Der Einfluss von Diskursinformationen auf Satzverarbeitungsprozesse


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

19 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ereigniskorrelierte Hirnpotentiale
2.1 N
2.2 P

3. Die Korrelation zwischen Äußerung und Diskurs
3.1 Lexikalisch-semantische Verletzungen
3.2 Referentielle Abhängigkeiten
3.3 Reanalyse und Reparatur
3.4 Enriched Composition
3.4.1 Type-Shifting
3.4.2 Referenztransfer

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Domäne der Neuro- und Psycholinguistik ist ein äußerst spannendes Feld mit vielen Facetten und interessanten Untersuchungsergebnissen. Ihr Ziel ist es, neurophysiologische Beweise für die Beschaffenheit des kognitiven Systems zu liefern und ein tiefgreifendes Verständnis darüber zu erlangen, wie Sprachproduktion und Sprachrezeption funktionieren. Dazu zählt die Kenntnis darüber, „welche Wissensbasis dafür notwendig ist, welche mentalen Prozesse dabei eine Rolle spielen und wie das sprachliche Wissen im Gehirn organisiert ist“ (Höhle 2010: 11).

Um diese Aspekte zu untersuchen, werden in dedizierten Experimenten und Studien Messungen der Hirnströme der Probanden aufgezeichnet. Die ereigniskorrelierten Hirnpotentiale, die dabei aufgezeichnet werden, lassen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen darüber zu, was im Sprachverarbeitungszentrum des Gehirns gerade passiert. Durch eine Vielzahl an unterschiedlichen Studien, die jeweils einen kleinen Teilbereich der Sprachproduktion oder -rezeption analysieren, lässt sich ein größeres Bild zusammensetzen, anhand dessen man bereits präzise Aussagen darüber treffen kann, in welchen Situationen die Verarbeitungskosten erhöht sind.

In der vorliegenden Arbeit werden Studien examiniert, die sich mit der Korrelation zwischen Äußerung und Diskurs beschäftigen. Der Einfluss von Diskursinformationen auf Satzverarbeitungsprozesse ist nämlich größer als in früheren Tagen angenommen. Ziel soll es sein, einen repräsentativen Überblick einerseits darüber zu geben, wie der Diskurs eine Äußerung beeinflussen kann und andererseits, wann und mit welcher Priorität der Diskurs vom Rezipierenden in die Bedeutungsinterpretation involviert wird.

Zunächst wird ein Überblick über das Mittel der elektrophysiologischen Evidenzführung gegeben, nämlich über die ereigniskorrelierten Hirnpotentiale und ihre für die examinierten Studien wichtigen Polaritäten. Anschließend werden die Korrelationen zwischen Äußerung und Diskurs anhand lexikalisch-semantischer Verletzungen, referentieller Abhängigkeiten, Reanalyse- und Reparaturprozessen sowie der Etablierung von Enriched Composition untersucht. Unter letzteres fallen die Teilbereiche Type-Shifting und Referenztransfer.

2. Ereigniskorrelierte Hirnpotentiale

Evozierte Potentiale des menschlichen Gehirns bzw. ereigniskorrelierte Hirnpotentiale (aus dem Englischen: Event-related brain potentials, im Folgenden ‚EKP‘) sind Spannungsfluktuationen, die impulsive elektrische Aktivitäten des Gehirns repräsentieren. Sie treten als Antwort zu einem sensorischen oder kognitiven Stimulus auf. Die Aktivitäten werden auf nichtinvasive Weise mittels Elektroden, die auf der Kopfhaut angebracht werden, gemessen. Für Studien in der Psycholinguistik und Forschung zur Sprachverarbeitung ist vor allem der zeitliche Verlauf der Verarbeitung informativ. Bei der temporalen Auswertung wird die Latenz in Relation zum Auftritt des Stimulusereignisses gemessen.

Zusätzlich werden EKP-Komponenten charakterisiert durch ihre Polarität (Spannungsveränderungen ins Positive oder Negative), ihre Amplitude (Magnitude/Umfang der Resonanz) und ihre Topographie (maximale Aktivität relativ zur Position der Elektrode). Wichtig ist, dass EKPs relative Messwerte generieren, d. h., der Effekt des ereignisbasierten Potentials spiegelt den Vergleich einer kritischen Kondition mit einer minimal abweichenden Kontrollkondition wider.

Aussagekräftige Werte für die Ergebnisse von Studien zu Sprachverarbeitungsprozessen liefert die Polarität. So wurden unter bestimmten Bedingungen negative Spannungsveränderungen gemessen und unter anderen Bedingungen positive Polarität. Ein Überblick über diese beiden Amplituden, die sogenannte N400 einerseits und die, auch als späte Positivierung bezeichnete, P600 andererseits, sei im Folgenden gegeben. Unter anderem fasst Schumacher (2011: 204-206) die für seine Studie und diese Arbeit relevanten Fakten über EKPs treffend zusammen und liefert daher die Grundlage für vorliegende Ausführungen in Kapitel 2.

2.1 N400

Eine N400 ist eine der ersten beobachteten sprachbezogenen EKP-Komponenten. Es handelt sich bei der N400 um einen negativen Ausschlag, der etwa 400 Millisekunden nach Auftritt des Stimulus zu beobachten ist. Die Amplitude deutet auf semantische Integrationsschwierigkeiten hin. Je größer sie ist, desto weniger plausibel ist die Integration einer lexikalischen Einheit. Während Beispiel (1) keine N400 hervorrufen würde, träte bei Beispiel (2) ein negativer Ausschlag auf, kurz nachdem der Stimulus lachen erreicht wird.

(1) Die Pizza war zu heiß, um sie zu essen.
(2) Die Pizza war zu heiß, um sie zu lachen.

Vergleichbare N400-Effekte wurden bei Implausibilitäten in Bezug auf weltliches Allgemeinwissen beobachtet. So würden die Beispiele (3) und (4) Sätze ohne respektive mit negativer Amplitude zeigen.

(3) Köln ist eine sehr alte Stadt.
(4) Köln ist eine sehr neue Stadt.

Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass die N400 den Grad der Plausibilität und Vorhersagbarkeit eines bestimmten Ereignisses innerhalb eines Diskurskontexts oder weltlichen Kontexts repräsentiert.

2.2 P600

Die späte Positivierung, P600, zeigt sich als positiver Ausschlag und ihre Amplitude ist 600 Millisekunden nach dem Eintritt des Stimulus zu beobachten. Sie repräsentiert Prozesse, die mit Modifikation und Aktualisierung der Strukturen der Diskursrepräsentation im mentalen Modell in Verbindung stehen. Diese Modifikationen werden aufgrund pragmatischer Erfordernisse wie Kohärenz und Effizienz induziert. So ist in dem Minidiskurs in (5), adaptiert von Burkhardt (2007: 1852), ein Beispiel für einen Stimulus (Pistole), der zur Aktualisierung des Diskurses führt.

(5) Gestern wurde eine Doktorandin im Zentrum umgebracht. Die Presse berichtete, dass die Pistole vermutlich aus Armeebeständen stammte.

Das Verb umgebracht wird im Diskursgedächtnis zu erschossen aktualisiert. Im weiteren Verlauf des Diskurses ist so die das Ereignis näher spezifizierende Information verfügbar, dass es sich um einen Mord durch Erschießen mittels einer Pistole handelte.

3. Die Korrelation zwischen Äußerung und Diskurs

Verschiedene Eigenschaften der Struktur eines Satzes können sich auf seine Verarbeitung auswirken. Doch auch der Kontext wird vom Rezipierenden berücksichtigt. Dadurch haben Äußerung und Kontext einen wechselseitigen Einfluss aufeinander. Einige dieser Eigenschaften, die eine negative oder positive Amplitude in der Aufzeichnung des Elektroenzephalografen (EEG) auslösen, werden in diesem Kapitel betrachtet.

3.1 Lexikalisch-semantische Verletzungen

Reale Erfahrungen und weltliches Allgemeinwissen haben einen unmittelbaren Effekt auf die Sprachverarbeitung. Weltliche Ereignisse beispielsweise laufen sequentiell von der Vergangenheit zur Gegenwart ab und können zukünftige Ereignisse hervorrufen; dieses Wissen haben wir durch unsere eigenen Erfahrungen gelernt (vgl. u. a. Münte et al. 1998: 71). Im Einklang damit sind unsere Erwartungen an narrative Diskurse simultan. Wir erwarten, dass Zeit, Raum, Kausalität etc. der realen Welt entsprechen. Dieses Wissen wird im Verarbeitungsprozess ziemlich direkt abgerufen. Deshalb erfordert ein Diskurs, der Ereignisse in chronologisch umgekehrter Reihenfolge beschreibt, automatisch zusätzlichen Verarbeitungsaufwand (vgl. Münte et al. 1998: 71). Erhöhter Verarbeitungsaufwand zeigt sich in der EKP-Messung durch eine N400. Diese neuronalen Belege unterstützen die Tatsache, dass unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der Welt um uns fundamental dazu beitragen, wie wir Ideen und Informationen über die Welt kommunizieren (vgl. u. a. Nieuwland & Van Berkum 2006: 1098).

Die N400 reagiert sehr empfindlich darauf, wie gut ein Satz in den weiteren Diskurs – den sogenannten globalen Kontext – hineinpasst (vgl. u. a. Nieuwland & Van Berkum 2006: 1100). In ihrer Studie When Peanuts Fall in Love: N400 Evidence for the Power of Discourse konstatieren Nieuwland & Van Berkum (2006: 1998), dass Sprachverarbeitung immer den Kontext mit in die semantische Analyse involviert. In anderen Worten: Globaler und lokaler Kontext werden gleichberechtigt und zusammenhängend interpretiert. Dies geschieht in einem einzigen Schritt. Die Grenzen zwischen Semantik und Pragmatik sind somit fließend (vgl. u. a. Nieuwland & Van Berkum 2006: 1102). Dieses Einschrittmodell, das von Nieuwland & Van Berkum angenommen wird, bestreitet demnach die zuvor etablierte Annahme, dass die lexikalisch-semantische Bedeutung, also der lokale Kontext, isoliert vom Rezipierenden interpretiert und erst anschließend in einem zweiten Schritt mit dem globalen Kontext in Verbindung gebracht wird. In einem solchen Zweischrittmodell wäre eine Reanalyse sehr häufig erforderlich. Das wird besonders deutlich, wenn es um die Lektüre eines fiktionalen Diskurses geht. So ist es auch ohne wissenschaftliche Belege plausibel, dass es schwer ist, sich vorzustellen, bei der Lektüre beispielsweise eines Romans der Harry-Potter- Reihe jeden einzelnen Satz zunächst isoliert zu interpretieren und erst in einem weiteren Schritt akzeptieren zu können, dass in dieser fiktionalen Welt Magie und Zauberei möglich und gängig sind. Der Diskurskontext kann also lexikalisch-semantische Verletzungen unmittelbar aufheben. Genau dieses Phänomen haben Nieuwland & Van Berkum (2006: 1100-1104) anhand des Belebtheitsprinzips belegen können. So konnten sie einen N400-Effekt nachweisen, als innerhalb eines Minidiskurses das erste Mal das Belebtheitsprinzip verletzt wurde. Der erste Satz lautet:

(6) Once upon a time, a psychotherapist was consulted in her home office by a yacht / sailor with emotional problems.

Der N400-Effekt trat nur beim Stimulus yacht auf und nicht bei der Kontrollbedingung sailor. Im Verlauf des Diskurses wurde das Belebtheitsprinzip noch zwei weitere Male verletzt, der N400-Effekt nahm allerdings ab und war beim dritten Mal nicht mehr vorhanden. Das Ergebnis lässt daher vermuten, so das Fazit von Nieuwland & Van Berkum (2006: 1104), dass kontextuelle Anpassung Verarbeitungsschwierigkeiten, die durch Missachtung des Belebtheitsprinzips entstehen, neutralisiert.

[...]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss von Diskursinformationen auf Satzverarbeitungsprozesse
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur I)
Veranstaltung
Psycho- und Neurolinguistik: Garden-Path und andere Fragen der Satzverarbeitung
Note
2,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
19
Katalognummer
V468963
ISBN (eBook)
9783668945005
ISBN (Buch)
9783668945012
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Laut Bewertung des Dozenten weist die Arbeit vor allem von S. 3-6 in den Bereichen präzise Formulierungen und Quellenangaben Schwächen auf, ab Kapitel 3.1 wird die Arbeit jedoch "deutlich besser" und bewegt sich insgesamt auf gutem Niveau.
Schlagworte
Psycholinguistik, neurolinguistik, Satzverarbeitung, diskursverarbeitung, N400, P600, Referentielle Abhängigkeiten, Reanalyse, Enriched Composition, Type-Shifting, Referenztransfer
Arbeit zitieren
Sebastian Voigt (Autor:in), 2018, Der Einfluss von Diskursinformationen auf Satzverarbeitungsprozesse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/468963

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