränderten Namen wiedergegeben. Ich benutze den Begriff PaulianerInnen in der Arbeit in dem Sinn, als dass die von mir so bezeichneten Menschen Bezüge zu dem Viertel aufweisen: Sie leben, lebten oder arbeiten auf St. Pauli. Der Begriff PaulianerIn variiert jedoch in den unterschiedlichen Diskursen und darf nicht mit „dem klassischen Paulianer“ in Form eines Titels verwechselt werden. Auf den „typischen Paulianer“ gehe ich gesondert in dem Kapitel IV.2. ein.

Teil I – Die Vorbereitungen

Dieser Teil stellt die Vorbereitungen des Praktikums dar: Meine Vorgedanken zu der obligatorischen Feldforschungsübung, die AG St. Pauli der Universität Hamburg, den Prozess meiner Themenfindung, die Auswahl meiner Methoden sowie eine kurze Einführung in zentrale Begriffe der Feldforschung. Es handelt sich bei meinem Feldforschungspraktikum in erster Linie um ein Praktikum – eine Zeit des praktischen Ausprobierens und Einübens vorher (fast ausschließlich nur) theoretisch Erlerntem. Aus diesen Gründen sind Teile des Berichts sehr persönlich geschrieben und betonen immer wieder den Aspekt des Erfahrungensammelns. Die erste Person benutze ich bewusst, um die Subjektivität meiner Erfahrungen und Forschungsansichten zu unterstreichen.

I.1. Vorbereitungen: St. Pauli statt Amazonas – Von Tagträumen zum Feldforschungspraktikum

Durch einen Studiengangwechsel vor 5 Semestern von einem Literaturstudium hin zur Kulturwissenschaft Ethnologie hatte ich mir vor allem erhofft, ein mehr praxisorientiertes Fach zu studieren. Die damals sehr undefinierte Vorstellung, einmal eigene Forschungen in der „Fremde“ durchzuführen, faszinierte mich. Was der Begriff „Feldforschung“ alles beinhaltet, war mir nicht einmal ansatzweise klar. Ich saß im Sommer 1999 in der Einführungsveranstaltung, mein Reisefieber wurde immer wieder geweckt, ich stellte mir mich als Feldforscherin in fernen Ländern unter gänzlich „anderen“ Menschen vor. In diesen Tagträumen befand ich mich, wenn nicht auf einer Südseeinsel, zumindest in dem Amazonas. Nachdem ich einige Semester studiert hatte, begann sich mein Bild von „Feldforschung“ allmählich zu wandeln und zu konkretisieren. Schließlich kam der Zeitpunkt, an dem ich, der Hamburger Studienordnung gemäß, mein eigenes Feldforschungspraktikum durchführen wollte. Ich hatte bereits an einigen Seminaren teilgenommen, die sich mit dem Thema Stadt auseinander gesetzt hatten. Auf diese Weise hatten die Städte begonnen, mich nicht mehr nur privat, sondern auch in meinen Studien zu faszinieren. So beschloss ich, dass auch das Feld meines Praktikums ein urbanes sein soll. Der Amazonas meiner Tagträume geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Als dann im Sommer 2000 die AG zu St. Pauli unter der Leitung von Prof. Dr. Kokot und Astrid Wonneberger angeboten wurde, schloss ich mich ihr spontan an.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Stadttiger statt wilden Löwen – Fenster auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Stadtdschungel (Foto: S Katzenberg).

Meine ursprünglichen Feldforschungsphantasien der ersten Semester wurden nun mit dieser Entscheidung nicht einmal mehr ansatzweise realisiert: Ich würde mit meiner Entscheidung, auf St. Pauli mein Praktikum zu absolvieren, anstatt in die „Ferne“ zu ziehen, in meinem eigenen Meldebezirk forschen. Weiterhin würde ich ein Umfeld untersuchen, dass mir im umgangssprachlichen Sinn nicht fremd war: Ich lebte auf St. Pauli (wenn auch nicht in dem von der AG beforschten Straßenzug), ich kannte als „Konsumentin“ Teile des Nachtlebens auf dem Kiez und für mich war der Straßenzug ein fast alltäglicher Radweg. Ich brauchte weiterhin keine Fremdsprache anzuwenden oder zu erlernen, sondern konnte mich in meiner Muttersprache verständigen. Ich würde nicht auf die „Fremden“ meiner ursprünglichen Vorstellungen treffen, ich würde mich nicht gegen Tropenkrankheiten impfen lassen müssen, nicht auf fremde Speisen, andere Gerüche, andere Verkehrsysteme einzustellen haben, nicht mit Reisekosten kämpfen oder mir eine temporäre Unterkunft suchen müssen. Die Hälfte meiner Vorstellungen bezüglich Feldforschung war somit schon weggefallen. Stattdessen stand ich vor der Herausforderung, meine urbanen NachbarInnen aus einem anderen Blickwinkel als dem Subjektiv-Alltäglichen zu betrachten. Der Dschungel aus meinen Tagträumen zu Beginn des Studiums realisierte sich also drei Jahre später im Stadtdschungel des Hamburger Hafenviertels St. Pauli, ungefähr acht Gehminuten von meiner Haustür entfernt.

I.2. Vorgedanken zur Forschung in der eigenen Stadt

Der rote Faden einer wissenschaftlichen Untersuchung ist die Forschungsfrage. Die Wahl der Forschungsfrage ist in meinen Augen Entscheidung, die einerseits natürlich eng mit dem Forschungsgegenstand verbunden ist, aber andererseits wird die Entscheidung maßgeblich bedingt durch Vorlieben, Abneigungen und dem Erfahrungshintergrund der forschenden Person.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: St. Pauli Hafen (eigenes Foto)

Ausschlaggebend bei meinem Ent-schluss, innerhalb Hamburgs zu forschen, war die Tatsache, dass ich nicht gebürtige Hamburgerin bin. Zum Zeitpunkt des Beginns der Forschung lebte ich seit ungefähr 4 Jahren in Hamburg. Die Hansestadt ist mein Hauptwohnsitz, hier findet das Gros meiner Sozialkontakte statt, ich studiere und arbeite in ihr. Hamburg ist nicht nur eine „Station“ für mich, sondern der Ort, in dem sich mein Leben abspielt und sich dabei natürlich mit dem Leben vieler Menschen kreuzt und berührt. Aufgrund dessen, nicht Hamburgerin und auf dem Land aufgewachsen zu sein, hat Hamburg sowohl als individueller Ort als auch in seiner Eigenschaft als Stadt einen gewissen „Neuheitswert“ für mich. Somit ist es für mich persönlich naheliegend, dass ich diesen Ort von verschiedenen Blickwinkeln aus kennen möchte - und einer dieser Blickwinkel ist der einer angehenden Ethnologin.

St. Pauli hat innerhalb Hamburgs einen besonderen Status: Das Viertel ist als ein „verruchter“ Ort bekannt, der als „gefährlich“ gilt, in dem sich Prostitution und Nachtleben abspielen und sich Wege kreuzen, die im Alltag nicht zueinander finden. St. Pauli hat die Reeperbahn, die Hafenstraße und den FC, den einzigen Verein, den „man“ in meinem Umfeld überhaupt gut finden durfte. Bevor ich 1998 nach Hamburg zog, bin ich niemals in Hamburg gewesen – ich wusste nur, es gibt hier zwei in meinen Augen mythische Orte: die Reeperbahn, die damals für mich als pars pro toto für St. Pauli stand, und die Hafenstraße. Momentanes Fazit ist, dass ich die beiden Orte, die mir schon vor dem Zuzug ein Begriff waren, seit 4 Jahren fast ausschließlich nachts als Orte des Ausgehens und Amüsierens nutzte[1]. Und die paar Stunden, die ich nachts dort verbringe, sind kurz und selektiv, ich bin dann mit FreundInnen unterwegs und habe keinen Kontakt zu dem „verruchten“ St. Pauli meiner Fantasien oder dem der Medien. Große Teile des Alltags in der Kieznähe habe ich nie bewusst mitbekommen.

Kurz gesagt: St. Pauli fand ich spannend und somit „beforschenswert“. Die Gründe waren meine Fantasien in bezug auf das Viertel, die natürlich subjektiv waren. Ein Resultat dieser Forschungsgrundlage ist, dass es für mich sehr schwer war, einen Ort zu untersuchen, von dem ich bereits ein starkes vorgefertigtes Bild und emotionale Bezüge hatte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Fensterdekoration auf St. Pauli (Foto: S. Katzenberg)

I.3. Die St. Pauli AG

Im Frühjahr 2001 wurde an der Universität Hamburg ein Stadtforschungsprojekt gegründet, dass sich mit dem Hamburger Hafenviertel St. Pauli beschäftigte. Die Untersuchungen von Hafengebieten und die Erforschung von Akteuren sollen als Grundlage zu einem analytischen Kulturvergleich genutzt werden. In dem darauffolgenden Wintersemester 2001/02 entstand die studentische Arbeitsgemeinschaft St. Pauli. Ziel der Hamburger Gruppe war die Untersuchung der „Ethnographie eines Straßenzuges im Hamburger Viertel St. Pauli“. Der Straßenzug erstreckt sich über Wohlwillstraße – Talstraße – Silbersackstraße – Balduinstraße/Balduintreppe. Innerhalb der AG sollte sich jede/r eine eigene Themenstellung für sein/ihr Praktikum auswählen. Gleichzeitig sollte die Arbeitsgemeinschaft ein Projekt bilden, in dem die unterschiedlichen, individuellen Forschungen miteinander verknüpft werden würden. Das individuelle Datenmaterial sollte allen TeilnehmerInnen zur Verfügung stehen. Ziel war, gleich einem Mosaik, die unterschiedlichen Forschungen zusammenzutragen, um so eine Dokumentation Paulis aus ethnolo-gischer Sicht zusammenzustellen.

Auf den ersten Treffen wurden Texte über St. Pauli ausgetauscht, das Amt für Statistik besucht, gemeinsame Filmabende veranstaltet, eine Ausstellung über den „Mythos St. Pauli“ des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe besichtigt und Führungen mit Hintergrundinformationen über den Straßenzug in Form von Wahrnehmungsspaziergängen von dem Tutor Ingolf Göritz angeboten. Eine Kartierung des Straßenzuges entstand. Währenddessen suchten die TeilnehmerInnen nach möglichen Feldforschungsthemen. Die Exposés wurden erstellt und gemeinsam besprochen.

In der zweiten Phase wurde versucht, übergreifende Leitfragen zu finden, die in jeder Forschung zusätzlich zu dem individuellen Thema aufgegriffen werden sollten. Die Leitfragen sollten sich auch in der Kodierung der Interviews (siehe Kapitel I.5) wiederfinden. Jede/r TeilnehmerIn wurde aufgefordert, in den Interviews Fragen zu stellen, die nicht nur das eigene Thema, sondern auch die der anderen betrafen um so die Gruppenmitglieder zu unterstützen. Es wurden auch gemeinsame Super-Codes entwickelt, die bei Datenauswertung mit Atlas ti verwendet werden sollten.

Im Sommer 2002 begann die Zeit im Feld. Die Treffen der AG fanden, auch aufgrund der Semesterferien, nur sporadisch statt. Die TeilnehmerInnen standen in lockerem Kontakt zueinander. Während des Wintersemesters 2002/03 wurden teilweise weiter Daten gesammelt, das Material ausgewertet. Ab der vorlesungsfreien Zeit vor dem Sommersemester 2003 wurden die Berichte geschrieben.

Reflexion:

Das Projekt St. Pauli war zeitlich gesehen sehr lang für ein Feldforschungspraktikum – hinzu kam die Zeit, die ich unabhängig von der AG zum Erstellen des Berichtes benötigte. Während der Phase der Vorbereitungen, die sich immerhin über ein Jahr erstreckte, konnte ich es kaum erwarten, endlich praktisch zu arbeiten. Die Zeit im Feld verflog dagegen und schien viel zu kurz zu sein. Der große Arbeitsaufwand ließ mich selbst spüren, dass Feldforschungen das „Ergebnis systematischer, bewusst geplanter Forschungen“ sind (Fischer 1998: 73). Zu Beginn meines Studiums und bis hin zu dem Feldforschungspraktikum war dies theoretisches Wissen, und es war für mich hilfreich, es innerhalb einer Gruppe in die Praxis umzusetzen. Ein erwähnenswerter Aspekt der intensiven Vorarbeiten war jedoch auch bei mir, dass ich an die praktische Zeit im Feld viel zu hohe Erwartungen gestellt hatte und oft zunächst nach Beobachtungen oder Interviews enttäuscht war. Es dauerte eine Weile, bis sich die Theorie in meinem Kopf gesetzt hatte und ich offen für das Feld wurde. Ich hatte auf den ersten Blick schlagkräftige Aussagen in den Interviews erwartet und lernte erst bei der Datenauswertung, dass einem die wichtigen Zitate beim ausführlichen Bearbeiten des Interviews auffallen. Im Nachhinein, sowohl bei der Datenauswertung als auch bei dem Schreiben des Berichts, kamen mir die ausführlichen Vorbereitungen wiederum zugute: Viele Vorarbeiten zur Geschichte St. Paulis, die auch für das Exposé relevant waren, fließen beispielsweise in das Kapitel der Viertelbeschreibung ein und die Literatur hat mir sehr geholfen, die Codes für meine Interviews zu finden.

In erster Linie hatte ich mir von dem Feldforschungspraktikum innerhalb einer AG Unterstützung bei dem komplexen Vorhaben „Feldforschung“ gewünscht. Im Großen und Ganzen wurde dieser Wunsch auch eingelöst. Positiv war, dass Erfahrungen nicht nur bezüglich des selbständigen Forschens, sondern auch spezifisch St. Pauli betreffend ausgetauscht werden konnten. Texte über St. Pauli, Fernsehberichte, Adressen interessanter Orte und Kontakte wurden gesammelt und den AG–Mitgliedern zugänglich gemacht. Diese Form des Austauschs funktionierte generell gut. In vielen Situationen erwies sich der Gedanke des gemeinsamen Vorarbeitens als realisierbar und „profitabel“. Dennoch stellte sich ebenso schnell heraus, dass es innerhalb der AG bezüglich der allgemeinen Vorgehensweise in Hinblick auf den allgemeinen Fragenkatalog der St. Pauli-AG auch deutliche Diskrepanzen gab: Einige der gemeinsamen Fragen wurden von den einzelnen abgelehnt, da sie als irrelevant oder als nicht angemessen angesehen wurden. Der Vorschlag, die nicht anonymisierten Interviews AG-intern zugänglich zu machen, wurde teilweise vehement abgelehnt. Auch ich fand es nicht vertretbar, dies durchzuführen: Selbst wenn es sich in den von mir geführten Interviews nicht um „heikle“ Themen in meinen Augen handelt, so weiß ich, ob dies meine GesprächspartnerInnen auch so sehen. Jede Person, die sich zu einem aufgezeichneten Interview mit mir bereit erklärt hat, ist ein Vertrauensverhältnis eingegangen, das personengebunden (in diesem Fall mit mir) ausgehandelt wurde. Den von mir interviewten Leuten war klar, dass eventuell Transkripte der Gespräche mit ihnen im Bericht abgedruckt werden – dies aber immer in anonymisierter Form. Hätte ich die Interviews anderen ohne Namensänderungen oder Anfrage an die InformantInnen auch nur AG-intern zur Verfügung gestellt, wäre dies in meinen Augen ein Vertrauensbruch gewesen. Als weiteres Problem empfand ich, dass ausgemacht wurde, in den Interviews Fragen zu stellen, welche die anderen Forschungsthemen betrafen. Der negative Effekt war, dass ich sowohl von meinen GesprächspartnerInnen als auch von mir die Abfrage zu vieler Gebiete verlangte. Dieses Vorgehen führte oft zu Verwirrung und extrem langen Interviews. Es stellte sich zudem heraus, dass nicht alle AG-Mitglieder den Fragekatalog abgearbeitet hatten.

Trotz der Schwierigkeiten sehe ich es als sinnvoll an, das Feldforschungspraktikum im Rahmen einer Arbeitsgruppe durchzuführen: Diese Vorgehensweise kann viel Unterstützung, allein schon bei den Vorarbeiten geben, und hilft über manche Durststrecke sowohl während des Datensammelns als auch beim Berichtschreiben hinweg. Die Differenzen, die im Fall unserer AG auftraten, können in meinen Augen daran gelegen haben, dass die einzelnen Mitglieder, für die es schließlich ihre erste eigene „Forschung“[2] war, auf der einen Seite sehr unterschiedliche Themen behandelten und auf der anderen Seite dadurch auch schlichtweg damit überfordert waren, die auseinanderklaffenden Thematiken zusammenzuführen und gemeinsam allen Ansprüchen weitestgehend gerecht werdend zu bearbeiten. Die generelle Problematik der Teamarbeit sollte jedoch auch bei einem Feldforschungspraktikum im Rahmen einer AG nicht unterschätzt werden: Kooperation in einer Gruppe funktioniert nur, wenn sich alle an die Vereinbarungen halten beziehungsweise diese mit überwiegender Mehrheit vereinbart werden. Die Grundidee des letztendlichen Datenaustausches (auch in anonymisierter Form) funktionierte nicht in unserer AG, teils, da nicht jedeR die Leitfäden abgearbeitet hatte und teils, weil der Kontakt innerhalb der AG in der Phase des Berichterstellens nicht mehr eng genug vorhanden war. Vielleicht hätte ein über wesentlich längere Zeit laufendes begleitendes Seminar über einige dieser Lücken hinweg geholfen.

I.4. Thema und Themenfindungsprozess

Thema meines Forschungspraktikums ist „Ort und Identität im Hamburger Hafenviertel St. Pauli – Die Talstraße“. Zu der Fragestellung nach den Zusammenhängen von Ort und Identität kam ich über Umwege. Mein ursprüngliches Ziel war, eine Untersuchung über das nicht-heterosexuelle St. Pauli durchzuführen. Zu diesem Zweck hatte ich bereits ein Exposé erstellt und die entsprechenden Vorarbeiten geleistet, wie beispielsweise Teile der Homo- und transsexuellen Geschichte St. Paulis zusammenzutragen. Im Verlauf meiner ersten praktischen Nachforschungen, informeller Gespräche und Grand-Tour-Interviews stellte sich heraus, dass sich viele GesprächspartnerInnen in erster Linie auf St. Pauli als ihren bevorzugten Lebensort beriefen und anhand von Merkmalen, die sie Pauli zuschrieben, auch eine Identität aufzubauen schienen. Die Homosexualität der InformantInnen wurde nur indirekt mit St. Pauli verknüpft. In Einzelfällen bezogen sich Männer, oft in Zusammenhang mit Szenezugehörigkeit, auf das Viertel St. Georg. Mein Eindruck verfestigte sich, dass Fragen bezüglich Homosexualität und St. Pauli im Allgemeinen die GesprächspartnerInnen dazu brachten, nur aus einem Gefühl der Erwartungshaltung meinerseits Verbindungen aufzustellen. Viele der GesprächspartnerInnen hoben deutlich hervor, dass sie St. Pauli bewusst als Wohn- und Lebensort wählten und selektive Anteile des Viertels in ihrer Selbstwahrnehmung eine relevante Größe darstellen. Als Reaktion begann ich, Informationen über die Verbindung von Identität und Orten auf Pauli zu sammeln. Auf diese Weise rückte die Thematik Ort und Identität auf St. Pauli in den Fokus meines Forschungspraktikums. Durch das Aufarbeiten entsprechender Literatur begann sich das Konzept zur Untersuchung dieses neuen Schwerpunktes zu verfestigen und resultierte in der hier vorgestellten Thematik.

Reflexion:

Der Themenwechsel bedeutete natürlich einiges an zusätzlicher Arbeit: Ich musste von vorne anfangen, Literatur zu sammeln, zu lesen und ein Exposé zu erstellen. Der Lerneffekt war dabei groß: Ich hatte mit einer bestimmten Vorstellung ein Forschungsprojekt begonnen, aber es stellte sich heraus, dass meine Grundannahme nicht gegeben war – meine GesprächspartnerInnen schienen die „Eckpfeiler“ St. Pauli-Homosexualität-Identität nicht zusammenzuführen. Dies machte anscheinend nur ich als Außenstehende, die weder in unmittelbarer Kieznähe lebt noch homosexuell ist. Aus den informellen Gesprächen und den ersten Grand-Tour- Interviews konnte ich aber deutlich erkennen, dass der Wohn- oder Arbeitsort St. Pauli dennoch einen Einfluss auf Selbstbilder ausüben kann. Der thematische Wechsel musste somit zwangsläufig vollzogen werden, um nicht an den Aussagen meiner GesprächspartnerInnen „vorbeizuforschen“.

I.4.1. Zur Wahl der InformantInnen – Anmerkungen zur Talstraße

Innerhalb meines ersten Forschungsvorhaben hatte ich mir den Abschnitt der Talstraße zwischen Simon-von-Utrecht-Straße und Reeperbahn ausgesucht, da sich an ihn der transsexuelle Strich angrenzt und in dem Talstraßenabschnitt selbst eine Vielzahl an nicht-hetero-Sexgewerbe befindet. Auch nach der thematischen Verschiebung benutzte ich die Talstraße weiterhin als einen örtlichen Schwerpunkt in meiner Forschung.

Die Straße wurde so zum Kriterium bei der Wahl meiner InformantInnen: Der Großteil meiner GesprächspartnerInnen wohnt(e) oder arbeitet in der Talstraße. Ausschlaggebend für die Wahl des geographischen Schwerpunkts war, dass in dieser Straße unterschiedliche Eigenschaften St. Paulis auf engem Raum zusammen geführt werden.

- Die Talstraße ist eine Wohnstraße mit heterogener Bevölkerung: Es leben dort sowohl RentnerInnen, Familien, Wohngemeinschaften und Alleinstehende unter-schiedlichen Alters.
- Sie weist eine Infrastruktur für die Bewohner auf, die nicht in allen Wohnbereichen Paulis zwingend vorhanden ist: Es gibt einen Supermarkt in der Straße, das Einwohnermeldeamt liegt direkt an der Kreuzung Talstraße – Simon-von-Utrecht-Straße, es gibt einen Getränkefachladen, ein Kiosk, eine Nachbarschaftskneipe, die U-Bahn-Haltestelle Reeperbahn befindet sich an der Kreuzung zum Kiez. Imbisse, Restaurants und die Heilsarmee sind ansässig.
- Weiterhin sind Geschäfte wie ein Herrenunterwäscheladen, ein Tanzschuhgeschäft, ein Blumenladen, ein Gitarrenfachgeschäft, ein Handyladen, zwei „Ramschläden“ und ein Antiquariat (das wahrscheinlich im Laufe des Jahres schließen wird) vorhanden. Als zusätzliche „Serviceläden“ gibt es einen Kosmetiksalon und eine Gaysauna.
- Auch das für St. Pauli oft programmatisch empfundene Sexgewerbe befindet sich in der Straße: Sexshops und Kinos (sowohl hetero- als auch homosexuell orientiert) und mindestens ein Hotel, das als Stundenhotel fungiert. Der bereits erwähnte transsexuellen Strich grenzt an die Straße und es wird in den Hinterhöfen der Talstraße Prostitution ausgeübt.

I.5. Zur Auswahl der Methoden und Vorgehensweisen

Bei meiner Forschung handelt es sich um eine qualitative Untersuchung. Grundkonzept war, auf der Basis von Grand-Tour-Interviews Domänen von Identität und Ort der PaulianerInnen zu erkennen. Es folgten leitfadengestützte Interviews, die auf die erarbeiteten Domänen abzielen. Parallel zum Interviewverfahren wurden Piles sortiert und Mental Maps erstellt. In der Auswertung wurde die Beziehung Identität und St. Pauli auf ihre Sinnzusammenhänge analysiert. Die Auswertung geschah vor einem Hintergrundwissen, das durch Quellenanalyse (Zeitungsberichte über St. Pauli, historische Literatur und Fernsehreportagen) und der Aufarbeitung ethnologischen Materials entstanden ist. Ich versuchte während meiner Zeit im Feld mit unterschiedlichen empirischen Methoden und Verfahren zu arbeiten. Im Folgenden die Auswahl dieser.

Quellenanalyse

Historische und ethnologische Literatur diente zur Einarbeitung und Vertiefung in die Thematik. Ähnliche Studien konnten mir wichtige Anhaltspunkte für meine Feldforschung bieten. Moderne Medien, wie das Internet, wurden in die Recherche miteinbezogen. Hinzu kam das visuelle Medium Film, sowohl als Spiel- als auch als Dokumentarfilm.

Interviews

Interviews mit Akteuren sollten die individuellen Erfahrungswelten und Handlungsmotivationen wiedergeben. Unstrukturierte, narrative Interviews (Grand-Tour) ermöglichten, einen Überblick über bestehende Themen und Meinungen zu erhalten und kamen deshalb vor allem in der explorativen Phase zum Einsatz. Sobald sich erste relevante Themen (Domänen) herauskristallisiert hatten, wurden leitfadengestützte Interview eingesetzt, in denen ich zusätzlich den Leitfragenkatalog der AG bearbeitete. In den leitfadengestützten Interviews legte ich großen Wert auf die biographischen Angaben meiner GesprächspartnerInnen in Verbindung mit dem Viertel St. Pauli. Als Hilfsmittel zur Auswertung der Interviews habe ich das Computerprogramm Atlas ti benutzt (siehe Kapitel III.3.).

Mental Maps

Mental Maps geben die Vorstellungswelten der Akteure wieder. In ihnen zeigen sich Raumwahrnehmung, persönliche Grenzziehung und emotionale Bezüge innerhalb St. Paulis.

Wahrnehmungsspaziergang

Wahrnehmungsspaziergänge dienen dazu, Eindrücke zu sammeln und festzuhalten. Im Gegensatz zu der teilnehmenden Beobachtung werden sie nicht zielgerichtet auf eine bestimmte Situation, sondern umfassend und offen eingesetzt.

Teilnehmende Beobachtung

Die teilnehmende Beobachtung gilt als eine Hauptquelle des ethnologischen Datensammelns. Durch Beobachtung werden Situationen festgehalten und analysiert.

Innerhalb meines Praktikums diente die teilnehmende Beobachtung sowohl zur Vervollständigung des Bildes, das ich durch InformantInneninformation bekommen habe, als auch als Grundlage, relevante Fragen (weiter-) zu entwickeln.

Free Lists und Schlagworte

Die Free Lists erschließen Domänen. Aus den daraus resultierenden Erkenntnissen und aufgrund von Schlagwörtern, die sich in Interviews wiederholten, erstellte ich zu sortierende Begrifflisten. Auf Karten notierte ich die entsprechenden Begriffe und bat InformantInnen, diese bestimmten Reihenfolgen nach zu sortieren. Die individuellen Bezüge und persönliche Hierarchien sollten mit Hilfe dieser Methode herausgefunden werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Blick von der Reeperbahn in Nebenstraße (eigenes Foto)

I.6. Arbeitsbegriffe im Rahmen des Feldforschungspraktikums

Das Thema meiner Feldforschung beinhaltet als Schwerpunkt die Auseinander-setzung mit den Begriffen Ort/Raum und Identität. Ort und Identität sehe ich als eine begriffliche Basis an, auf der sich Ortsbezogenheit, der Heimat-Begriff und lokale Identität aufbauen. Die letztgenannten drei Termini verstehe ich als hierarchisch geordnet, aber es ist untersuchenswert, ob bestimmte Aspekte eine Kondition für eine weitere Kategorie bilden (Beispiel: Liegt dem Heimatgefühl beziehungsweise dem Sich-zu-Hause-Fühlen eine selbstzugeschriebene lokale Identität zugrunde oder können diese beiden Kategorien getrennt voneinander existieren?).

Ort:

Der Begriff Ort beinhaltet im Rahmen dieser Arbeit kognitive und emotionale Bezüge. Ein Ort ist nicht allein durch seine physischen Gegebenheiten existent, sondern wird auch durch die Bedeutung, die ihm von den Menschen zugeschrieben wird, wahrgenommen. Handlungen, Ereignisse und menschliche Erfahrungen sind mit ihm verknüpft. Die Bedeutung, mit der ein Ort ausgestattet wird, ist jedoch nicht nur individuell, sondern wird auch durch gesellschaftliche Zuschreibung und Sozialisation vermittelt und kann somit von Gruppen geteilt werden. Nach Relph ist die räumliche Ausdehnung eines Ortes variabel: Er kann von der Fläche des persönlichen Raums bis hin zum Gebiet eines Nationalstaates variieren (Relph nach Hutter 1990: 8).

Ortsbezogenheit:

Wichtig ist der grundlegende Gedanke, dass trotz eines Wohnsitzes oder einer langen Arbeitszeit an ein und demselben Ort von einer Person nicht zwangsläufig Ortsbezogenheit aufgebaut und der unmittelbare Lebensraum als identitätsstiftend angesehen werden muss. Im Falle einer Identifikation mit einem Ort kann diese über landschaftliche/städtebauliche Merkmale verlaufen. Die Merkmale repräsentieren für den/die BewohnerIn ihre sozialen Erfahrungen. Die physische Umwelt kann ein Gefühl des Vertrauens, der Sicherheit und des „Zuhause-Seins“ hervorrufen.

Ortsbezogenheit kann zu einem Engagement für einen Ort führen (aktive Ortsbezogenheit) oder auch ohne sie geschehen (passive Ortsbezogenheit). Aktive Ortsbezogenheit kann unter anderem politisches Engagement in einer ortsbezogen arbeitenden Gruppe bedeuten. Konkretes Beispiel in St. Pauli wäre das Projekt Park Fiction, das sich die Umgestaltung und Aneignung einer Grünfläche vorgenommen hat. Passive Ortsbezogenheit bedeutet die Abwesenheit jeglichen Engagements trotz lokalem Bezugs.

Die unterschiedlichen Ebenen der Erfahrung, die ein Ort übertragen kann, basieren auf seinen besonderen Eigenschaften. Relph benennt folgende (Relph nach Hutter 1990: 8):

- Lage im Raum:

Meistens sind Orte im Raum fixiert. Dies ist aber nicht zwingend notwendig, da auch Lager mobiler Gruppen als Orte verstanden werden können und selbst eine nomadische Lebensweise eine Entwicklung von Ortsbezogenheit zulässt.

- Physische Erscheinung:

Orte besitzen sichtbare Formen, die zu Charakteristika werden können.[3] Die Physiognomie eines Ortes oder seine Elemente können von Gruppen als Merkmal aufgefasst werden und Symbole für eine Gruppenidentität werden. Die symbolische Ortsbezogenheit kann als Sonderfall der Ortsbezogenheit gesehen werden. In ihrem Fall wird der Bezug zur räumlichen Umwelt quasi komprimiert und Menschen beziehen sich beispielsweise nur auf einen Namen, ein Etikett oder eine bestimmten Ausschnitt eines Raumes.

- Zeitliche Dimension:

Gruppen und Individuen können durch Orte ein Gefühl von Kontinuität vermittelt bekommen. Indem beispielsweise ein Haus, das als ein Bezugspunkt für eine Gruppe von Menschen dient, über Jahre hinweg besteht und genutzt wird, kann angesichts des langen Vorhandenseins dieses Ortes das Gefühl einer langen Existenz vermittelt werden und somit den Zusammenhalt der Gruppe verstärkt werden.

- Motivation:

Persönliche und kollektive Erfahrungen mit einem Ort können zur Bindung an einen Ort und bis hin zu einem (organisierten) Engagement für diesen führen (siehe aktive bzw. passive Ortsbezogenheit).

Identität und lokale Identität

Der Begriff der Identität wird von mir in enger Anlehnung an die Ausführungen Barths zum Begriff der Ethnie verwendet (vgl. Barth 1981). Grundlegend wird die ethnische Zugehörigkeit nach Barth nicht in dem weiten Feld des Begriffes Kultur verortet, sondern basiert auf Prozessen von Zuschreibung und Ausgrenzung seitens der Akteure. Ethnische Zugehörigkeit ist kein festgelegtes Set von Merkmalen, das in jeder Lebenssituation in gleicher Form genutzt wird, sondern ein Prozess, der immer wieder neu ausgehandelt wird und flexible, situationsgebundene Merkmale mit sich trägt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Raumgestaltung auf St. Paulis Straßen (Foto: S. Katzenberg)

Das Hervorheben der Mechanismen von Zuschreibung und Abgrenzung impliziert, dass die sozial relevanten Fakten allein als diagnostisch anzusehen sind. „Objektive“ Unterschiede können dagegen von Akteuren oft außer Acht gelassen werden. Solange ein Akteur sich als A im Gegensatz zu B bezeichnet, ist dieser Akteur zumeist gewillt, A-gemäß zu handeln, aber auch als A behandelt und als A-zugehörig interpretiert zu werden. Hieraus verdeutlicht sich, dass die Opposition zu B ein relevanter Faktor in A´s Selbstbild ist.

Nach Barth liegt der Fokus in der Untersuchung der Konstruktion von ethnischer Zugehörigkeit nicht auf den Geschehnissen wie der Kultur innerhalb des Gebietes von A, sondern auf der Untersuchung der Grenzziehung der Akteure (oder der jeweiligen Gruppen) A und B. Der Aspekt der Kultur wird nicht mehr als ein primäres Merkmal zur Herausbildung ethnischen Bewusstseins, sondern als ein Resultat dessen betrachtet. Der Aspekt des Gegensatzes ist somit genauer zu untersuchen: Was sind die Vorbedingungen, um Gegensätze überhaupt zu konstruieren, worin besteht der Profit, der aus ihnen gezogen wird?

Die ethnische Grenze hat die Aufgaben, den Sozialkontakt zu kanalisieren und die Situationen im Sozialkontakt zu regeln. Ihre Struktur wird so gestaltet, dass die Gegensätze aufrecht erhalten werden können. Komplexe polyethnische Systeme müssen so höchst effektive Grenzerhaltungsmechanismen aufweisen.

[...]


[1] Hierbei beziehe ich mich auf den Kiez St. Paulis (Reeperbahn und von ihr abgehende Straßen) und

nicht die weitläufigen Wohnviertel des Quartiers.

[2] Forschung setze ich an dieser Stelle nicht in Anführungsstriche, um unsere Bemühungen in Frage zu stellen, sondern um zu betonen, dass es sich um Praktika handelte und die Zeit im Feld nur 6-8 Wochen betrug – also deutlich kürzer war als bei einer „professionellen“ wissenschaftlichen Feldforschung.

[3] In meiner Forschung gehe ich davon aus, dass die von Relph genannten Formen nicht immer sichtbar sein müssen. Auch eine typische Geräuschkulisse, Gerüche und andere sinnliche Wahrnehmungen können als Charakteristika dienen.

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
Ort und Identität im Hamburger Hafenviertel St. Pauli - Die Talstraße
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Ethnologie)
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2004
Seiten
77
Katalognummer
V46471
ISBN (eBook)
9783638436625
ISBN (Buch)
9783638718066
Dateigröße
944 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es handelt sich um einen ausführlichen Feldforschungsbericht eines obligatorischen Feldforschungspraktikums. Methodische Herangehensweise, persönlicher Erfahrungsbericht, Datensätze, Auswertung und eine theoretische Einordnung in die Stadtethnologie sind enthalten.
Schlagworte
Identität, Hamburger, Hafenviertel, Pauli, Talstraße
Arbeit zitieren
Julia Dombrowski (Autor:in), 2004, Ort und Identität im Hamburger Hafenviertel St. Pauli - Die Talstraße, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46471

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