Untersuchungen zu traumhaften Elementen in Suetons Kaiserviten

Griechisch-römische Traumdeutung


Examensarbeit, 2017

77 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Einführung
1.2 Methode und Aufbau

2 Träume in der griechisch-römischen Literatur
2.1 Träume aus Epos, Tragödie und Roman
2.2 Träume in der antiken Historiographie

3 Träume der Mächtigen in der antiken Biographie
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Die Biographie in Rom
3.3 Träume in der römischen Kaiserzeit
3.4 Suetons Kaiserviten
3.5 Träume in den 12 Kaiserbiographien Suetons– Einzeluntersuchungen
3.5.1 Vorbemerkungen
3.5.2 DIVUS IULIUS
3.5.4 TIBERIUS
3.5.5 C. CALIGULA
3.5.6 DIVUS CLAUDIUS
3.5.7 NERO
3.5.8 GALBA
3.5.9 OTHO
3.5.10 VITELLIUS
3.5.11 DIVUS VESPASIANUS
3.5.12 DIVUS TITUS
3.5.13 DOMITIANUS

4 Motive und Funktionen der Träume bei Sueton

5 Schluss

6 Literatur
6.1 Textausgaben und Übersetzungen
6.2 Textsammlungen und Nachschlagewerke
6.3 Sekundärliteratur und Kommentare

1 Einleitung

1.1 Einführung

Der Traum ist ein menschliches Mysterium, was jedem bekannt ist und wachsendem Interesse unterliegt. Ob nachts oder am Tag, während der Arbeit oder in ruhigen Momenten, wir träumen ständig. Tagtäglich, stündlich. Träume können Sehnsüchte widerspiegeln, Erlebtes konvertieren, erleichtern oder verwirren. Sie können aber auch Angst auslösen oder bedrohlich wirken. Sagen Sie einmal auf einer Feier oder bei einem Treffen mit Freunden, dass Sie eine wissenschaftliche Arbeit über Träume verfassen. Das Interesse ist Ihnen sicher.

Schon im Altertum ist der Traum eine individuelle Komponente im menschlichen Leben, was zahlreiche Schriftzeugnisse belegen. Vor 4000 Jahren entstanden erste Traumlexika. Im alten Ägypten waren es die „Meister der geheimen Dinge“, Priester, die sich der Traumdeutung widmeten.[1] Aus Griechenland liefert uns der antike Traumdeuter Artemidoros von Daldis aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert durch seine fünfbändige Schrift Oneirokritikon eines der grundlegendsten und umfassendsten Werke, die jemals über Träume und ihrer Deutung verfasst wurden. Seine Schrift gründet auf ausgiebiger Feldforschung und langjähriger Berufserfahrung als Deuter und umfasst rund 1400 Traummotive und deren Deutung.[2]

Grundlegende Erfahrungen menschlichen Daseins finden in jede Literatur Einlass. So auch der Traum. In antiker Überlieferung spielten Träume eine bedeutende Rolle. Sie zählten zur Divination, zur Vorzeichendeutung oder zum Orakelwesen. Seit den Homerischen Epen begegnet uns eine bekannte divinatorische Auffassung des Traumes. Sie kamen entweder von außen, etwa von den Göttern oder Dämonen, oder von innen, aus dem Körper bzw. aus der Seele des Menschen. Götter kündigten künftiges Geschehen an, während der Körper Erlebnisse und Eindrücke des Tages verarbeitete. Indem Dichter Träume in ihren Werken literarisch verankerten, übertrugen sie diesen spezifische Aufgaben, sei es als Motiv des poetischen Erzählens oder als Darstellung eines allen Menschen bekannten Phänomens.[3]

In Epos, Tragödie und Roman begegnet uns der Traum als literarisches Motiv in besonderem Maße. In der antiken Biographie des Gaius Suetonius Tranquillus wird es sogar zum unentbehrlichen Element und zum Werkzeug politischer Manipulation.

Es geht im Rahmen dieser Arbeit keineswegs um Vollständigkeit der Traumforschung und Traumliteratur. Vielmehr geht es darum, den Traum als literarisches Motiv in all seinen Facetten offenzulegen. Zudem sollen nicht die vielzähligen Traumtheorien und Traumdiskurse im Vordergrund stehen, sondern die Eigenarten des Traumes innerhalb einer literarischen Komposition.

1.2 Methode und Aufbau

Die hier vorliegende Arbeit wird sich dem Themenbereich Traum als literarisches Motiv zuwenden. Die Grundlage meiner Untersuchung sind die Träume der Kaiser aus Suetons Biographiensammlung De vita Caesarum aus dem 1. Jhd. n. Chr.

In Einzelanalysen der zwölf Kaiserviten sollen Formelemente, Motive und Funktionen der Träume herausgearbeitet werden. Wovon träumt der Kaiser, in welcher Situation befinden sich die Träumenden und womit beschäftigen sie sich, welche Leitmotive bestimmen das Traumgeschehen, an welcher Stelle tritt der Traum auf und gibt es individuelle Elemente, sind die Leitfragen, denen sich die Analyse widmen soll. Dabei erfolgt ein chronologisches Vorgehen der Herrscher von Caesar bis Domitian. Die Ergebnisse aller Einzelbetrachtungen sollen über den Diskurs Traum innerhalb seiner literarischen Komposition Aufschluss geben. Nach der Analyse bilden folgende Fragestellungen die Prämissen der Untersuchung: Ist der Traum literarische Erfindung und geht damit eine spezielle Funktion einher? Sind Träume Mittel biographischer Technik? Wie verhält sich der Verstehenshorizont zwischen Autor und Hörer bzw. Leser?

Mit der Frage, wie ein Traum in der Antike verstanden wurde, wird in den wichtigsten Themenkomplex geführt: Es soll nicht versucht werden, möglichst viele der überlieferten Träume als tatsächlich geträumt oder als erfunden zu klassifizieren, sondern im Zentrum steht die Frage nach den Funktionen von Träumen innerhalb des Werkes. Es wird zu zeigen sein, dass die Darstellung der Träume vom Autor nicht einfach spontan gestaltet wurde, sondern mit Blick auf den Kontext eine bestimmte Funktion einhergeht. An diesem Punkt ist zu bemerken, dass uns nur der Bericht eines Traumes vorliegt, nie der Traum selbst. Das heißt, wir können nur das wissen, woran sich der Träumende erinnern konnte bzw. was er uns mitgeteilt hat. Außerdem ist zu erwarten, dass der Autor nur das tradierte, was er selbst als relevant erachtete, und bis zur vorliegenden Form mehrere redigierte Eingriffe im Text vorgenommen wurden. Es muss also bewusst sein, dass uns nicht der lebende Träumende begegnet, sondern Texte, die über Träume reflektieren.

Schließlich sind in diesem Zusammenhang noch Überlegungen für einen allgemeinen Rahmen anzustellen, innerhalb dessen man sich die Gestaltung von Träumen in der Literatur der Antike vorzustellen hat. Unter Berücksichtigung weiterer abgefasster Texte soll ein spannender Zugang zu den Funktionen der Träume anderer ausgewählter Autoren vorgestellt und herangezogen werden, angefangen beim Epiker Homer. Aufgrund der Fülle des Materials mussten Einschränkungen unter dem Aspekt der literarischen Tradition vorgenommen werden. Durch das Herauslösen der Einzelbausteine soll ein neuer Zugang zu alternativen Lesarten des Werkes oder anderer Werke des Autors und der Beschäftigung mit Traum und Traumdeutung hervorgerufen werden. Der Ertrag der Arbeit dient nicht nur der Herausarbeitung der Motive und Funktionen von Träumen, sondern der Lektüre über den Horizont hinaus.

somnia, quae mentes ludunt volitantibus umbris, non delubra deum nec ab aethere numina mittunt, sed sibi quisque facit. ( Petron Frg. 30, Müller[4] )

2 Träume in der griechisch-römischen Literatur

2.1 Träume aus Epos, Tragödie und Roman

Epos, Lyrik und Drama sind schon in ihren ältesten uns erhaltenen Belegen voll von Erwähnungen offenbarender Träume und zum Teil auch ihrer Auslegung.[5] Der Beginn schriftlich griechischer Überlieferung und das antike Nachdenken über Traum und Traumdeutung zeigen sich erstmals in den Homerischen Epen. Bereits am Anfang der Ilias klingt eine signifikante Aussage über Träume an: καὶ γάρ τ᾽ ὄναρ ἐκ Διός ἐστιν[6], sagt Achilleus, als er eine Auskunft bekommen will, warum Apollon die Griechen mit einer Seuche heimsuche und wie man ihr begegnen könne. Sogar die Befragung eines Traumdeuters (ὀνειροπόλος) schlägt er vor.[7] Diese Aussage bildet die Leitlinie griechischer Traumauffassung, die sich über die gesamte Antike beobachten lässt.[8]

Die meisten homerischen Träume haben eins gemeinsam und trennen sich von der Vielzahl der uns überlieferten literarischen Zeugnisse aus späterer Zeit ab: es sind Außenträume.[9] In den meisten Fällen bedeutet ὄνειρος im Epos Traumgestalt, Traumbild, nicht etwa in unserem Sinne Traumzustand. Die Traumbilder existieren außerhalb des Träumenden. Diese haben einen doppelten Ursprung und können nach Homer auf verschiedene Weise zu den Menschen gelangen. Sie kommen entweder von außen, etwa als gottgesandtes Phänomen, das darüber belehren kann, was geschehen wird oder was man zu tun hat, oder von innen, aus dem Körper oder aus der Seele des Menschen.[10] Einmal hören wir sogar von einem δῆμῶ ὀνείρων,[11] dem Volk der Träume, nahe der Unterwelt. Als Traumgestalt kann die Seele eines Toten erscheinen. So erscheint der tote Patroklos dem schlafenden Achilleus und gibt Anweisungen bezüglich seiner Bestattung.[12] Ein Gott kann aber auch selbst erscheinen, wie Athene, die in die Kammer der schlafenden Nausikaa geht und ihr in Gestalt einer Freundin im Traum Anweisungen gibt.[13] Es wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die Gottheit bzw. die Traumgestalt sich wirklich immer im Raum befindet und dass die Sinne des Träumenden tätig und wach sind. Diese Auffassung zum Wirklichkeitsaspekt der Träume geht nicht mit der epischen Kultur zu Ende, sondern dauert im Volksglauben fort.[14]

Hier ist es also wichtig, die Traumdarstellungen immer von zwei Seiten zu betrachten, von der literarischen Komposition und vom Volksglauben, vom Traum des Alltagslebens her.

Im Fokus der Untersuchung stehen schließlich die kompositorischen Effekte der Traumdarstellungen. Nach Bernd Manuwald kann man generell in der griechischen Literatur zwischen Träumen in literarischen Werken und Werken bzw. Werkteilen, die sich als Träume ausgeben, unterscheiden. Weil in der Literatur die Träume vorrangig als gottgesandt verstanden wurden, waren Träume probates Mittel, um Handlungen zu motivieren,[15] die Zukunft bzw. das Schicksal vorauszudeuten oder eine bestimmte Stimmung hervorzurufen. Ebenso ist in der epischen Dichtung der Traum ein Mittel, um Einwirkungen der Götter auf die Menschen darzustellen, wobei dem Menschen weiter keine aktive Rolle zu kommt. Ein Traum des achaiischen Oberfeldherrn Agamemnon im zweiten Buch der Ilias ist ein repräsentatives Beispiel, in dem die Handlung durch einen Traum voran getrieben wird.

Achilleus, der tapferste Krieger der Griechen ist so gekränkt, dass er sich vom Kampf zurückzieht. Der oberste Gott Zeus beschließt auf Bitten von Thetis, der Mutter des Achilleus, um Wiederherstellung der Ehre ihres Sohnes, Agamemnon einen trügerischen Befehl im Traum zu senden. Zeus ruft einen οὖλον ὄνειρον,[16] einen „verderbenbringenden Traum“ herbei und erteilt dem Boten einen eindeutigen Auftrag. Der täuschende Befehl von Zeus bestärkt Agamemnon, Troia einnehmen zu können, auch ohne Hilfe von Achilleus und seinen Truppen. Doch es soll anders kommen, und Agamemnon wird einsehen, dass der Traum nur Täuschung war.[17] Denn als Nestor den Archaiern nicht abrät, Agamemnons Plan zu folgen, hat der Traum seine Funktion erfüllt und zweimal getäuscht, nämlich Agamemnon und die sich ihm anschließende Ratsversammlung. Die Handlungen der Menschen werden beeinflusst und kommentiert durch göttliche Eingriffe, welche nach Homer den Ursprung der Träume bilden. Der Traum Agamemnons und seine Auswirkungen ziehen sich fast durch das gesamte Epos und haben demzufolge eine große Bedeutung für die formale Gliederung des Werkes. Er setzt die Handlung in Buch I in Bewegung und verbindet es mit der Schlacht, die in Buch II beginnt. Erst als der Traum und seine Wirkung ein Ende nehmen, folgt ein weiterer Traum.

Achilleus träumt vom toten Patroklos im 23. Gesang der Ilias.[18] Nachdem Achilleus nicht einmal mit dem Sieg über Hektor, den Mörder des Patroklos, zufrieden ist, schändet er sogar noch dessen Leiche.

In der Nacht nach dem Tod Hektors erscheint dem schlafenden Achilleus die Ψυχή des Patroklos im Traum. Dieser erbittet seine baldige Bestattung und ruft Erinnerungen aus der gemeinsam verbrachten Jugendzeit hervor. Das leicht wiedererkennbare Traummotiv wird hier zur Hervorhebung der Stimmung und Charakterisierung des Achilleus benutzt.[19]

Dem edlen Kriegshelden Achilleus werden nicht nur unbarmherzige und brutale Eigenschaften zugeschrieben, sondern ebenso mitfühlende Eigenschaften, die sogar bis in den Schlaf reichen. Nach Christine Walde sieht man Patroklos hier „mit dem liebenden Blick des Achilleus.“[20] Die Handlung wird durch den Traum nicht weiter in Bewegung gesetzt, da die Bestattung bereits angeordnet ist. Alle Einzelheiten des Traums verweisen hier auf die Stimmung des Achilleus. Das eindimensionale Heldenbild Achilleus‘ wird durch diesen Traum erweitert und gibt dem Charakter eine neue Facette.[21]

Auch in der Odyssee werden Traumdarstellungen vermehrt eingesetzt. Vier große Träume, die einzig von anderen Personen als Odysseus geträumt werden, ermöglichen auf unterschiedliche Weise die Heimkehr des Protagonisten. Sie treten jeweils in Zweiergruppen an markanten Stellen der Handlung (vor IV und VI sowie nach XIX und XX) auf. Besonders drei Träume der Penelope reflektieren die allmähliche Heimkehr des Gatten und bereiten die Wiederbegegnung des Paares vor.[22]

Der erste Traum der Odyssee tritt im vierten Gesang auf.[23] Der erwachsene Sohn Telemachos macht sich auf den Weg, um mehr über seinen Vater zu erfahren, da am väterlichen Hof die Stimmung immer unruhiger wird. Die Bewerber seiner Mutter wollen die Abwesenheit als Gelegenheit nutzen, um den Sohn, den sie als Hindernis einer zweiten Vermählung mit seiner Mutter ansehen, aus dem Weg zu schaffen. Während Penelope erst am zwölften Tag von der Abreise des Sohnes hört, wendet sie sich sorgenvoll an die Göttin Athene und bittet um Hilfe. Athene erhört sie und will den Schlaf der Penelope dazu nutzen, um sie den Kummer für längere Zeit vergessen zu lassen. Die Göttin schafft ein Traumbild (εἲδωλον) in Gestalt von Penelopes Schwester und schickt es mit einer Trostrede ins Schlafgemach der Penelope.[24] Mit Andeutung ihrer göttlichen Auftraggeberin verheißt sie der Penelope, dass es ihrem Sohn Telemachos gut gehe und er unversehrt wiederkehren werde. Als Penelope nach Odysseus’ Befinden fragt, lehnt das εἲδωλον der Iphithime jedoch ab, über diesen zu spekulieren.

Mit der Versicherung von Telemachos Sicherheit schwindet das Traumbild ἐς πνοιὰς ἀνέμων.[25] Als Penelope aufwacht, ist sie beruhigt und der sogenannte ‚Beruhigungstraum‘ hindert Penelope an unüberlegten Handlungen, die die Rückkehr des Odysseus gefährden könnten.[26] Der Traum ist ein Beispiel dafür, dass eine Gottheit nicht nur selbst im Traum erscheint, sondern dass diese ein Traumbild erschaffen und es zum Träumenden schicken kann. Athene ist hier als Schützerin des Odysseus und seiner Familie die Hauptgottheit. Der Traum zeigt nicht nur die Stimmung und Lage der Penelope, sondern er berichtet über die Reise des Telemachos und gibt letzte Informationen über die Vorgänge auf Ithaka. Gleichsam bildet der Traum eine Verbindung mit dem Folgenden.

Nach dem ersten Traum der Penelope im vierten Buch wird die Phaiakenprinzessin Nausikaa Empfängerin eines Traumes. Genau ein Buch später sendet ihr Athene einen sogenannten ‚Befehlstraum‘ und stößt damit die Handlung an. Um Odysseus eine freundliche Aufnahme am Hofe des Alkinoos zu verschaffen, nutzt die Göttin die soziale Stellung der Nausikaa. Diesmal sendet ihr Athene kein stellvertretendes εἴδωλον, sondern erscheint selbst in der Rolle einer engen Freundin der Nausikaa. Diese ruft sie zu häuslichen Arbeiten auf, etwa das Waschen der Hochzeitsgewänder an den Waschgruben. Als Nausikaa am nächsten Morgen erwacht, wundert sie sich über diesen Traum und handelt nach seinem Auftrag. Sie fährt mit einem Wagen zum Fluss, um die Gewänder zu waschen. Dort trifft sie auf den nackten, erschöpften Odysseus.[27] Sie händigt ihm nicht nur die Kleider aus, sondern gibt ihm zusätzlich Ratschläge, wie er sich am Phaiakenhof bewegen soll. Nausikaa ebnet Odysseus somit den Weg zur Heimkehr.

In Betrachtung der Gesamtkomposition des Epos markiert der Traum einen elementaren Punkt in der Handlung und setzt diese somit in Bewegung, nämlich den Beginn des neuen langen Weges des Odysseus nach Ithaka. Gleichsam wird der Traum zur Visitenkarte,[28] da im Falle der Nausikaa die Traumdarstellung genutzt wird, um sie in die Handlung einzuführen. Diese Funktion lässt sich auch in späteren Traumdarstellungen nachweisen. (»Attische Tragödie)

Ein weiterer Traum folgt in Gesang XIX Vers 508-604, als das Epos zum größten Teil vorangeschritten und Odysseus schon unerkannt nach Ithaka zurückgekehrt ist. Es ist der erste und einzige Traum seiner Frau Penelope, von dem Odysseus direkt erfährt. Der Traum der Peneolope von den Gänsen und dem Adler nimmt eine besondere Rolle ein.

Die Haupt- und Nebenhandlung der Odyssee werden an dieser Stelle durch die Gestaltung des Traumbildes miteinander verknüpft.[29] Zudem ist dieser Traum „das einzige Beispiel eines symbolisch zu deutenden Traums im homerischen Epos“[30] bis zu der Stelle, wo der Adler mit menschlicher Stimme selber die Deutung des Traumes gibt.

Fünf Tage schon verweilt Odysseus unerkannt als Bettler in Ithaka, um die Freier seiner Frau auszuschalten. Nach der Zwischenszene mit der Amme Eurykleia, die ihren Herrn bei einer Fußwaschung erkennt, wendet sich Penelope an den sympathischen Fremden und beschreibt ihm in enger Vertrautheit ihren Traum von den Gänsen und dem Adler im Nachtgespräch:[31]

Ein Adler brach vom Berg hernieder, tötete ihre 20 Gänse und flog davon. Durch Penelopes Jammern angelockt, kehrte der Adler zurück, setzte sich auf einen Dachbalken nieder und wandte sich ihr mit menschlicher Stimme zu. Penelope solle Mut fassen: das Bild sei kein Traum, sondern die Wirklichkeit: οὐκ ὄναρ, ἀλλ᾽ ὕπαρ ἐσθλόν, ὅ τοι τετελεσμένον ἔσται.[32] Die Gänse seien die Freier und der Adler sei Odysseus, der die Freier töten will. Daraufhin erwacht sie und findet ihre Gänse lebendig vor.[33]

Penelope wird hier nicht durch eine redende Person aufgeweckt, wie es sich in anderen Traumdarstellungen der homerischen Epen darbietet, sondern der Traum setzt mit einem Handlungsabschnitt ein. Penelope legt dem unerkannten Odysseus ihren Traum und seine Bedeutungsmöglichkeit zur Exegese dar. Dieser versichert ihr, zumindest was die Rückkehr des Gatten angeht, dass sich der Traum erfüllen wird. Penelope indes zweifelt nach der Versicherung durch den Bettler an der Erfüllung des Traumes und begründet dies mit der vielzitierten Traumentstehungstheorie von den zwei Toren der Träume (560 ff.): Träume seien ἀμήχανοι, ἀκριτόμυθοι, denn nicht alles, was sie verkünden, geht in Erfüllung.[34] Demnach gibt es wahre und trügerische Träume, die Tore aus Horn (κέρας) bringen wahre Träume und Erfüllung (κραίνω), die aus Elfenbein (ἐλέφας) betrügen (ἐλεφαἰρομαι).[35] Penelope definiert sie als Botengestalten, die von außen an den Träumenden herantreten und ihr Heim durch die beiden Pforten der Träume verlassen. Offenkundig ist folglich der allegorische Charakter dieses Traumes, der im Kontrast zu den anderen homerischen Träumen exzeptionell erscheint.

Der dritte Traum der Penelope in Gesang XX Vers 22-100 wirkt ganz modern. Es handelt sich um einen beispielhaften Erinnerungs- bzw. Wunschtraum.[36]

Es ist die Nacht vor der Entscheidung und der Entschluss, den Bogenkampf am folgenden Tag stattfinden zu lassen, ist gefasst. Erinnerung und Schmerz finden am Abend vor der Entscheidung ihren Höhepunkt. Unmittelbar nach dem Gespräch mit dem unbekannten Bettler beklagt sich Penelope, dass sie nicht einmal im Schlaf von Kummer und Sorgen um Odysseus befreit ist. Die Gottheit schickt ihr schlimme Träume, in denen sich ein Bild des jungen Odysseus zu ihr ins Bett legt: αὐτὰρ ἐμοὶ καὶ ὀνείρατ᾽ ἐπέσσευεν κακὰ δαίμων.[37] Dieser erscheint ihr so, wie sie ihn in Erinnerung hat: τοῖος ἐὼν οἷος ᾖεν ἅμα στρατῷ:[38] Der Traum geht aus tiefster Traurigkeit und Sehnsucht der Penelope hervor und endet in Weinen der aufgewachten Gattin. Im Gegensatz zum Rezipienten weiß Penelope an dieser Stelle noch nicht, dass Odysseus wirklich schon zurückgekehrt ist. Angesichts ihrer großen Verzweiflung und Sehnsucht nach ihrem Gatten -denn noch hat sie Odysseus nicht erkannt- entwickelt der Traum ein inniges Bild von Penelope und Odysseus als Paar und bereitet die Annäherung der beiden vor. Christine Walde spricht von „einer komplizierten, mittelbaren Interaktion zwischen den Ehegatten, die in noch spektakulärerer Form als der Gänsetraum ihre prinzipielle Seelenverwandtschaft zeigt und eine Art Vorinszenierung der im 23. Buch beschriebenen Wiedererkennungsszene“[39] ist. Der Traum gibt tiefen Einblick in das Wesen und Stimmung der Penelope und wird die des Odysseus gegenübergestellt. Ebenso ist der Spannungsmoment zwischen den Beteiligten eklatant. Der Traum dient nicht nur zum Spannungsaufbau, sondern deutet weiterführend auf das Ende voraus. Ganz unmissverständlich bildet diese Traumdarstellung ein Paradigma zur Vorstellung der antiken Menschen, dass Träume göttliche Ursprünge haben. Die Götter schicken das Bild der ersehnten Person zum Leid oder zur Freude. Noch bis in späte Zeit spielen die Götter als Verursacher von Träumen eine besondere Rolle. Erst bei Aristoteles begegnet uns die Anschauung, dass die Götter nichts mit den Träumen zu tun hätten.[40]

In den Epen Homers werden wir mit dem Traum als kompositorisches Medium in besonderem Maße konfrontiert. Die Verwendung des Traums als dichterisches Instrument zur Motivierung der Handlung oder zur Charakterisierung von Menschen oder Stimmungen haben vor allem die Dichter der Tragödie vom alten Epos übernommen.

Sie haben den Traum als literarisches Motiv den Bedingungen der eigenen Kunstgattung angepasst und ihn als „Mittel psychologischer Schilderung und stimmungsbildender Einwirkung auf die Zuschauer sehr verfeinert.“[41] Das Interesse des Dichters am Traum erstreckt sich nur auf seine günstigste dichterische Verwendung für die Komposition oder zur Zeichnung der Stimmung. Das gilt noch weiter: In der griechischen Tragödie hat die Schärfe der Beobachtung und die Naturnähe der Darstellung zugenommen. In der Verwendung des Traummotivs lässt sich bei den drei großen Tragikern eine organische Entwicklung feststellen: Aischylos entfaltet die Verwendung und Gestaltung des Motivs bis zu einem gewissen Punkt, Sophokles führt sie auf einen Höhepunkt, während bei Euripides ihr Rückgang deutlich wird.[42] Bei allen dreien ähnelte der Traum in seiner Funktion sowohl Orakelsprüchen als auch Prophezeiungen, Flüchen sowie Omina, da sie ebenfalls die Zukunft antizipieren. Damit ist ihre Relevanz auch schon erkannt und ihre häufige Verwendung erklärt. Es sind 'technische' Elemente der Strukturierung, der Stufung und mithin der Spannungserzeugung, denen die Aufgabe zufällt, die Zukunft vorwegzunehmen.[43]

Zum ersten Mal begegnet uns das Traummotiv in den Persai des Aischylos, und zwar in Form eines Traumes und eines Omens.[44] Atossa, eine Königin und Mutter träumt von ihrem Sohn. In der Forschung wird der Traum als „schmückendes Beiwerk oder einfache Variante des folgenden, als höherwertig eingeschätzten […] Vogelprodigiums“[45] deklassiert, die beide zur Spannungsverdichtung auf die ‚eigentliche‘ Handlung, das Schicksal des Xerxes, hinführen.[46] Nach Walde trägt die Traumdarstellung im hohen Maße zur formalen Geschlossenheit der Tragödie bei und sorgt auf inhaltlicher Ebene in der Gegenüberstellung von Persern und Griechen für hohe Integration.

Er ist sogar der erste reine, aus mehreren Sequenzen und Einzelelementen gebildete Handlungstraum in der griechischen Literatur überhaupt.[47] Vor dem Hintergrund der Träume in den Homerischen Epen werden Besonderheiten dieser ersten uns bekannten Traumdarstellung der Attischen Tragödie deutlich, die in fast allen folgenden ebenso auftreten werden. Da Traum und Vogelzeichen zusammen für die Perser einen schlimmen Ausgang des Krieges muten lassen, kann durchaus von Spannungsverdichtung gesprochen werden. Vergleichbar wäre der Traum der Atossa mit dem zweiten Traum der Penelope in der Odyssee oder der dritten Episode des Agamemnon-Traumes der Ilias.

[...]


[1] Vgl. Näf, 2004, S. 101.

[2] Vgl. TRAPP, M./ HEINZE, T.: Artemidorus von Daldis, In: Cancik, Hubert u. Schneider, Helmuth (Hrsg.). Der Neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2001, Bd. 2 Ark-Ci, Sp. 51-52; Vgl. hermes, 2002, S. 52 f.

[3] Vgl. Näf, 2004, S. 37-42.

[4] Das unter dem Namen des Petron überlieferte Gedicht wird in der zur Zeit maßgeblichen Petronausgabe von K. Müller unter die „Fragmenta“ eingereiht und auf 30 reduziert, In: Petronius, Satyrica. Lateinisch-Deutsch, K. Müller und W. Ehlers, München, 1983.

[5] Vgl. Hopfner, T., Traumdeutung, In: Paulys Real-Encyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft 2. Reihe 6 12. Halbband Timon-Tribus 1937 Spalte 2234.

[6] Hom. Il. 1, 63.

[7] Hom. Il. 1, 62 ff.

[8] Vgl. Manuwald, Traum und Traumdeutung in der griechischen Antike. In: Hiestand, 1994, S. 15 f.

[9] Vgl. Hundt, 1934, S. 8 ff.

[10] Vgl. Brodersen, 2001. S. 91 f.

[11] Hom. Od. 24, 12.

[12] Hom. Il. 23, 59-110.

[13] Hom. Od. 6, 13-42.

[14] Vgl. Hundt, 1934, S. 11 f.

[15] Manuwald nennt diese Art der Träume ‚Auftragsträume‘ In: Traum und Traumdeutung in der griechischen Antike. In: Hiestand, 1994, S. 39.

[16] Hom. Il. 2, 6.

[17] Hom. Il. 2, 1-83.

[18] Hom. Il. 23, 59-110.

[19] Vgl. Walde, 2001, S. 32; Christine Walde spricht von der ‚Spiegelungstechnik‘, bei der eine Figur durch ihre Träume kontrastiert wird.

[20] Walde, 2001, S. 35.

[21] Vgl. Walde, 2001, S. 32 f.

[22] Vgl. Walde, 2001, S. 43 f.

[23] Hom. Od. 4, 787-845.

[24] Hom. Od. 4, 795 ff.

[25] Hom. Od. 4, 839.

[26] Vgl. Walde, 2001, S. 44 ff.

[27] Hom. Od. 6, 100 ff.

[28] Vgl. Walde, 2001, S. 51.

[29] Vgl. Walde, 2001, S. 54.

[30] Hundt, 1934, S. 86.

[31] Hom. Od. 19, 508 ff.

[32] Hom. Od. 19, 547.

[33] Hom. Od. 19, 535-551.

[34] Hom. Od. 19, 561.; Vgl. Walde, 2001, S. 54 ff.

[35] Hom. Od. 19, 567-569.

[36] Vgl. Hundt, 1934, S. 91.

[37] Hom. Od. 20, 87.

[38] Hom. Od. 20, 89.

[39] Walde, 2001, S. 71.

[40] Vgl. Hundt, 1934, S. 92-96; In beiden Epen Homers lassen sich noch weitere marginale Traumdarstellungen zusammentragen. In der Literatur werden sie auch „fälschlich als Traumerzählungen angesehene Geschichten“ diskutiert.

[41] Hundt, 1934, S. 42.

[42] Vgl. Bächli, 1954, S. 12 f.

[43] Vgl. Bächli, 1954, S. 13.

[44] Vor Aischylos hatte schon Phrynichos diesen Stoff gestaltet. Aus dessen Phoinissen ist uns der erste Vers enthalten. Auf ihn spielt Aischylos in seinen Anfangsversen an.

[45] Walde, 2001, S. 74.

[46] Verweis auf Sekundärliteratur: Wilamowitz-Moellendorff, U., Die Perser des Aischylos, Hermes 32, 1897.; Bächli, E., Die künstlerische Funktion von Orakelsprüchen, Weissagungen, Träumen usw. in der griechischen Tragödie, Diss., Zürich 1954; Messer, W.S., The Dreams in Homer and the Greek Tragedy, New York 1918. In der älteren Literatur nimmt Messer eine Minderheitsposition in der Einschätzung des Traums ein; Devereux, G., Träume in der griechischen Tragödie. Eine ethnopsychoanalytische Untersuchung. Übers. v. Klaus Staudt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1982. (urspr. Dreams in Greek Tragedy. An Ethno-psychoanalytical Study, Oxford 1976). In der neueren Literatur ist Devereux der Einzige, der den Traum zum Forschungsgegenstand machte.

[47] Vgl. Walde, 2001, S. 75 ff.

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
Untersuchungen zu traumhaften Elementen in Suetons Kaiserviten
Untertitel
Griechisch-römische Traumdeutung
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Altertumswissenschaften)
Note
2,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
77
Katalognummer
V469592
ISBN (eBook)
9783668947962
ISBN (Buch)
9783668947979
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sueton, Kaiserviten, Traumdeutung, Traum, Träume, Kaiser, Augustus, Caesar, Traumforschung, griechisch, römisch, antike Biografie, Historiographie, lateinischer Roman, Homer, de vita caesarum
Arbeit zitieren
Fanny Jasmund (Autor:in), 2017, Untersuchungen zu traumhaften Elementen in Suetons Kaiserviten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/469592

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