Jahrgangsübergreifender Unterricht. Ein Weg aus der Bildungskrise?


Epreuve d'examen, 2005

86 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhalt

1 Einführung
1.1 Problemstellung
1.2 Zielsetzung
1.3 Überblick

2 Erläuterung grundlegender Begriffe
2.1 Die Jahrgangsklasse
2.2 Die jahrgangsübergreifende Lerngruppe

3 Ursprung und Entwicklung des altersgemischten Lernens
3.1 Die reformpädagogische Tradition
3.1.1 Das altersgemischte Lernen in der Montessori- Pädagogik
3.1.1.1 Das Natürlichkeitsprinzip
3.1.1.2 Die Vorteile der Altersheterogenität
3.1.1.3 Die Freiarbeit
3.1.1.4 Die Montessori-Pädagogik in Gegenwart und Zukunft
3.1.2 Peter Petersens Schulmodell Jenaplan
3.1.2.1 Das Prinzip der Stammgruppe
3.1.2.2 Die Vorteile des Stammgruppenunterrichts
3.1.2.3 Die Organisation des Unterrichts
3.1.2.4 Die Aktualität des Jenaplans
3.2 Der Weg des jahrgangsübergreifenden Lernens in die Gegenwart

4 Neuere Konzepte und Beispiele für jahrgangsübergreifenden Unterricht
4.1 Die Laborschule Bielefeld
4.1.1 Die Organisation
4.1.2 Die konzeptionelle Gestaltung
4.1.3 Die pädagogischen Grundsätze
4.1.4 Das Vier-Stufen-System als Grundlage altersgemischten Lernens
4.1.5 Die Untersuchung der Schuleffektivität durch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
4.1.5.1 Gegenstand und Ergebnisse der Untersuchung
4.1.5.2 Wichtige Anmerkungen zu den Ergebnissen
4.2 Der Schulversuch der Clara-Grunwald-Grundschule
4.2.1 Die Rolle des Montessori-Lehrers
4.2.2 Das Schulkonzept
4.2.3 Die Leistungsbeurteilung
4.2.4 Die Bilanz des Schulversuchs
4.3 Die kleine Grundschule
4.4 Die Veränderte Schuleingangsphase
4.4.1 Pädagogische Konzepte
4.4.2 Die veränderte Lehrerrolle

5 Möglichkeiten und Grenzen des jahrgangsübergreifenden Unterrichts
5.1 Die Problematik der Jahrgangsklasse als Ausgangspunkt für jahrgangsübergreifendes Lernen
5.2 Chancen
5.3 Risiken

6 Jahrgangsübergreifender Unterricht – ein Weg aus der Bildungskrise?

7 Schlussbetrachtung

8 Literaturverzeichnis

1 Einführung

1.1 Problemstellung

In den vergangenen Jahren ist in der Bundesrepublik Deutschland das Bildungssystem zunehmend in die Kritik geraten. Auslöser waren die Ergebnisse der in den Jahren 2000 und 2003 durchgeführten weltweit größten Schulleistungsuntersuchung „PISA“. In beiden Durchgängen erzielte Deutschland als eines der führenden Länder in Europa lediglich unzureichende Resultate. Dieses führte dazu, dass sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik die Forderungen nach einer Reformierung des Schulsystems laut wurden. Dabei wurde schnell deutlich, dass die Ursachen im Bildungswesen zu suchen sind, welches nicht rechtzeitig auf die Veränderung in der Gesellschaft reagiert hat. Durch die Pluralisierung der Lebensformen, die sich z.B. in der steigenden Zahl von Ein-Eltern- und Ein-Kind-Familien aber auch in der Zunahme von Migrantenfamilien äußert, wachsen Kinder verstärkt in ganz unterschiedlichen familiären und sozialen Lebensbedingungen auf. Als Folge daraus ergibt sich eine große Heterogenität der kindlichen Entwicklungs- und Lernvoraussetzungen. Das deutsche Bildungssystem muss auf diese Umstände entsprechend reagieren, um mit den Siegern von „PISA“ wieder konkurrieren zu können.

Die Jahrgangsklasse hat sich in Deutschland als die herrschende Unterrichtsform durchgesetzt und ist aus dem deutschen Schulsystem nicht mehr wegzudenken. Sollte jedoch angesichts der momentanen „Bildungskrise“ die führende Stellung der Jahrgangsklasse zunehmend in Frage gestellt werden?

Schon 1985 erklärte Hartmut von Hentig: „Wir sind an die Schulklasse voller Gleichaltriger so gewöhnt, dass wir die Ungeheuerlichkeit, jeden pädagogischen Widersinn, der in der strengen Altershomogenität liegt, gar nicht mehr wahrnehmen - was es bedeutet, wenn man niemanden über sich hat und unter sich und die kleine Differenz auf einmal zur großen beherrschenden wird.” (Hentig, 1985, S. 215; zit. nach Laging, 1999a, S. 3).

Der Heterogenität der Lernvoraussetzungen, Begabungen und Entwicklung der Kinder kann in den Jahrgangsklassen nicht ausreichend Rechnung getragen werden. Ein Versuch an dem Jahrgangsklassensystem festzuhalten und dieses zu optimieren, würde lediglich zu noch mehr Selektion und Schulversagen führen (Stähling, 2003) und damit keinen Ausweg aus der „Bildungskrise“ aufzeigen.

Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde in der Reformpädagogik die Sinnhaftigkeit des jahrgangsbezogenen Unterrichts in Frage gestellt. In der gegenwärtigen Diskussion tritt daher erneut die Forderung nach einem jahrgangsübergreifenden Unterricht in den Vordergrund, der sich auf reformpädagogische Traditionen und Konzepte bezieht. Dabei waren Maria Montessori und Peter Petersen die Reformpädagogen, die dem altersgemischten Unterricht eine besondere Bedeutung zusprachen. So können die Konzepte der beiden Pädagogen noch heute als Wegweiser für die Bildung jahrgangsübergreifender Lerngruppen bezeichnet werden.

Sollten vor dem Hintergrund der vorherrschenden Heterogenität in den Klassen die reformpädagogischen Ansätze genutzt werden, um dem deutschen Schulsystem aus der „Bildungskrise“ zu verhelfen? Stellt das altersgemischte Lernen einen Rückschritt zur „Zwergenschule“ dar oder begibt sich die Schule mit der Umsetzung des jahrgangsübergreifenden Unterrichts auf den Weg in die Zukunft?

1.2 Zielsetzung

Die vorliegende Arbeit wird sich im Folgenden mit einem möglichen Ansatz zur Bewältigung der derzeitigen „Bildungskrise“ befassen: der jahrgangsübergreifende Unterricht. Um dem Leser diese Thematik zu vermitteln, verfolgen die weiteren Ausführungen folgende Ziele:

- Schaffung eines grundlegenden Wissens über den Begriff, den Ursprung und die Entwicklung des jahrgangsübergreifenden Unterrichts.
- Darstellung ausgewählter Konzepte und Beispiele für jahrgangsübergreifenden Unterricht in der heutigen Zeit.
- Bewertung des jahrgangsübergreifenden Unterrichts als möglicher Lösungsansatz für den Weg aus der „Bildungskrise“.

Der jahrgangsübergreifende Unterricht ermöglicht den Kindern selbstständig und selbstverantwortlich zu lernen. Demzufolge sind der Unterricht sowie der Unterrichtsverlauf geprägt durch die Interessen, Wünsche und Fähigkeiten der Kinder. Dadurch wird eine individuelle Förderung bzw. Forderung der Schüler/-innen[1] ermöglicht und die Heterogenität in der Klasse nicht als Problematik, sondern als pädagogische und didaktische Chance gesehen. Beim jahrgangsübergreifenden Unterricht muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass dieser nicht als Lösung für alle Probleme des deutschen Bildungssystems verstanden werden darf und auch die Nachteile dieser Unterrichtsform bedacht werden müssen.

1.3 Überblick

Die vorliegende Arbeit zum Thema „Jahrgangsübergreifender Unterricht – ein Weg aus der Bildungskrise?“ ist in fünf Kapitel untergliedert. Zur Einführung in die Thematik werden im folgenden ersten Teil dieser Arbeit die Begriffe Jahrgangsklasse und jahrgangsübergreifende Lerngruppe näher erläutert und ihre Unterschiedlichkeit deutlich gemacht. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass im Folgenden die Begriffe jahrgangsübergreifend, altersgemischt und altersheterogen synonym verwendet werden.

Bevor die Frage beantworten werden kann, inwieweit der jahrgangsübergreifende Unterricht das deutsche Schulsystem aus der „Bildungskrise“ führen kann, muss der Leser zunächst über die historische Entwicklung und Bedeutung dieser Unterrichtsform informiert werden. So werden im zweiten Teil dieser Arbeit der Ursprung und die Entwicklung des altersgemischten Lernens dargestellt. Dabei wird der Schwerpunkt auf die reformpädagogische Tradition gelegt, indem das altersgemischte Lernen in der Montessori-Pädagogik und Peter Petersens Schulmodell Jenaplan näher erörtert werden. Auf das Darstellen weiterer reformpädagogischer Konzepte wird an dieser Stelle verzichtet, da diese beiden Reformpädagogen noch heute als die bedeutsamsten Vertreter des altergemischten Lernens gelten. Abschließend wird im letzten Teil dieses Kapitels der Weg des jahrgangsübergreifenden Lernens bis in die Gegenwart dargestellt, wobei sich die Betrachtung auf Deutschland beschränkt.

Anschließend werden im dritten Teil neuere Konzepte und Beispiele für den jahrgangsübergreifenden Unterricht in Deutschland vorgestellt. Dabei wurden die pädagogischen Konzepte der Bielefelder Laborschule und der Clara-Grunwald-Grundschule Berlin-Kreuzberg ausgewählt, um aufzuzeigen auf welch unterschiedliche Weise das altersgemischte Lernen in der täglichen Unterrichtspraxis umgesetzt werden kann. Die „Kleine Grundschule“, als Antwort auf sinkende Schülerzahlen, sowie die „Veränderte Schuleingangsphase“, das Konzept einer integrativen und jahrgangsübergreifenden Gestaltung des Anfangsunterrichts, zeigen, wie organisatorische Probleme Grundlagen für die Entwicklung neuer Schulkonzepte schaffen.

Im vierten Teil dieser Arbeit werden die Grenzen und Möglichkeiten des jahrgangsübergreifenden Unterrichts erläutert. Ziel dabei ist es, dem Leser zu ermöglichen eine individuelle Antwort auf die im Titel dieser Arbeit gestellte Frage „Jahrgangsübergreifender Unterricht – ein Weg aus der Bildungskrise?“ zu finden und eine persönliche Bewertung vorzunehmen. Dabei stelle ich im abschließenden fünften Teil meine persönliche Meinung und Einschätzung hinsichtlich der Bedeutung und der Möglichkeiten der Umsetzung eines jahrgangsübergreifenden Unterrichts im deutschen Schulsystem dar und zeige auf, inwieweit diese Unterrichtsform Deutschland aus der „Bildungskrise“ führen kann.

2 Erläuterungen grundlegender Begriffe

2.1 Die Jahrgangsklasse

Heutzutage erscheint es selbstverständlich, dass Kinder Jahrgangsklassen besuchen. Dies hat sich allerdings erst über die Jahrhunderte so entwickelt. Im Mittelalter wurden Schüler zu jeder Zeit aufgenommen und nicht nach Alter, sondern nach ihren Kenntnissen in Abteilungen eingeteilt, in denen sie ihre Kurse im individuellen Lerntempo bewältigten.

Im 17. Jahrhundert forderte Comenius die Bildung für die Allgemeinheit, eine Schule, die alle alles lehrt. Alle, das meinte beide Geschlechter und alle sozialen Stände, alles bedeutete ein jeweils altersangemessenes vollständiges Weltbild, das sich jährlich erweitert (Gudjons, 2001, S. 79). Um diese Vorstellungen umzusetzen, war es notwendig, eine Vereinheitlichung der Methoden und Organisation der Schulen einzurichten. Aus diesem Grund war es erforderlich, dass Einschulungen nur einmal jährlich vorgenommen wurden und dass für das Jahr, die Monate und Wochen ein auf das Lebensalter abgestimmter, weitgehend einheitlicher Lernstoff festgelegt wurde. Auf diese Weise waren die Lehrkräfte laut Comenius in der Lage bis zu 100 Schüler gleichzeitig zu unterrichten (Laging, 1999b, S. 7). Comenius „Didaktik Magna“ aus dem Jahr 1632 spielte somit eine große Rolle aus dem Weg zur Jahrgangsklasse.

Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelte August Hermann Francke das so genannte Fachsystem, bei dem die Schüler nicht einer bestimmten Klasse angehörten, sondern je nach Leistung in den verschiedenen Fächern Niveaukurse belegten (Reble, 2002, S. 133). Dieses System erlangte zwar eine gewisse Bedeutung, konnte sich jedoch nicht gegen die Jahrgangsklasse durchsetzen.

1820 begann in Preußen die Einführung des Jahresklassensystems für Gymnasien, die das Ziel hatte, eine möglichst einheitliche Bildung für alle einzuführen. Aus diesem Grund wurden 1837 die Lehrpläne vereinheitlicht. Diese Regelung galt zunächst nur für die höheren Schulen, das Volksschulwesen hat sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend an das Jahrgangsklassensystem angeglichen. Ausnahme waren die so genannten „Zwergschulen“ auf dem Land, in denen immer noch Kinder mehrerer Jahrgänge in einem Klassenraum saßen (Laging, 1999b, S. 9)

Das leitende Prinzip der Schulklassen wurde immer mehr die völlige Homogenität, die individuellen Unterschiede der Einzelnen wurden zugunsten des Gemeinsamen vernachlässigt. Die Homogenität sollte nicht nur durch das gleiche Alter, sondern auch durch das gleiche Lernpensum erzielt werden. Dies setzte natürlich den gemeinsamen Anfang, das gemeinsame Fortschreiten und den gemeinsamen Abschluss voraus.

Altershomogen sind die Jahrgangsklassen jedoch seit der Einführung der altersmäßig festgelegten allgemeinen Schulpflicht nie gewesen, da die hohe Zahl der Nichtversetzten immer schon zu Heterogenität in den Schulklassen führten. Gegenwärtig führt nicht nur das Sitzenbleiben, sondern auch das freiwillige Wiederholen, das Früheinschulen, das Überspringen von Klassen und das nicht altersgemäße Einschulen von Kindern ausländischer Herkunft zu einem Altersspektrum von 3 bis 5 Jahren in den Jahrgangsklassen, je nach Schulform mehr oder weniger ausgeprägt (Laging, 1999b, S. 8). Die Homogenität in Schulklassen ist bis heute eine Idealvorstellung geblieben, die sich jedoch nicht umsetzten lässt. Kinder können nicht allein auf Grund ihrer Gleichaltrigkeit durch gemeinsamen Unterricht zum gleichen Ziel gebracht werden. Die Schwierigkeiten, die seit der Einführung der Jahrgangsklasse bestehen, wie z.B. die Gleichsetzung des Alters mit dem Entwicklungsstand, der jahrgangsbezogene Lehrplan, die Vergleichbarkeit der Zensuren und die Problematik des Sitzenbleibens (Laging, 1999b, S.9), können nur überwunden werden, wenn man nicht mehr die Homogenität der Lerngruppe als Vorraussetzung für den Lernerfolg ansieht, sondern die Heterogenität der Gruppe als Ausgangspunkt zur Förderung individueller Lernprozesse und sozialer Kompetenzen nutzt.

2.2 Die jahrgangsübergreifende Lerngruppe

Seit Comenius im 17. Jahrhundert die Bildung für die Allgemeinheit forderte und sich im Zuge dessen die Einschulung zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr entwickelte, kam die Frage, wie sinnvoll die Einteilung der Schüler nach ihrem biologischen Alter wirklich ist, wiederholt auf.

Ende des 19. Jahrhunderts stellten Reformpädagogen wie Maria Montessori und Peter Petersen die Jahrgangsklasse ausdrücklich in Frage und entwickelten Reformkonzepte und Umsetzungen für altersgemischte Lerngruppen (vgl. 3.1). Diese fanden jedoch nur wenig Anklang in der Schulentwicklung, da sie dem politischen Zeitgeist nicht entsprachen. In der Zeit des Nationalsozialismus, als das Schulwesen inhaltlich und organisatorisch vereinheitlicht wurde, sind diese Konzepte dann völlig verschwunden (Reble, 2002, S. 329). Mittlerweile wird das Thema „Jahrgangsübergreifender Unterricht“ im Zusammenhang mit Entwürfen und Plänen einer zukunftsorientierten Pädagogik und Schulentwicklung immer wieder diskutiert.

„Jahrgangsübergreifender Unterricht“ bedeutet Altersmischung durch Zusammenlegung von Schülern aus mehreren Geburtsjahrgänge zu einer Lerngruppe. Dies kann pädagogische oder organisatorische Gründe haben.

In vielen ländlichen Gebieten gibt es zuwenig Schüler, um diese in einer Jahrgangsklasse zu unterrichten. So kam und kommt es immer wieder zur Zusammenlegung mehrerer Jahrgangsklassen zu einer Lerngruppe oder zu so genannten „Zwergschulen“, um die Schließung der Schulen und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten für Kinder, Eltern und die Länder zu verhindern (vgl. 4.3). In diesen jahrgangskombinierten Klassen werden Schüler aus zwei oder mehr Jahrgangsstufen gemeinsam in einem Raum unterrichtet. Wenn hinter der Zusammenlegung jedoch ausschließlich organisatorische Gründe liegen, werden die Chancen, die die Altersmischung bietet, nicht voll genutzt werden können.

Pädagogische Gründe für die Altersheterogenität einer Lerngruppe wurden wie schon erwähnt, besonders von Reformpädagogen wie Maria Montessori oder Peter Petersen genannt, nach deren Auffassung altersgemischte Gruppen den Kindern neben der Vermittlung von fachlichem Wissen auch in einem erhöhten Maß den Erwerb sozialer Kompetenzen ermöglichen.

Durch Veränderung der Kindheit und der Familien, z.B. Ein-Eltern-Familien oder Ein-Kind-Familien, verändert sich auch der Anspruch, den wir an die Schule haben. Die Schule muss zu einem Ort sozialer Begegnungen werden, an dem Kinder die Erfahrungen sammeln können, die ihnen in ihrer übrigen Lebenswelt fehlen. Die jahrgangsübergreifende Lerngruppe bietet ihnen die Möglichkeiten ihre individuellen Grenzen und Fähigkeiten festzustellen, zu lernen, wie man Konflikte und Problem gemeinschaftlich löst, wie man untereinander kommuniziert und kooperiert und ihre Selbstständigkeit zu stärken.

Es gibt unzählige Varianten und Formen der Altersmischung. Jedes Konzept hat seine Vor- und Nachteile, so dass individuell entschieden werden muss, welches Konzept des altersgemischten Unterrichts am besten zu einer Schule passt und umgesetzt werden kann. In vielen Konzepten hat man sich für die Mischung von zwei oder drei Jahrgängen entschieden, in seltenen Fällen werden auch vier Jahrgänge zu einer Lerngruppe zusammengefasst.

Auch die Struktur des Unterrichts kann sich unterscheiden. Vor allem in jahrgangskombinierten Klassen wird immer noch auf den so genannten Abteilungsunterricht zurückgegriffen, bei dem die beispielsweise zwei Jahrgänge in einem Klassenraum gleichzeitig betreut, jedoch getrennt nach Schuljahr unterrichtet werden. Das bedeutet, dass abwechselnd eine Abteilung direkt von der Lehrkraft unterrichtet wird, während die Schüler der zweiten Abteilung selbstständig lernen und arbeiten[2].

Eine andere Arbeitsform ist der altersgemischte Unterricht. Hier werden die Schüler der verschiedenen Jahrgänge gemeinsam unterrichtet. Anhand eines gemeinsamen Unterrichtsthemas können die Schüler ihre Fähigkeiten und Kenntnisse ausbauen, wobei eine innere Differenzierung unerlässlich ist. Ein besonderes Kennzeichen dieser Unterrichtsform ist, dass sehr viel Wert auf die Individualisierung der Lernprozesse und des Lerntempos der Kinder und auf selbstständiges Lernen und Arbeiten gelegt wird.

Eine weitere Form jahrgangsübergreifende Lerngruppen zu unterrichten ist, die Schüler entsprechend ihres Leistungsstands und ihrer Fähigkeiten zu gruppieren, so dass sie die Schule in ihrem individuellen Lerntempo durchlaufen können. Dieses Konzept führt jedoch zu der Bildung von weitgehend leistungshomogenen Gruppen, so dass die Chancen, die die Leistungsheterogenität bietet, nicht genutzt werden können.

Unterricht in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen kann sich auch durch die Anzahl der Stunden in denen altersgemischt unterrichtet wird und ob alle Fächer oder nur bestimmte Fächer jahrgangsheterogen unterrichtet werden unterscheiden.

Im Gegensatz zur Jahrgangsklasse mit ihrer vermeintlichen Homogenität setzt die jahrgangsübergreifende Lerngruppe ihre offensichtliche Heterogenität bewusst als pädagogisches Prinzip ein und nutzt dessen erzieherische und didaktische Vorteile für alle Schüler der Lerngruppe.

3. Ursprung und Entwicklung des altersgemischten Lernens

3.1 Die reformpädagogische Tradition

Die Reformpädagogik im engeren Sinne bezieht sich auf einen Zeitraum von ungefähr fünfzig Jahren in der Zeit von Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs, die geprägt war von besonders intensiven pädagogischen Reformbestrebungen. Ziel dieser Bestrebungen war es, eine Veränderung in Erziehung und Unterricht zu erreichen.

Die Hauptmerkmale dieser Veränderung waren die Anerkennung der Individualität des Menschen, die Berücksichtigung des Bedürfnis des Menschen nach einer sozialen Gemeinschaft, das Erstreben einer ganzheitlichen Menschenbildung, eine bessere Verknüpfung von Erziehung und Bildung mit dem Leben und die Gestaltung der Schule als Lebensraum.

In der Reformpädagogik geht man von der Annahme aus, dass die Heterogenität einer Gruppe als erzieherisch und didaktisch wertvoll anzusehen ist und sie somit bewusst als pädagogisches Prinzip eingesetzt werden sollte[3].

Im Folgenden werden die Ideen der Reformpädagogen Maria Montessori und Peter Petersen aufgegriffen, da sich in Bezug auf deren pädagogische Konzepte die Altersmischung in der Zeit der Reformpädagogik besonders anschaulich darstellen lässt. Die Konzepte der beiden Pädagogen können als Klassiker für die Bildung jahrgangsübergreifende Lerngruppen bezeichnet werden.

3.1.1 Das altersgemischte Lernen in der Montessori-Pädagogik

Maria Montessori (1870 – 1952) wies in ihrem Werk immer wieder auf die Bedeutung der Alters- und Geschlechtermischung in sozialen Gruppierungen von Kindern hin.

Montessoris Überlegungen zur Bedeutung der Altersmischung stützen sich auf Beobachtungen des Sozial- und Lernverhaltens von Kindern im Alter von 3 – 12 Jahren. Sie begann mit diesen Beobachtungen Anfang des 20. Jahrhunderts in der Kinderpsychiatrie der Universitätsklinik Rom und setzte sie in dem von ihr konzipierten Kinderhaus im römischen Arbeiterviertel San Lorenzo fort. Die gewonnen Erkenntnisse hatten große Bedeutung für ihr pädagogisches Programm.

Im Vordergrund ihres Programms steht dabei das Helfen und Geholfenwerden. Kinder verschiedenen Alters helfen sich untereinander, können von einander abschauen und sich gegenseitig Erklärungen geben. Aus diesem Grund erscheint ihr eine Zusammensetzung von je drei Altersjahrgängen in einer Gruppe am besten geeignet. Der Unterschied zwischen den Kindern ist groß genug um zu erkennen, dass die anderen älter oder jünger, Hilfe anbietend oder annehmend sind (Laging, 1999b, S. 11). Zudem entspricht das Zusammenfassen von Kindern in derartige Gruppen den natürlichen sozialen Gruppierungen von Kindern.

3.1.1.1 Das Natürlichkeitsprinzip

Wie schon erwähnt, werden die Kinder in Schulen, die nach den pädagogischen Prinzipien Maria Montessoris arbeiten, anders als in Regelschulen, in jahrgangsübergreifenden Gruppen zusammengefasst. Die Altersdifferenz zwischen den Kindern in den jeweiligen Gruppen beträgt idealer weise drei Jahre.

Diese Gruppeneinteilung zeigt, dass Montessori sich bei ihren Vorstellungen vom Lernen in der Schule dem natürlichen sozialen Umfeld der Kinder anpasst, da Kinder sowohl in der Familie als auch in der Freizeit ständig Ungang mit jüngeren und älteren haben. In unserer Gesellschaft ist es ganz natürlich, dass sich jüngere und ältere Menschen untereinander austauschen und voneinander lernen (Knauf, T., 1999, S. 152).

Heute ist nicht allein der Gedanke des Natürlichkeitsprinzips Anlass für die Altersmischung in Montessori-Schulen, sondern zum Großteil auch der Gedanke der Vielfalt (Knauf, T., 1999, S. 151). Durch den jahrgangsübergreifenden Unterricht wird auch die Heterogenität des Leistungsstands, der Begabungen, der Interessen und der Charaktere vergrößert, was verschiedene soziale und pädagogische Vorteile für die Entwicklung der Kinder mit sich bringt.

3.1.1.2 Die Vorteile der Altersheterogenität

Durch die Unterschiedlichkeit des Alters, des Geschlechts, der Charaktere und der Begabung und besonders des kognitiven Entwicklungs- und Lernstandes der Gruppenmitglieder soll die Bildungsentwicklung und das Lernverhalten der einzelnen Kinder gefördert werden. Auf Grund der Vielfalt wachsen die sozialen Kompetenzen und die Handlungsfähigkeit der Kinder. Je unterschiedlicher die Fähigkeiten und Charaktere in einer Gruppe, desto größer wird dieser Effekt eingeschätzt.

Die Altersmischung in den Lerngruppen gibt den Kindern die Möglichkeit reichhaltige soziale Erfahrungen zu machen und diese für ihr Lernen zu nutzen. Die jüngeren Kinder bewundern die älteren, übernehmen ihre Arbeitsweisen oder bitten sie um Hilfe. Die Älteren der Lerngruppe sehen ihre Fähigkeiten anerkannt und geben gerne Hilfestellungen. Kinder lernen in einer Weise von einander, die kein Material und kein Erwachsener ersetzen kann.

Wichtige Ziele des altersgemischten Lernens in der Pädagogik Maria Montessoris sind die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Kindes und das Finden individueller Lernstrategien, die Förderung der Kommunikation und der Kooperation unter den Kindern sowie das gegenseitig Helfen und Lernen durch Nachahmung (Knauf, T., 1999, S. 152).

Da die jüngeren und älteren Kinder mit- und voneinander lernen und versuchen sich gegenseitig zu unterstützen, kommt es kaum zu Situationen in denen die Kinder versuchen, mit einander zu konkurrieren. Anstelle eines Konkurrenzverhaltens entwickelt sich ein kooperatives Lernverhalten. Durch Vormachen und Nachahmen bekommen die Kinder die Möglichkeit, sich viele Dinge ohne Hilfe der Lehrkräfte anzueignen (Knauf, T., 1999, S. 153).

Beim gegenseitigen Helfen der Kinder wird den jüngeren der Lernprozess erheblich erleichtert. Kinder haben ihre eigene Sprache, so dass sie sich schwierige Sachverhalte untereinander oft wesentlich besser verständlich machen können als die Lehrkräfte (Knauf, T., 1999, S. 153). Das Prinzip des Hilfegebens und Hilfenehmens wird in altersgemischten Lerngruppen ohne weiteres umgesetzt. Dennoch wechseln sich Gruppen- und Einzelarbeit ab, da Kinder, die gelernt haben zu kooperieren gleichzeitig auch lernen die Individualität des Einzelnen anzuerkennen.

In altersheterogenen Gruppen lernen nicht nur die Jüngeren von den Älteren. Auch lernschwache ältere Kinder bekommen hier Chancen, die sie in altershomogenen Gruppen nicht haben. Durch Zusammenarbeit mit jüngeren Kindern wird ihnen die Möglichkeit geboten, die Erfahrungen des Helfenden zu machen und zugleich ihr Wissen zu vertiefen und zu erweitern, um so ihre Leistungsmängel zu beheben.

Auch leistungsstarke ältere Kinder profitieren von der Altersheterogenität der Lerngruppe. Nach dem Prinzip „Lernen durch Lehren“ vertiefen sie ihre bereits gewonnenen Erkenntnisse, da sie vorhandenes Wissen erst einmal analysieren und systematisieren müssen, bevor es weitergegeben werden kann (Knauf, T., 1999, S.155).

Die vielfältigen Erkenntnisse im sozialen Umgang mit den anderen Kindern helfen ihnen zu lernen, sich in andere hineinzuversetzen und Sensibilität für die Probleme der anderen zu entwickeln.

Auf Grund seiner Individualität hat jedes Kind seinen eigenen Leistungsstand und sein ganz eigenes Lerntempo, was eine individuelle Förderung unentbehrlich macht. Die altersheterogene Gruppe ist dafür besonders geeignet, da auf Grund der hohen und bewussten Unterschiedlichkeit der Kinder von vornherein feststeht, dass eine Gleichschrittigkeit im Lernstoff unmöglich ist. Als geeignete Unterrichtsform, um für eine bestmögliche individuelle Förderung zu sorgen, sieht Montessori die Freiarbeit.

3.1.1.3 Die Freiarbeit

Ein wichtiger Gedanke der Pädagogik Maria Montessoris ist es, die Kinder in ihren Entscheidungen zu unterstützen und sie zu ermuntern selbstständig zu handeln. Formuliert wird dieses in dem Leitsatz: „Hilf mir, es selbst zu tun!“.

Da der vom Lehrer/ von der Lehrerin[4] gesteuerte Frontalunterricht diesem Gedanken nicht gerecht werden kann, suchte Montessori nach einer geeigneten Unterrichtsform und entwickelte die „Freiarbeit“. Bei dieser Form des Unterrichts wird den Schülern die Möglichkeit gegeben, frei zu wählen, womit sie sich beschäftigen wollen und welche Ziele sie erreichen möchten. Auch die Wahl der Sozialform ist den Kindern freigestellt. Sie entscheiden selbst, ob sie sich in Gruppen-, Partner- oder Einzelarbeit mit dem gewählten Thema beschäftigen und wie viel Zeit sie für den gewählten Aufgabenbereich verwenden[5].

Wichtige Vorraussetzung, damit die Freiarbeit in der Umsetzung im Unterricht funktionieren kann, ist die „Vorbereitete Umgebung“. Hierzu gehört vor allem ein Raum, der mit geeigneten Materialien für die Arbeit der Kinder ausgestattet ist. Maria Montessori hat für verschiedene Bereiche der kindlichen Entwicklung didaktische Materialien entwickelt, die z.B. der Schulung der Sinne, der Ausbildung der Sprache oder dem Erlernen der Mathematik dienen. Die angebotenen Materialien sollten sich nach dem Alter, dem Entwicklungsstand und den Interessen der Kinder richten, so dass sie deren Wissensdrang wecken und zur aktiven Beschäftigung anregen. Zudem sollen die Materialien jeweils nur einen Inhalt repräsentieren, um die einzelnen Schwierigkeiten darzustellen und das Lernen und Arbeiten der Schüler sinnvoll einzugrenzen. Ein ganz wichtiger Aspekt der Montessori-Materialien ist, dass sie den Schülern alle die Möglichkeit der Selbstkontrolle bieten (GEW Berlin, 2003, S.10).

Weiterer Aspekt der „Vorbereiteten Umgebung“ sind zum einem die schon angesprochene Altersmischung der Gruppe und des weiteren ein verändertes Rollenverständnis der Lehrer.

Diese Form des Unterrichts versucht sich möglichst stark an den Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kinder zu orientieren und sie somit zur Selbstständigkeit und zur Selbsttätigkeit zu erziehen.

Natürlich gibt es auch bei der Freiarbeit Regeln, die die Kinder versuchen müssen einzuhalten. Die Schüler dürfen sich frei im Klassenraum bewegen und können gegebenenfalls mit anderen Kindern kooperieren, z.B. um gemeinsam Aufgaben zu bewältigen, sich helfen zu lassen oder um anderen Kindern Hilfestellungen zu geben. Dabei sollte aber beachtet werden, dass die anderen Schüler in ihrer Arbeit nicht gestört werden. Wenn sich ein Schüler für die Arbeit an einem Aufgabenbereich entschieden hat, sollte diese auch zu Ende geführt werden.

In dieser Form des selbst organisierten Lernens kann das Kind seinen Lernprozess individuell nach seinen Lernfähigkeiten und Interessen richten und dabei seinen eigenen Weg des Lernens gehen. Jedes Kind findet sein eigenes Arbeitstempo und seinen individuellen Lernrhythmus.

Die Lehrkräfte treten bei dieser Form der Unterrichtsgestaltung in den Hintergrund und nehmen die Rolle des Beobachters, Begleiters und Helfers ein. Ihre Aufgaben sind es die Materialien, mit denen die Kinder arbeiten können, auszuwählen, den Schülern den Gebrauch zu erklären, das Kind bei seiner Arbeit zu beobachten und wenn notwendig im begrenzten Umfang Hilfestellungen zu geben. Der Lehrer sollte ebenfalls darauf achten, dass sich ein Kind mit der selbst gewählten Aufgabe nicht überfordert und gegebenenfalls versuchen, das Kind an eine andere Aufgabe heran zu führen. Ebenso sollte der Unterforderung entgegengewirkt werden und Kinder animiert werden, sich an schwereren Aufgaben zu versuchen (GEW Berlin, 2003, S. 20).

Bei der Freiarbeit sollten die Kinder immer die Möglichkeit bekommen die von ihnen bewältigten Aufgaben selbstständig auf ihre Richtigkeit zu kontrollieren. In regelmäßigen Abständen sollten aber auch die Lehrkräfte die von den Schülern bearbeiteten Aufgaben überprüfen, um sich so über den Leistungsstand der Schüler zu informieren.

[...]


[1] Im Folgenden: Schüler

[2] Vgl.: http://www.kultus-mv.de/_sites/bibo/richtlinien/schule/grundschule_land.pdf

[3] Vgl.: http://www.uni-muenster.de/Montessorizentrum

[4] Im Folgenden: Lehrer

[5] Vgl.: http://www.uni-muenster.de/Montessorizentrum

Fin de l'extrait de 86 pages

Résumé des informations

Titre
Jahrgangsübergreifender Unterricht. Ein Weg aus der Bildungskrise?
Université
University of Lüneburg
Note
2,0
Auteur
Année
2005
Pages
86
N° de catalogue
V46489
ISBN (ebook)
9783638436779
Taille d'un fichier
620 KB
Langue
allemand
Mots clés
Jahrgangsübergreifender, Unterricht, Bildungskrise
Citation du texte
Franziska Grab (Auteur), 2005, Jahrgangsübergreifender Unterricht. Ein Weg aus der Bildungskrise?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/46489

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