Funktionen des erinnernden Erzählens in Ernesto Sábato: „Sobre héroes y tumbas“

Analyse und Interpretation der Erinnerungsstrukturen


Dossier / Travail de Séminaire, 2005

27 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Resümee der histoire

3. Analyse der Erzählsituation und Erinnerungsstruktur

4. Funktionen des erinnernden Erzählens
4.1 Enigmatisierung der Erzählsituation
4.2 Erinnerung als Prozess individueller Schicksalsbewältigung
4.2.1 Martíns Initiation – Verzweiflung und Hoffnung
4.3 Erinnerung als Konnex zwischen argentinischem und individuellem Bewusstsein
4.3.1 Alejandra – Geheimnis und Fluch

5. Konklusion

6. Bibliographie

1. Einleitung

Im Proömium zu seinem im Jahr 1961 erschienenen Roman „Sobre héroes y tumbas“ beschreibt der argentinische Romancier Ernesto Sábato sein zentrales Anliegen – die Erforschung jenes „oscuro laberinto que conduce al secreto central de nuestra vida“ (S. 7)[1]. Damit markiert er a priori den Roman als Kombination von kunstvoller Fiktion und existentieller Philosophie, „in der Octavio Paz die auffallendste Übereinstimmung von Romantik und Avantgarde hat sehen wollen.“[2] Doch zählt der Roman „Sobre héroes y tumbas“ zu denen des so genannten lateinamerikanischen Booms, die einerseits weltliterarischen Ruhm erlangten und sich andererseits vehement von den aus Europa vorgegeben, modernen Erzählmodellen mit dem Primat der Form distanzierten, um mit der nueva novela eine spezifisch eigene literarische Kunstrichtung zu kreieren. Eines jener Spezifika findet sich wohl im Substrat der kulturhistorischen Bedingungen Lateinamerikas begründet, die als ein wesentliches Interpretament einer Hermeneutik dieser Werke festgehalten werden müssen.[3] Doch wie äußert sich die besagte Eigenheit nun in einem Roman, der dem Titel nach nüchtern „über“ Helden und Gräber zu berichten weiß? Zunächst weist die vorausgehende Noticia preliminar (S. 9), ein Auszug aus einem Polizeibericht über den rätselhaften Mord der Tochter einer angesehenen argentinischen Familie, Alejandra Vidal Olmos, an ihrem Vater und sich selbst, in Richtung eines Detektivromans. Doch folgt im Haupttext nicht der Bericht einer kriminalistischen Aufklärung des Verbrechens, sondern eine Illustration der ersten und zugleich bitteren Liebe des siebzehnjährigen Martín del Castillo zu eben jener Alejandra, bei der der Protagonist eine innere Entwicklung durchläuft, was exemplarisch für den Typus des Bildungsromans steht. Des Weiteren werden die Familiengeschichte Alejandras auf dem Hintergrund der argentinischen Historie und die Lebensbedingungen des städtischen Milieus von Buenos Aires entfaltet. Obwohl eine Charakterisierung des Romans also viele mögliche Nuancierungen gestattet und demnach nicht eindeutig bestimmbar erscheint, ist m. E. der Modus des erinnernden Erzählens sein wesentliches Charakteristikum und bildet das Fundament zur Entfaltung verschiedenster Zusammenhänge. Mittels der Erinnerung bestreiten die Figuren den Weg in das „Labyrinth“ ihres inneren Gedächtnisses und konstruieren vielfältige Assoziationen, deren Bezüge sowohl auf der Geschichtsebene als auch auf der Erzählebene generiert werden. Inwiefern die narrative Externalisation der erinnerten Erlebnisse, Empfindungen, Wünsche, Interessen oder Erwartungen in die Außenwelt das Geheimnis des Lebens zu enthüllen vermag und welche Funktionen die Erinnerung in „Sobre héroes y tumbas“ im Einzelnen genau einnimmt, soll im Zuge dieser Arbeit erörtert und expliziert werden. In dieser Hinsicht wird vorab die Handlung auf der Geschichtsebene resümiert, so dass die Analyse der Erzählsituation in seiner Originalität des erinnernden Erzählens zum Plot des Romans in Relation gesetzt werden kann. Im Anschluss sollen drei Thesen der Funktion des mehrschichtigen Erinnerungsgefüges eruiert und anhand der Protagonisten sowie der argentinischen Eigentümlichkeit plausibilsiert werden, um zu einem abschließenden Urteil über die Erinnerungsstruktur des Romans zu gelangen.

2. Resümee der histoire

Wie bereits erwähnt, beginnt der Roman mit der apriorischen Noticia preliminar, einem in der argentinischen Zeitung La Razón veröffentlichten Polizeibericht aus dem Jahre 1955, der die folgenden fiktiven Ereignisse in einen vermeintlich authentischen Kontext einbettet und als Garant ihrer Wahrhaftigkeit fungiert.[4] Dem Bericht zufolge habe sich am Vorabend Alejandra Vidal Olmos mit ihrem Vater Fernando im Mirador ihres Anwesens eingeschlossen, ihn mit gezielten Schüssen getötet und sich selbst bei lebendigem Leibe verbrannt. Als mögliches Motiv wird auf eine „repentino ataque de locura“ angespielt, die aber von dem Fund eines Manuskripts des toten Fernando, dem „Informe sobre ciegos“, der eine „hipótesis más tenebrosa“ des Verbrechens eröffnet, konterkariert wird. Die Vorwegnahme dieses Faktums rekurriert auf das Modell eines Kriminalromans, das aber von dem Mysterium der Hintergründe des Verbrechens zugunsten der Erwartungshaltung eines Geheimnisromans unterlaufen wird.

Die eigentliche Handlungsebene beginnt anschließend in I,1 an einem Sonntagabend im Jahr 1953, als der junge Martín im Park Lezama von Buenos Aires eine schicksalhafte Begegnung mit der etwa gleichaltrigen Alejandra erlebt, die ihn existentiell berührt: „[...] ya no era la misma persona que antes. Y nunca lo volvería a ser.“ (S. 17). Obwohl die erste Begegnung nur flüchtig ist, weiß Martín, dass er das Mädchen wieder sehen wird (S. 18). Allerdings vergeht geraume Zeit, in der er regelmäßig ihre erste Begegnungsstätte aufsucht, um die – wie er bald glaubt – sonambulöse Erscheinung (S. 29) wieder zu treffen. Im Gegensatz zu Martíns Unsicherheit, tritt Alejandra ihm gegenüber überlegen auf, da sie es scheinbar in der Hand hat, ihn zu jeder von ihr gewünschten Zeit und an jedem beliebigen Ort zu finden (S. 18, 46). Die Beziehung, die sich zwischen den beiden Figuren entwickelt, ist daher von vornherein asymmetrisch geprägt und steht unter enigmatischen, rational nicht nachvollziehbaren Vorzeichen, die für beide Charaktere fatale Konsequenzen nach sich ziehen sollen; „Y así empezó (explicó Martín) la terrible historia.“ (S. 48). Die Liebesgeschichte nimmt zunächst einen aufregenden Verlauf, wobei Martín der Unbekannten ohne Scheu von seinem Vater, einem erfolglosen Maler (S. 23), und seinem seelischen Trauma einer Mutter, die ihn absolut nicht wollte, erzählt (S. 24). Neben die Darstellung der düster romantischen Liebesbegegnung tritt infolgedessen ein zweiter Sujethorizont, der in der realistischen Milieuschilderung des Kleinbürgertums von Buenos Aires den Hergang des weiteren Romans stringent durchzieht. Während Martín in dieser Szene einen wahren „Seelenstriptease“ vollzieht, reagiert Alejandra mit „aquellas oscuras palabras“ (S. 27), die ihre geheimnisvoll ambivalente Persönlichkeit manifestieren: „Aunque por otro lado pienso que no debería verte nunca. Pero te veré porque te necesito.“ (S. 27). „Schritt für Schritt wird also dem Leser die Figur des Martín enthüllt und im Gegensatz die der Alejandra verrätselt.“[5] Nach einem elliptischen Zeitsprung von knapp zwei Jahren, in denen in Martíns Leben kaum etwas anderes erwähnenswert scheint, als die Tatsache, dass er die verzagte Suche nach Alejandra nie aufgegeben hat, taucht diese mit dem Selbstbewusstsein einer femme fatal (S. 48) auf und instrumentalisiert ohne Weiteres den konsternierten Martín zum „seelischen Mülleimer“ ihrer Launen; „yo soy una basura“ (S. 123). Da Martín sich aber naiv und blind vor Liebe von ihrem obskuren Wesen in den Bann ziehen lässt (S. 48), fällt es Alejandra leicht, ihr Spiel mit ihm zu treiben „[…] casi siempre, adivinaba sus pensamientos.“ (S. 48). So bestellt sie ihn mal hierhin, mal dorthin, sucht ihn tags- und nachtsüber auf, ist gutgelaunt oder agiert in unmotivierten Wutausbrüchen (S. 131), ist redselig oder schweigt je nach ihrer Façon. Das düstere Geheimnis, das ihr unerklärliches Verhalten explizieren könnte, scheint evident zu werden, als Alejandra ihn mit zu sich nach Hause nimmt (S. 49). Doch an diesem Ort, in einem völlig verfallenen, ehemals herrschaftlichen Landsitz, der von einer „familia de locos“ (S. 53) bewohnt ist, kulminiert das Gefühl der Unauflösbarkeit des Rätsels um Alejandra. Denn dreimal distanziert sie sich in dieser Szene von Martín und weicht seinen Annäherungsversuchen aus, als er auf „ciegos“ (S. 50) zu sprechen kommt, bzw. der Name Fernando (S. 56) fällt und er sie nach ihrem Vater (S. 58) fragt.

In diesem Abschnitt wird eine weitere Themenebene eingeführt, die den gesamten Roman in gewissem Sinne umklammert. Ausgehend von Alejandras Erzählungen über ihre Familie (S.50ff.) führt zunächst ihr Urgroßvater Pancho die Narration eines Fragments der argentinischen Geschichte fort (S.87ff.), die sich im weiteren Verlauf als „La marcha de Lavalle“[6] verselbstständigt und im letzten Teil des Romans „Un dios desconocido“ die aktuelle Situation in der fortwirkenden, großen Historie definitiv verankert. Nach den Unabhängigkeitskriegen (1817­–20), spaltet sich Argentinien in zwei kontrovers politische Lager, die Partei der Unitarios und der Federales. Der General Lavalle, Anführer der Unitarier, löst mit der Hinrichtung des gegnerischen Parteigängers Dorrego den argentinischen Bürgerkrieg von 1840/1 aus. Während der entscheidenden Schlacht in der Schlucht Quebracho Herrado unterliegt Lavalle seinen Antagonisten und fällt ein Großteil seiner Kohorte. Die übrigen Getreuen, darunter die Mitglieder der Familie Acevedo/Olmos, transportieren seinen Leichnam nach Norden über die bolivianische Grenze, um ihn vor Schändungen zu bewahren. Kampf, Niederlage und Flucht der Lavalle Truppen werden in mehreren Episoden auf die Borte der Erlebnisse Martíns geblendet und begleiten den weiteren Verlauf der Begebnisse.

Martíns schmerzvoller Liebeskummer „Su cabeza era un caos.“ (S. 106) koinzidiert in I,14 mit dem Verlust seiner Arbeitsstelle. Die Erfahrung der beruflichen Zurückweisung wird an die Ablehnung Alejandras (S. 131) in ihrer Affäre gekoppelt. Obwohl sie ihn in die „Geheimnisse“ der Liebe einführt, bleibt sie unnahbar und für Martín jene „dragónprincesa“ (S. 133), die „un mundo desconocido“ (S. 134) personifiziert. Martín sieht sich in ihrer Gegenwart nicht imstande, ihr in ihrem profunden Unwohlsein zu helfen (S. 129, 135), sondern fühlt sich ihrer erbarmungslosen, zerstörerischen Arbitrarität ausgeliefert. Im zweiten Teil „Los rostros invisbles“ lernt Martín die überwiegend negativ konnotierten Gestalten kennen, die Alejandras Leben determinieren, so Wanda, Bordenave sowie den Zuhälter und Industriellen Molinari. Lediglich aus der Bekanntschaft mit Bruno, einem Bekannten der Familie Olmos, entwickelt sich eine Freundschaft, in der Martín den Raum findet, seine unglückliche Liebe reflektieren zu können. „Die Liebesaffäre spielt sich ab in dem als modernes Babel porträtierten Buenos Aires, und das ‘Geheimnis’, das Alejandra in diesem Kontext umgibt […] resultiert aus dem Geflecht der sozialen Beziehungen […].“[7] So ahnt Martín, dass sie als eine Art Prostituierte arbeitet (S.163) und beginnt, angetrieben von seiner Eifersucht, sie zu beschatten. Nachdem sie ungeachtet seiner Liebesbeteuerungen in II,19 versucht, sich von ihm zu trennen, gelingt es Martín schließlich herauszufinden, dass Fernando Alejandras Vater ist (S. 266) und die beiden „como si dos águilas se amasen“ von einer „vehemente pasión“ (S. 260) zueinander ergriffen sind. Während der vielen Nachstellungen der Angebeteten, die sie als frivol und egoistisch entlarven, beobachtet Martín das Panorama der kontingenten Großstadtgesellschaft (S. 175), was seine Verzweiflung sowie seinen Wunsch zur Flucht anwachsen lassen „Así se sentía solo, solo, solo.“ (S. 268) und ihn am Ende seiner seelischen Kräfte in die Kirchenbrandschatzung involvieren, die Peronisten als Racheaktion gegen einen am Vortag, dem 16. Juni 1955, versuchten Putsch effektuieren. Von einer unsichtbaren Kraft angetrieben, landet Martín nach Stunden des Umherirrens schließlich auf dem Plaza de la Inmaculada Concepción, auf dem er Alejandra in einem der alten Häuser zum letzen Mal verschwinden sieht (S. 278). Unmittelbar darauf ereignet sich das in der Noticia preliminar vorausgesagte Unglück. Doch wird diesem der von Fernando verfasste Bericht über die Blinden, der „Informe sobre ciegos“, antizipiert. Darin resümiert Fernando Olmos in der Nacht vor seinem kontinuierlich vorgeahnten und angekündigten Tod seine Ergebnisse der Exploration des Bösen, die er in der Sekte der Blinden repräsentiert sieht. Seine manisch obsessive Mutmaßung einer die ganzen Welt beherrschenden, teuflischen Untergrundbewegung, die sich gegen ihn verschworen hat, führt ihn in „einer Stufenleiter vom Bewußten zum Unbewußten sowie vom Traum zum Wachzustand […]“[8] und endet in einer Odyssee durch die Abwässerkanäle, wo er „[...] en aquel aciago reducto econtraría por fin el sentido de mi existencia.“ (S. 428). Sein Wahn mündet in der Begegnung mit einer magischen Blinden in dem Haus, in dem Alejandra am Ende des vorausgehenden Teils des Romans verschwunden ist. Diese Frau evoziert für ihn das gesamte „Universo de Ciegos“, das Fernandos dunkle Seite der Triebwünsche symbolisiert und nur existiert „para mi voluptuosidad, mi pasión y finalmente mi castigo“ (S. 444). Schließlich vereinigt sich Fernando in überströmender Wollust mit der Ciega, „[…] von der er weiß, daß sie dort auf ihn gewartet hat, daß sie ihn nehmen und dann töten wird, eine Frau, die die Merkmale der großen Mutter aus dem Traum trägt und die natürlich, auch wenn dies nicht explizit gemacht wird, niemand anders ist als Alejandra […].“[9] Das Motiv des im Geburtstrauma assoziierten Inzest- und Regressionswunsches ist die eigentliche „fatalidad“ (S.436) aller Figuren des Romans. Alejandras zügelloses Leben als beziehungsunfähige femme fatal, Fernandos Inzest mit seiner Tochter, die seiner ehemals Geliebten Georgina gleicht, die wiederum ein Abbild seiner Mutter Ana María ist (S. 465),[10] Escolásticas neurotisches, achtzig Jahre andauerndes Verharren neben dem Schrumpfkopf ihres Vaters (S. 53), Martíns Suche nach einem Mutterersatz (S. 267), Brunos unterdrückte Gefühle zu Georgina (S. 19), usw. spiegeln allesamt den postulierten Rekurs auf fatale Eltern-Kind Beziehungen wieder.

Im letzten Abschnitt des Romans vollzieht sich schließlich die angekündigte Katastrophe, die Martín an den Rand des Selbstmords treibt. Eine fremde Frau namens Hortensia Paz rettet sein Leben in letzter Minute (S. 526), indem sie ihm mit der zärtlichen Geste einer Mutter, nach der er sich so lange gesehnt hat, neuen Lebensmut gibt. Das Schlusskapitel endet mit Martíns Fortgehen von Buenos Aires und dem von seinem Freund Bucich begleiteten Aufbruch nach Patagonien, der den erwünschten „paz purísima“ insinuiert.

3. Analyse der Erzählsituation und Erinnerungsstruktur

Die Analyse der narrativen Struktur von Ernesto Sábatos „Sobre héroes y tumbas“ ist auf den ersten Blick aufgrund der verwirrenden Vielfalt der Erzählperspektiven und einer völlig subjektiven Zeitvorstellung, die dem Leser ein Gefühl der Ubiquität suggeriert, schwierig. Es bedarf daher einer fundierten Tiefenanalyse, die es ermöglicht, die Erzählstrukturen zu beschreiben, die verschiedenen Schichten voneinander zu separieren und die Erzählinstanzen auf der Erzähl- und Geschichtsebene sowie ihre Korrelationen zueinander zu bestimmen.[11] Der dritte Teil des Romans, der „Informe sobre ciegos“, soll vorweg gesondert analysiert werden, da er einen besonderen Status in der Erörterung der Erinnerungsfunktionen einnimmt und „eine Art Roman im Roman“[12] darstellt. So ist er der einzige Abschnitt, in dem der Protagonist Martín del Castillo nicht präsent ist und der von einem homodiegetischen Erzähler stammt. Fernando formuliert in der Zeitspanne zwischen seinem Aufwachen in der Villa Devoto und der fatalen Rückkehr in das eigene Haus in der Ich-Erzählsituation einen Bericht über seine forensischen Ermittlungen im Fall der Blindensekte, die objektiv sein sollen (S. 304), de facto aber seinem sexuellen Inzestwahn entspringen. Der Erinnerungsaspekt ist insofern von Bedeutung, da die subjektive Rekonstruktion seiner Erlebnisse im Spiegel seiner obssesiven Wahrnehmung Einblicke in die dunkle Seele des Erzählers gestattet; „Esta feroz lucidez [...] es como un faro y puedo aprovechar un intentísimo haz hacia vastas regiones de mi memoria.“ (S.283). „Perspektivierung und Medialisierung sind die besonderen Darstellungsmerkmale der Ich-Erzählsituation.“[13] Demzufolge ist die Auswahl der Fakten aus der Geschichtsebene und ihre Darstellungsweise auf der Erzählebene des Informe detailliert zu analysieren. Bereits im ersten Satz wird die gesamte Zeit des Informe komprimiert und der nahende Tod angekündigt. Das Gedächtnis des Erzählers ist konfus, seine Erinnerung reicht zwar bis in die Kindheit, fördert jedoch die Widerfahrnisse in einem deliriumartigen Chaos auf der Erzählebene zutage. Die Ordnung des narrativen Materials stimmt dabei mit der Absicht Fernandos zur Objektivität nicht überein, so stellt er sich beispielsweise erst in III,5 vor und integriert den angekündigten Iglesias in III,6 zeitlich verzögert in seine Ausführungen. Der eklatante Anachronismus des Reports geht zurück auf die Überlagerung des erzählenden mit dem erlebenden Ich. Die Ereignisse werden von explizierenden Abschweifungen,[14] Spekulationen (S. 329) und Kommentaren (S. 334) des erlebenden Ich-Erzählers begleitet und illustrieren im jeweiligen Augenblick oder rückblickend in präsentischer Form das zeitungebundene Nachaußentreten von Fernandos labil geisteskrankem Bewusstsein; „Mi conclusión es obvia: sigue gobernando el Príncipe de las Tinieblas. Y ese gobierno se hace mediante la Secta Sagrada de los Ciegos.“ (S.295). Diese Methode der subjektiven Modifikation des Lebensbereichs der Geschichtsebene in ihrer Internalisierung auf der Erzählebene wird ebenfalls in der Dehnung des Erzähltempos der Nacht im Hause der Ciega evident, da ihre Erzählzeit über siebzig Seiten okkupiert. Fernandos Informe entspringt demnach seiner vom Inzestwunsch getriebenen Phantasie und Erinnerung,[15] die sich auf der Erzählebene indirekt mittels des ostentativen Anachronismus und implizit durch die Kommentare manifestieren.[16]

Die Analyse der Erzählsituation des restlichen Romans gestaltet sich wesentlich komplexer und soll deshalb an ihren zentralen Merkmalen expliziert werden. Zunächst kann konstatiert werden, dass ein ambivalentes Verhältnis zwischen der Geschichts- und der Erzählebene vorherrscht, da diese nicht linear konzipiert sind, sondern divergieren. Bereits die Bestimmung des récit premier ist problematisch, soll im Sinne der weiteren Untersuchung aber folgendermaßen festgelegt werden: Die Basiserzählung beginnt „Un sábado de mayo de 1953“ (S. 13) mit der ersten Begegnung zwischen Martín und Alejandra und endet im letzten Kapitel mit Martíns Reise nach Patagonien. Der zeitliche Verlauf ihrer Ereignisse auf der Geschichtsebene wird nicht auf die Erzählebene übertragen, sondern durch zahlreiche Analepsen, Prolepsen und Ellipsen durchbrochen. Die Ordnung, in der die Dinge auf der Geschichtsebene geschehen und die Reihenfolge, wie sie erzählt werden, sind nicht kongruent, da die Erzählebene eine Rekonstruktion der Entwicklung der Ereignisse aus der Erinnerung darstellt, die „auf verschiedene Perspektiven und Stimmen verteilt wird.“[17] „Martín abrió su cortaplumas y dejó que su memoria recorriera aquel tiempo que ahora le parecía remotísimo. Su memoria era como un viejo casi ciego [...].“ (S. 143). Hauptperspektiventräger und Quelle der Erzählung sind dabei Martín und sein Gesprächspartner Bruno, die sich in der Kneipe LaHelvética (S. 166) kennen lernen und ein intimes Verhältnis im Verlauf ihrer Treffen entwickeln. Diese finden vornehmlich nach Alejandras Tod „en aquellos pocos días y noches que siguieron“ (S. 443) statt.[18] Allerdings ist das Ende des récit premier nicht zugleich das chronologische Ende, denn Martín kehrt nach Buenos Aires wieder heim und blickt in Analepsen extern auf die Zeit des récit premier zurück; „Años después, por la época en que Martín volvío del sur, uno de los temas de sus conversaciones con Bruno [...].“ (S.150). „Die zeitlich jüngste Erzählebene ist vielmehr die eines Martín, der inzwischen wieder aus Patagonien zurückgekehrt ist und nun gemeinsam mit seinem väterlichen Freund Bruno die endlosen Grübeleien fortsetzt. Martín bleibt so unentrinnbar an sein Schicksal gekettet [...].“[19] Die in den Gesprächen aus der Distanz formulierten Erinnerungen Martíns sowie Brunos Erzählungen über die Bekanntschaft mit Alejandras Vater im letzten Teil „Un dios desconocido“ werden von einem übergeordneten heterodiegetischen, auktorialen Erzähler delegiert und verschieden angeordnet. Dieser ist allwissend und komplettiert die Erzählung mit Details, die über die vermittelten Informationen aus den Gesprächen hinausreichen[20] und einen Einblick in die Innenwelt der Figuren ermöglichen; „Bruno lo siguió con ojos afectuosos, diciéndose lo que todavía tendrá que sufrir.“ (S. 174). Die direkten oder indirekten Dialoge dienen dabei der Medialisierung der per se auktorialen Erzählung und bilden eine geschichtsimmanente Kette der Informationsweitergabe, die bei Alejandra beginnt „«Sos un muchacho interesante»“ (S.15) und von Martín an Bruno als „Reflektorfigur“[21] der Geschichte weitergeleitet wird „[...] preguntó Bruno [...] dijo Martín que dijo Alejandra.“ (S. 20). Die Figuren fungieren dabei als homdiegetische Erzählinstanzen innerhalb der erzählten Welt, denen der auktoriale Erzähler auf der Erzählebene abwechselnd die Fokalisierung immer wieder attribuiert. Dadurch distanziert er sich von dem Geschehen, um hinter die Perspektiven der Figuren zurückzutreten und deren Erinnerungen in den gemeinsamen Gesprächen autonom aufleben zu lassen. „Durch die verwendete simultane Erzähltechnik werden alle Elemente des Romans in die Ebene einer von den Protagonisten unmittelbar erlebten Zeit eingebettet. Die diese zeitliche Simultaneität repräsentierende Kollagetechnik führt allerdings zu einer Zersplitterung der einzelnen Themenstränge [...].“[22] Der Effekt der Autonomie der Figurenperspektiven wird durch das zwischenzeitliche Hineinverlegen des extradiegetischen, allwissenden Erzählers in eine intradiegetische Erzählinstanz innerhalb der Welt der Geschichtsebene forciert. „La muerte de Fernando (me dijo Bruno) me ha hecho repensar [...].“ (S. 448).[23] Dadurch wird außerdem eine „Dynamisierung“[24] der Erzählsituation evoziert, die durch zunehmende Komplexität und das allmähliche Auftauchen versteckter Erzählinstanzen manifestiert wird.

[...]


[1] Dieses und alle weiteren Zitate sowie Seitenangaben im Text sind folgender Ausgabe entnommen: Ernesto Sábato:„Sobre héroes y tumbas“, Barcelona: Seix Barral, 22003.

[2] Juan José Sánchez: „Ernesto Sábato: «Sobre héroes y tumbas»“, in: Der hispanoamerikanische Roman, S. 33.

[3] Zu den speziellen Charakteristika der lateinamerikanischen Realisierung von Literatur als Ausdruck der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion vgl. Hanne Birk, Birgit Neumann: „Go between: Postkoloniale Erzähltheorie“, in: Neue Ansätze in der Erzähltheorie, S. 115–152.

[4] Vgl. Joachim Küpper: „Ernesto Sábatos Sobre héroes y tumbas: Das Geheimnis, der Fluch und die Historie. Bemerkungen zur literar- und kulturhistorischen Originalität eines modernen lateinamerikanischen Romans“, in: Iberoromania 27–28, S. 188.

[5] Ebd., S. 192.

[6] Rosamaría Ernst-Elvir: Una aproximación a Ernesto Sábato: antropología y estética en sus ensayos y en sus dos primeras novelas: „El túnel“ y „Sobre héores y tumbas“, S. 181.

[7] Joachim Küpper: „Ernesto Sábatos Sobre héroes y tumbas: Das Geheimnis, der Fluch und die Historie. Bemerkungen zur literar- und kulturhistorischen Originalität eines modernen lateinamerikanischen Romans“, in: Iberoromania 27–28, S. 201.

[8] Juan José Sánchez: „Ernesto Sábato: «Sobre héroes y tumbas»“, in: Der hispanoamerikanische Roman, S. 39.

[9] Joachim Küpper: „Ernesto Sábatos Sobre héroes y tumbas: Das Geheimnis, der Fluch und die Historie. Bemerkungen zur literar- und kulturhistorischen Originalität eines modernen lateinamerikanischen Romans“, in: Iberoromania 27–28, S. 204.

[10] Über Fernandos Kinder- und Jugendzeit berichtet Bruno ausführlich in IV,3. Dort finden sich weitere Belege für seinen ödipalen Komplex und die dunkle Seite seiner Seele.

[11] Zur Definition der Erzählsituation vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, S. 269–278.

[12] Michael Rössner: Lateinamerikanische Literaturgeschichte, S. 369.

[13] Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans, S. 31.

[14] „Recordé de pronto una de las historias que había descubierto en mi larga investigación.“ Der Exkurs über den Mord im Fahrstuhl S. 381ff. unterbricht die Chronologie der Ereignisse.

[15] Um es mit der Terminologie Freuds auszudrücken, stehen sich das Realitätsprinzip auf der Geschichtsebene und das Lustprinzip auf der Erzählebene gegenüber. Die beiden konkurrieren – „das ist der Widerspruch, der jedes Individuum vollständig bestimmt, der alle seine Weisen sich zu verhalten dominiert, das Lustprinzip ist quasi ein biologisches Programm wie die Realität außerhalb des Individuums vor allem Grenze seiner Verwirklichung [...].“ Vgl. Achim Trebeß: Entfremdung und Ästhetik: eine begriffsgeschichtliche Studie und eine Analyse der ästhetischen Theorie Wolfgang Heises, S. 137.

[16] Vgl. Nicasio Urbina: „La estructura narrativa de Sobre héroes y tumbas de Ernesto Sábato: Aplicación de un método“, in: Revista Iberoamericana, S. 172ff.

[17] Wolfgang Matzat: „Der lateinamerikanische Roman zwischen Geschichtsentwurf und Negation der Geschichte. Zum Thema der soledad bei Ernesto Sábato und Gabriel García Márquez“, in: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe: essayistische Reflexionen und narrative Inszenierung, S. 83.

[18] Die Konversationen zu Beginn ihrer Freundschaft, die vor Alejandras Tod stattfinden, haben nicht die enttäuschte Liebesbeziehung zwischen Martín und ihr zum Thema, sondern handeln von allgemeinen Fragen aus der Philosophie (S. 227), Literatur (S. 206), landestypischen Problemen (S. 214), usw.

[19] Hans-Joachim Müller: „Die Verarbeitung der Geschichte Argentiniens in ‘Sobre héores y tumbas’ von Ernesto Sábato, in: Argentinien und Uruguay, S. 316f.

[20] Vgl. S. 143: „Algo de todo eso le dijo a Bruno“, der Erzähler ist imstande, die fehlenden Teile aus der Erinnerung der Figur zu einem Gesamtbild der Szenerie zu ergänzen.

[21] Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, S. 85.

[22] Hans-Joachim Müller: „Die Verarbeitung der Geschichte Argentiniens in ‘Sobre héores y tumbas’ von Ernesto Sábato, in: Argentinien und Uruguay, S. 311.

[23] Vgl. Nicasio Urbina: „La estructura narrativa de Sobre héroes y tumbas de Ernesto Sábato: Aplicación de un método“, in: Revista Iberoamericana, S. 169, der im Gegensatz dazu die homodiegetische, intradiegetische Erzählinstanz mit externer Fokalisierung als eine eigenständige betrachtet, die nur zeitweise von dem heterodiegetischen, auktorialen Erzähler komplementär ergänzt wird.

[24] Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, S. 89ff.

Fin de l'extrait de 27 pages

Résumé des informations

Titre
Funktionen des erinnernden Erzählens in Ernesto Sábato: „Sobre héroes y tumbas“
Sous-titre
Analyse und Interpretation der Erinnerungsstrukturen
Université
University of Tubingen  (Romanisches Seminar)
Cours
Der argentinische Roman des 20. Jahrhunderts
Note
1,7
Auteur
Année
2005
Pages
27
N° de catalogue
V46474
ISBN (ebook)
9783638436656
ISBN (Livre)
9783638658799
Taille d'un fichier
824 KB
Langue
allemand
Mots clés
Funktionen, Erzählens, Ernesto, Sábato, Roman, Jahrhunderts
Citation du texte
Anita Glunz (Auteur), 2005, Funktionen des erinnernden Erzählens in Ernesto Sábato: „Sobre héroes y tumbas“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46474

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