Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Historischer Hintergrund
2.1 Die Haitianische Revolution
2.2 Zeitliche Einordnung der Erzählung Kleists
2.3 Entstehungsgeschichte der Erzählung
3 Rassismusdiskurs in der Verlobung in St. Domingo
3.1 Die Figurenkonstellation
3.1.1 Gustav
3.1.2 Babekan und Hoango
3.1.3 Toni
3.2 Der Erzähler
4 Die Bedeutung von Sprache und Gestik
4.1 Sprache
4.2 Die Körpersprache der Figuren
4 Schlussbemerkungen
5 Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1 Einleitung
Die Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ von Heinrich von Kleist wurde 1811 veröffentlicht und beschreibt die Liebesgeschichte zwischen Toni, einer Mestizin und Gustav, einem weißen Schweizer zur Zeit der haitianischen Revolution, bei der sich die versklavten Schwarzen und Mulatten gegen die weißen Kolonialherren auflehnten. Beide Parteien, sowohl Toni als auch Gustav, begegnen sich mit Misstrauen und einigen Manipulationsversuchen, wodurch die Beziehung letztendlich scheitert und beide Protagonisten aufgrund eines Missverständnisses sterben.
Der „deutsche Kolonialismus“ begann erst Ende des 19. Jahrhunderts, als Deutschland seine ersten Kolonien erhielt. Diese gingen bereits mit dem Ende des ersten Weltkrieges mit Inkrafttreten des Versailler Vertrags verloren (vgl. Dunker 2008, S. 8). Daher schien die Relevanz des Kolonialismus auch für die deutsche Literatur gering zu sein. Eine Untersuchung Zantops, einer amerikanischen Germanistin zeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus nicht an die Existenz von Kolonien im deutschen Besitz gebunden ist, da der Kolonialismus ein globales Phänomen, und daher nicht auf einzelne Länder beschränkbar ist (vgl. Dunker zit. nach Zantop 1999). So bewirkte die Existenz von exotisch wahrgenommenen Gebieten auch im deutschen Sprachraum Phantasien von Machtergreifung oder Bedrohung, sogenannte „Kolonialphantasien“ (vgl. Dunker 2008, S.8).
Die Bedeutung des Kolonialismus für die Literatur wurde vor allem in der amerikanischen Literaturwissenschaft untersucht, zum Beispiel von dem Literaturwissenschaftler Edward W. Said. Untersuchungen für die deutschsprachige Literatur erschienen seit Beginn des 21. Jahrhunderts (vgl. ebd., S. 9). Hierbei ergibt sich vor allem ein methodisches Problem, da die Bezüge zum Kolonialismus an versteckten Stellen hergestellt werden, aber trotzdem von großer Bedeutung für das Verständnis des jeweiligen Werks ist und die Wahrnehmung des gesamten Werks entscheidend verändern kann. Ein bekanntes Analyse-Verfahren, das verwendet wird, ist das kontrapunktische Lesen (vgl. ebd., S. 10).
Es muss hierbei beachtet werden, dass die Autoren und Leser des 19. Jahrhunderts und des frühen 19. Jahrhunderts den Kolonialismus als selbstverständlichen Bestandteil der Welt ansahen. Hierzu gehören beispielsweise Strukturen der Ungleichheit und Hierarchisierungen. Bei der kontrapunktischen Lektüre wird die Literatur zudem auf Mehrstimmigkeit gelesen und Gegenstimmen miteinbezogen. Es müssen westliche Konzepte berücksichtigt werden sowie die Konsequenzen einer Fremdbeherrschung für eine Kultur (vgl. Struve 2012, S. 102).
Diese Methode der Textanalyse werde ich in meiner Arbeit ebenfalls anwenden, um die Bedeutung des Kolonialismus bezüglich des Rassismus für die Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ herauszuarbeiten. Hierbei werde ich zunächst die Verhaltensweisen der einzelnen Figuren betrachten, darauf achten, inwiefern die Figuren rassistische Züge aufweisen und wodurch die Figuren Vertrauen beziehungsweise Misstrauen gegenüber einander entwickeln. Anschließend werde ich auf die Erzählweise des Erzählers eingehen und die Funktion von Sprache und Gestik in dem Werk untersuchen.
Kleists Erzählungen wurden einige Zeit lang von Nationalsozialisten missbraucht. Auch Kritiker werfen ihm eine rassistische Einstellung vor. Ob diese Vorwürfe ihm unrecht tun oder nicht, werde ich ebenfalls untersuchen.
2 Historischer Hintergrund
2.1 Die Haitianische Revolution
Bereits zu Beginn der Erzählung wird der Ort und der Zeitpunkt des Geschehens beschrieben. „Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, (…), ein fürchterlicher Neger, namens Congo Hoango“ (V 3). Um das Verständnis der Novelle zu erleichtern, ist es sinnvoll, zunächst die Geschichte und Entwicklungen auf der Insel zu betrachten. Die Insel, die heute den Namen Haiti trägt, wurde 1492 durch Kolumbus entdeckt und von Spanien erobert. Die Westhälfte der Insel wurde seit dem 17. Jahrhundert von Franzosen besiedelt und 1697 zur französischen Kolonie mit der Hauptstadt Port-au-Prince (vgl. Ruhrberg 2012, S.66). Seit dem 16. Jahrhundert brachten die spanischen und französischen Kolonialherren afrikanische Sklaven auf die Insel. Im Jahre 1791 brach in Port-au-Prince ein Sklavenaufstand aus, bei dem sich die versklavten Schwarzen und Mulatten der französischen Kolonie Saint-Domingue gegen ihre weißen Kolonialherren auflehnten (vgl. Onana 2010, S.
1). Diese Bewegung ist vor allem den Mulatten zu verdanken, die politische Emanzipation forderten (Uerlings 1997, S. 21). Während des kolonialen Diskurses war nie klar, ob sie aus Sicht der weißen Verräter oder loyale Bürger waren, da sie weder Weiße noch Schwarze verkörperten: „Erst die offene Rebellion machte die Mulatten zu Verrätern“ (ebd., S. 22). 1792 forderte die französische Nationalversammlung die Freilassung der Sklaven, welche von dem Nationalkonvent ein Jahr später bestätigt wurde (vgl. Fricke 2010, S. 29). Daraufhin wurde der schwarze General Toussant L’Ouverture, der die Sklavenaufstände angeführt hatte, General auf Lebenszeit. Da Napoleon die reiche Kolonie zurückerobern wollte, schickte er 1802 eine Armee nach Haiti, der es gelang, die ganze Insel zurückzugewinnen (vgl. ebd.). Die Sklaverei wurde wiedereingeführt, wodurch ein weiterer Aufstand der Schwarzen und Mulatten ausbrach, der von General Jean Jacques Dessalines geführt wurde und der 1803 die Niederlage der französischen Truppen zur Folge hatte (vgl. Ruhrberg 2012, S. 66f.).
Im Jahre 1804, erlangte die Insel unter dem Namen Haiti, als erstes Lateinamerikanisches Land, die Unabhängigkeit (vgl. Onana 2010, S. 1).
2.2 Zeitliche Einordnung der Erzählung Kleists
Kleist präzisiert den Zeitpunkt seiner Erzählung, indem er das Jahr „1803“ (V 4) nennt. Somit spielt das Geschehen kurz vor dem Niedergang der französischen Truppen zur Zeit des Aufstandes der Schwarzen und der Mulatten. Daher hat auch der frühere Sklave Congo Hoango seinen ehemaligen Besitzer Villeneuve erschossen. Die haitianischen Sklaven sind dabei, die Kontrolle über die Insel zu erlangen (vgl. Breuer 2009, S. 121). Der Konflikt der Rassen zieht sich durch die gesamte Erzählung.
Die Verlobung in St. Domingo zählt heute als die bekannteste deutsche Erzählung über die haitianische Revolution (Onana 2010, S. 149).
2.3 Entstehungsgeschichte der Erzählung
Heinrich von Kleist wurde im Jahre 1777 in Frankfurt geboren. Er hatte vier Geschwister und zwei Halbschwestern. Mit vierzehn Jahren wurde er in das Potsdamer Vorzeigeregime „Garde“ aufgenommen, „mit dem er 1793 bis 1795 in den ‚Ersten Koalitionskrieg’ gegen das Napoleonische Frankreich“ (Breuer 2009, S. 1) zog. 1977 verließ er den Stand und wollte eine Karriere als Gelehrter, später als Dichter einschlagen (vgl. ebd.). Sein Plan, als Bauer in der Schweiz zu leben, scheiterte an der politischen Instabilität des Landes (vgl. ebd.). Sein Aufenthalt in der Schweiz könnte die Herkunft von Gustav in „Die Verlobung in St. Domingo“ begründen. Darüber hinaus mag er die Nationalität gewählt haben, weil die Schweiz ein vermeintlich unbeteiligtes Land am Kolonialismus war, da die Schweizer selbst keine Kolonien besaßen. Zudem sind die Namen der Kinder Toni, Nanky und Seppy untypisch für die Karibik (vgl. Fricke, zit. nach Müller-Salget 2002, S. 151).
Im Jahre 1807 wurde er „bei einem Besuch im französischbesetzten Berlin für ein halbes Jahr unter Spionageverdacht inhaftiert“ (Breuer 2009, S. 1). Er saß in demselben Gefängnis wie vier Jahre zuvor Toussaint L’Ouverture, ein Befehlshaber des Sklavenaufstandes, der darin verstorben war (vgl. Fricke 2010, S. 30). Durch Briefe, die er an seine Schwester schrieb, ist bekannt, dass er von der Festnahme wusste (vgl. ebd.). Darüber hinaus hatte Kleist von 1801 1803 einen guten Draht zu Heinrich Zschokke, einem Politiker und Journalisten, der sich intensiv mit den Geschehnissen in Haiti auseinandergesetzt hatte (vgl. Fricke, zit. nach Uerlings 1991, S.189). Außerdem wusste er über die Haitianische Revolution wusste er durch Berichterstattungen seit den 1790er Jahre Bescheid (Uerlings, zit. nach Karin 1992).
Ein Indiz dafür, dass Kleist die Umstände in Haiti trotzdem nicht allzu sehr geläufig waren ist, dass die Figur Babekan vor Gericht gehen wollte, um die Vaterschaft von Tonis Vater anerkennen zu lassen, denn schwarzen Sklavinnen war es zur damaligen Zeit nicht möglich, vor Gericht zu gehen. Dies spricht dafür, dass sich die Geschichte ursprünglich in Europa abgespielt hat und erst im Nachhinein nach Haiti verlegt wurde (vgl. Uerlings 1997, S. 24).
3 Rassismusdiskurs in der Verlobung in St. Domingo
3.1 Die Figurenkonstellation
3.1.1 Gustav
Gustav verkörpert als Schweizer den „weißen Feind“ von Babekan, Congo Hoango und zu Beginn auch von Toni. Seine Einstellung Schwarzen gegenüber wird bereits zu Beginn der Erzählung klar, als er aus der helleren Hautfarbe Babekans, einer Mulattin, fälschlicherweise schießt, er könne ihr vertrauen: „Euch kann ich mich anvertrauen; aus der Farbe Eures Gesichts schimmert mir ein Strahl von der meinigen entgegen“ (V 8).
In der Forschung wird das Verhalten Gustavs meist als „hermeneutische Hilflosigkeit“ (Uerlings 1997, S. 40) bezeichnet, da Gustav ein rationaler Blick auf die kolonialistischen Verhältnisse fehlt. Ob er Menschen vertrauen kann oder nicht, beurteilt er in erster Linie anhand der Hautfarbe. Trotz widersprüchlicher Aussagen von Babekans Seite ist er unfähig, ihre List zu durchschauen. Dies wird vor allem deutlich, als Babekan Gustav verspricht ihm und seiner Familie „um des Europäers, meiner Tochter Vater Willen“ (V 11) zu helfen, obwohl sie ihm erzählt, wie schlecht sie von diesem behandelt worden war (vgl. V 13).
Auf die Frage Tonis hin, warum die Weißen, den Schwarzen gegenüber so verhasst seien, antwortet er, dass dies „durch das allgemeine Verhältnis, das sie, als Herren der Insel, zu den Schwarzen hatten“ (V 14) entstanden ist. Diese Aussage zeigt, dass er die Sklaverei als natürlich gegeben ansieht und er sich als Weißer keiner Schuld bewusst ist. Er bezeichnet die Weißen als Herren und die Unterdrückung der Schwarzen als Verhältnis. Dadurch beschönigt er die Tatsache, dass die Schwarzen durch die Weißen ihrer Freiheit beraubt und versklavt wurden. Da er die Sklaverei gewohnt ist und sie „schon seit vielen Jahrhunderten auf diese Weise bestand“ (V 14), kann er den Hass und die Rache der Sklaven an den Weißen nicht nachvollziehen (vgl. Horn 1975, S. 122).
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